Nach der rechten Demo in Berlin: Gegen die Fassungslosigkeit
Der Angriff auf den Bundestag entlarvt auch die Linke. Sie muss raus aus der Wohlfühlzone, in der sie sich als die einzige Stimme der Vernunft wähnt.
I n Berlin haben am Samstag zehntausende Menschen gegen die Coronaauflagen demonstriert. Linke, Grüne, Liberale und Konservative konnten auf das Bild, das ihnen dabei geboten wurde, nur mit Fassungslosigkeit reagieren: Zu sehen waren Reichskriegsflaggen neben Regenbogenfahnen, Hippies neben Nazis, Humanisten neben Trumpisten. Am Ende stürmten Neonazis die Treppen des Parlaments, während die Anhänger der Demokratie sprachlos zuschauten.
Auch die Polizei schien völlig machtlos. Zu einem Zeitpunkt beschützten nur drei Polizist*innen das Parlament vor der anstürmenden Horde der Faschisten. Diese Beamten sollten als Held*innen der Demokratie gelten. Doch darüber hinaus muss gefragt werden, was mit der Polizei los ist: Denn zeitgleich mit dem offenen Angriff der Neonazis auf das zentrale Gebäude unserer Demokratie bewachte eine eigens dafür abkommandierte Reiterstaffel den kümmerlichen Rest der antifaschistischen Gegendemonstration. Zuvor hatte man es als nötig erachtet, tausende Antifaschist*innen eine Stunde in einem Kessel gefangen zu halten, augenscheinlich, um sie vom Protestieren gegen die Nazisymbole abzuhalten, die auf der Hauptdemo zuhauf geschwenkt wurden.
In Zeiten, in denen immer wieder neue Skandale ans Tageslicht stoßen, welche eine intime Zusammenarbeit von Teilen der Staatsgewalt mit Rechtsextremisten und sogar mit Rechtsterroristen nahelegen, müssen wir deshalb einsehen: Diese Gesellschaft hat ein gigantisches Problem. Teile der Staatsgewalt sehen anscheinend im Antifaschismus die wahre Gefahr – und nicht etwa in Faschisten, die das Vierte Reich beschwören.
Doch zurück zu den eigentlichen Protesten: Hier kann man davon ausgehen, dass die meisten der Teilnehmenden sich tatsächlich nur Liebe, Frieden und eine harmonische Welt wünschen. Die Gesellschaft muss aber auch einen Weg finden, diese Menschen vor der Naivität ihres eigenen Selbstverständnisses zu warnen: Denn weil sie es unbedingt vermeiden wollen, sich politisch zu positionieren (denn dann könnten sie ja nicht mehr den Anspruch erheben, für die Menschheit als solche zu sprechen), können sie sich gar nicht vom Rechtsextremismus abgrenzen. Wer sich apolitisch gibt, kann niemanden politisch ausschließen.
Die bittere Ironie ist nun, dass es ebenjener Glaube an das Gute im Menschen ist, der von den Rechtsextremen gnadenlos ausgenutzt wird. Hier überwiegen eiskalte Machtkalkulationen: Man gibt sich bürgerlich, denn man erkennt im verunsicherten Volk ein Radikalisierungspotenzial. Wer nicht mehr weiß, was er in der Pandemie noch glauben soll, der lässt sich doch vielleicht auch für die so alte wie falsche Geschichte eines ganz besonderen Volkes gewinnen, das aber leider von geheimen Mächten unterdrückt wird. Und so wird die BRD plötzlich zum Besatzungskonstrukt, werden Geflüchtete zu einer vom vermeintlichen „Weltjudentum“ gesteuerten Invasionsarmee und wird Homosexualität zu einem Ausdruck kultureller Dekadenz, die von der eisernen Hand des Preußentums (des Faschismus) beiseitegewischt gehört.
Dies sind Realitäten, mit denen wir als Gesellschaft umgehen müssen, wenn wir nicht mit ihnen leben wollen. Wir dürfen deshalb nicht davor zurückschrecken, die Ursachen dieser Zustände zu benennen: Wir leben im Zeitalter einer vom Neoliberalismus hervorgerufenen Sinnkrise, die sich im Zuge zunehmender ökonomischer Unsicherheit, eskalierender Ungleichheit und stagnierender Löhne noch zugespitzt hat. Dass es im Neoliberalismus kaum kollektiven Sinn, Gemeinschaft und einen Lebenszweck außerhalb von Konsum und Profit geben kann, hängt also direkt mit der Attraktivität der Rechtsextremisten zusammen, die einen solchen Lebenssinn anbieten. Die Gesellschaft erschafft sich ihre Nazis durch ihre Politik der sozialen Kälte selbst.
Es ist deshalb Zeit für die Linke, endlich wieder eine eigene Erzählung auf die Beine zu stellen. Wir können dabei von der Hoffnung ausgehen, dass die Perspektive einer besseren und gerechteren Welt immer attraktiver sein wird als die Gegenerzählung der ethnisch-kulturellen Ungleichheit, welche die Abgabe aller persönlichen Autonomierechte an die große Maschinerie der völkischen Diktatur impliziert.
Damit dieses Projekt aber erfolgreich ist, muss die Linke zwei Krisen überwinden. Erstens die Krise der eigenen Kommunikation: Will man für den Glauben an eine bessere Welt stehen, muss man sich auch so verhalten. Menschen ohne Maske niederzubrüllen und als Faschisten zu beschimpfen, erfüllt leider alle Stereotype, die diese Menschen gerade von ihren neuen Kameraden vermittelt bekommen haben. Trotz der Notwendigkeit eines militanten Widerstands gegen den Faschismus gilt also: Die Linke muss raus aus ihrer Wohlfühlzone, in der sie sich als die einzige Stimme der Vernunft wähnt – und mit allen anderen gar nicht erst redet.
Zweitens muss die Linke aber auch die Krise ihrer Theorie und die ihrer Spaltung überwinden: Denn während die einen wirken, als hätten sie die Hoffnung auf grundlegende Veränderung insgesamt aufgegeben, verharren die anderen in abstrakten Konzepten, die längst keine Wirkkraft mehr entfalten.
Dabei verlangen die derzeit erlebten Krisen – die der Demokratie in einer globalisierten Welt, die der sich verändernden Arbeitswelt, die des sozialen Friedens in einer zunehmend rechtsoffenen Gesellschaft und die des sich erwärmenden Planeten – nach linken Antworten. Sie verlangen nach bedingungsloser Grundsicherung, nach europäischer Demokratie, nach einem Green New Deal. Um all das umzusetzen, muss die Linke raus aus ihrer Blase, sie muss Bündnisse schließen und sie muss sich schmutzig machen. Dann wird ihr auch zugehört werden, womit schlussendlich die Kraft der völkischen Demagogen schwindet.
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