Mustafa Barghouti über den Gazakrieg: „Hamas ist Teil unserer Gesellschaft“

Der Politiker will die Hamas in eine gesamtpalästinensische Regierung einbinden, um zu Stabilität zu kommen. Für Israelis zeigt er wenig Verständnis.

Mustafa Barghouti hat ein Palli-Tuch um den Hals gebunden und erträgt eine Palästinenser-Fahne

Mustafa Barghouti auf einer Demonstration in Ein Hijleh, Westjordanland, im Jahr 2014 Foto: Daniel Tepper/Redux/laif

Mustafa Barghouti ist Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Initiative (PNI), einer Initiative, die gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Besatzung propagiert. Er gilt als möglicher Nachfolger von Mahmud Abbas als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Mit seiner NGO Medical Relief Society (PMRS), die in Gaza an vorderster Front kämpft, ist er rund um die Uhr beschäftigt. Den Gazakrieg beobachtet er aus der Ferne – aus Ramallah im Westjordanland.

wochentaz: Herr Barghouti, dass es in Gaza noch keinen Waffenstillstand gibt, liegt auch daran, dass eine Strategie für den Tag danach fehlt. Wie kann ein weiterer 7. Oktober verhindert werden?

Mustafa Barghouti: Indem man vermeidet, nur über den 7. Oktober zu sprechen.

Das war nicht nur irgendein Tag.

Was ist das Problem? Dass der Stacheldraht durchbrochen wurde oder dass dieser Stacheldraht existiert? Ich bin Arzt und ich konzentriere mich nicht auf die Symptome, sondern auf die Ursachen. Der 7. Oktober ist ein Symptom. Die Hamas selbst ist ein Symptom. Im Jahr 1948 …

… nein, bitte fangen Sie nicht mit 1948 an. Wir kennen die Geschichte. Bleiben wir bei den aktuellen Entwicklungen.

Wenn Sie die falsche Frage stellen, bekommen Sie die falsche Antwort. Es sieht aus, als wollte ich Fragen ausweichen, aber Sie sind es, die den Antworten ausweicht. Der Rückzug aus dem Gazastreifen, den Ariel Scharon (ehem. Regierungschef Israels, Anm. d. Red.)2005 anordnete, war nie als echter Rückzug gedacht. Israel kontrolliert weiterhin die Grenzen, den Zoll, den Handel, die Steuern, die Telekommunikation, den größten Teil der Stromversorgung, den Luftraum, das Standesamt: alles. Anfangs zählte es die Mindestmenge an Kalorien, die zum Überleben notwendig ist, und ließ keinen zusätzlichen Krümel in den Gazastreifen. Nach UN-Angaben sollte der Gaza­strei­fen schon 2020 nicht mehr lebensfähig sein. Und nun schreiben wir das Jahr 2024. Es gab nicht einmal mehr Trinkwasser, nur noch Meerwasser, Salzwasser. Es war klar, dass diese Barriere früher oder später niedergerissen werden würde.

Sie vergessen die über 1.000 Israelis, die in Stücke gerissen wurden.

Das tue ich nicht. Und deshalb muss die Belagerung beendet werden. Niemand hier will, dass sich der 7. Oktober wiederholt.

Sie sprachen von Ursachen und Symptomen. Was ist die Therapie?

Der 7. Oktober beweist nicht, dass nur Macht funktioniert, sondern das Gegenteil: dass Macht nicht ausreicht. Selbst wenn man die fortschrittlichste Technologie hat, wird es immer einen Gleitschirm geben, den man nicht vorhergesehen hat. Der 7. Oktober zeigt, dass es Zeit ist, zur Politik zurückzukehren. Der letzte Gipfel zwischen Netanjahu und Abbas fand 2014 statt.

An Politik mangelt es in erster Linie in Ramallah. Abbas’ Amtszeit ist 2009 ausgelaufen. Die Palästinenser haben zuletzt 2006 gewählt.

Absolut. Wir sind da, wo wir sind, auch weil die Palästinensische Autonomiebehörde so ist, wie sie ist. In Oslo (steht für einen 1993 begonnene Reihe von Friedensabkommen, Anm. d. Red.) wurde sie schlecht konzipiert, und seit Oslo wurde sie noch schlechter verwaltet. Deshalb fordern wir als Palästinensische Nationale Initiative Neuwahlen. Wir wollen eine Übergangsregierung für den Gazastreifen und das Westjordanland zusammen: eine Regierung der Nationalen Einheit, die von uns allen gebilligt ist. Und so schnell wie möglich Wahlen.

Bedeutet nationale Einheit die Einbeziehung der Hamas?

Ja, natürlich.

Israel wird das nicht zulassen.

Wir sprechen von der palästinensischen Regierung, nicht von der israelischen.

Aber glauben Sie, Israel würde die Hamas akzeptieren?

Darum geht es nicht. Die Hamas existiert. Sie kann nicht einfach ausgelöscht werden. Denn es geht nicht nur um Jahja Sinwar (Hamas-Führer im Gaza­strei­fen, Anm. d. Red.), die Kämpfer oder Gaza. Die Hamas ist eine komplexe Bewegung. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Sollte sie auch nur 5 Prozent der Stimmen haben, hätte sie das Recht, eine Stimme zu haben. Wie alle. Es geht nicht um Zahlen: Es geht um Demokratie.

Was ist die Hamas aus Ihrer Sicht?

Nehmen Sie eine beliebige Zeitung aus den 70er Jahren. Lesen Sie über die Palästinensische Befreiungsorganisation und Arafat. Auch er wurde als Terrorist betrachtet, genauso wird die Hamas heute gesehen.

Können Sie sich wirklich ­Hamas-Chef Ismail Hanijeh etwa als Regierungschef vorstellen?

An der Führung beteiligt zu sein, bedeutet nicht, in der Regierung zu sitzen. Die Hamas ist immer sehr pragmatisch gewesen. Sie ist bereit, einen Schritt zurück zu machen, wenn es zu einem Schritt nach vorne führt.

Sie wissen aber auch, dass die Hamas die Wahlen vermutlich gewinnen würde.

Aber sie wird keine Mehrheit haben. Stimmen sind ja keine Sitze: Sie werden durch das Wahlgesetz in Sitze umgewandelt. 2021 haben wir ein Verhältniswahlsystem eingeführt, um zu Koalitionsregierungen zu kommen und Fehden zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit der Besatzung ist kompliziert genug. Wer auch immer gewinnt, wir werden zusammen regieren.

Und wie wollen Sie mit Ihrem Ansatz die Sicherheit Israels gewährleisten?

Wie wird Israel unsere Sicherheit gewährleisten?

Die Hamas erkennt die Grenzen von 1967 nicht an. Ihr Palästina reicht vom Jordan bis zum Mittelmeer. Da ist kein Platz für Israel.

Wer sagt das? Die Grenzen von 1967 werden im Abkommen von 2006 erwähnt, das zu unserer ersten Regierung der Nationalen Einheit führte. Seither werden sie in allen unseren Abkommen erwähnt, bis hin zum Abkommen über das neue Wahlgesetz und die Neuwahlen. Und Hanijeh hat bestätigt, dass die Hamas ihre Haltung nicht geändert hat. Es ist vielmehr Netanjahu, der die Grenzen nicht anerkennt, der Israel vom Fluss bis zum Meer sieht. Im September zeigte er bei der UNO eine Karte, auf der alles Israel war, sogar das Westjordanland und der Gazastreifen. Niemand erhob Einwände.

Ich hatte nach der Sicherheit gefragt.

Sicherheit wird durch das Ende der Besatzung entstehen. Punkt. Nach 1948 blieben uns nur noch 22 Prozent unseres ­Landes, und schließlich, nach 1967, einigten wir uns darauf, nicht mehr zu beanspruchen. Wir haben unseren Anteil ­bereits geleistet. Aber jetzt sind die israelischen Siedler überall und wir haben nur noch 18 ­Prozent dieser 22 Prozent. Die letzte Siedlung wurde am 5. ­Dezember genehmigt. In der Hitze des Krieges. Lasst uns in Frieden und ihr werdet in Frieden leben.

Netanjahu sagt, er werde den Gazastreifen nicht verlassen, bevor die Hamas ausgelöscht ist.

Über 70 Prozent der Häuser liegen in Trümmern. Sein Ziel ist ein anderes: Er will die Palästinenser zwingen, wegzuziehen.

Israel wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) des Völkermords beschuldigt. Glauben Sie, dass dies das richtige Wort ist, um diesen Krieg zu beschreiben?

Das ist eine Frage an Sie.

Wie meinen Sie das?

Darf ich Elie Wiesel zitieren? In jedem Krieg gibt es drei Kategorien. Die Mörder, die Opfer und diejenigen, die daneben stehen und zusehen. Eines Tages wird man Sie fragen: Wo waren Sie?

Allerdings hat der IGH keine Macht – selbst wenn er Israel verurteilen sollte.

Macht hat viele Formen. Die meisten Regierungen sind auf der Seite Israels, aber die öffentliche Meinung ist mehrheitlich auf der Seite des Gazastreifens. Vor zehn Jahren mussten Journalisten von der „sogenannten Besatzung“ schreiben. Heute schreiben sie über Apartheid. Es gibt die Macht der Waffen und die der Ideen. Die Macht der Vernunft. Ich bin geboren, als Schwarze in den USA in die hinteren Reihen der Busse verbannt wurden, und ich habe erlebt, wie ein Schwarzer Präsident wurde.

Was erwarten Sie von ­Europa?

Nichts.

Nicht einmal Sanktionen?

Sie haben tausende Sanktionen gegen Putin verhängt, aber gleichzeitig machen Sie hier Urlaub in den Airbnbs in den Siedlungen (im Westjordanland, Anm. d. Red.). Sie haben keine Glaubwürdigkeit mehr.

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