Gründe für Angriff auf Israel: Sabotage und Vergeltung

Warum hat die Hamas genau jetzt diese Eskalation losgetreten? Grund ist neben Vergeltung auch eine zunehmende Annäherung Israels an Saudi-Arabien.

Zwei Männer stehen auf einem Panzer

Palästinenser feiern am Samstag auf einem zerstörten israelischen Panzer in Chan Yunis, Gazastreifen Foto: Yousef Masoud/ap

Es sah zuletzt trotz der schweren innenpolitischen Krise gar nicht schlecht aus für die israelische Regierung. Zwar eskalierte schon seit Monaten der Konflikt mit den Palästinensern im Westjordanland und gingen im eigenen Land wöchentlich Hunderttausende Israelis auf die Straße, um gegen den geplanten Justiz­umbau der Regierung zu demonstrieren. Doch außenpolitisch bewegte sich etwas: Nachdem mehrere arabische Staaten in den letzten Jahren ihre Beziehungen zu Israel normalisiert hatten, sollte nun das Schwergewicht in der Region folgen: Saudi-Arabien.

Was da in den letzten Wochen Gestalt annahm, wäre in der Tat historisch, wie Benjamin Netanjahu im September vor der UN-Generalversammlung großmundig verkündete: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Saudi-Arabiens zu Israel und damit die Anerkennung des jüdischen Staats durch die einflussreiche Öl-Monarchie – und zwar ohne politische Lösung des Israel-Palästina-Konflikts – wäre ein Paradigmenwechsel in der Region. Ein „neuer Mittlerer Osten“ sei im Entstehen, so Netanjahu. Weitere arabische Staaten würden folgen, so die Hoffnung.

Auch wenn ein Normalisierungsabkommen mit den Saudis noch nicht in trockenen Tüchern war: Allein die Entwicklungen der letzten Wochen waren ein außenpolitischer Erfolg, den Jerusalem für sich verbuchen konnte. Keine zwei Wochen ist es her, dass mit Tourismusminister Haim Katz erstmals ein israelischer Minister offiziell Saudi-Arabien besuchte. Letzte Woche folgte der israelische Kommunikationsminister und feierte bei einer Gebetsveranstaltung in Riad symbolträchtig das jüdische Laubhüttenfest. Netanjahu hatte zur UN-Generalversammlung auch gleich eine Karte mitgebracht, die Israel umringt von seinen neuen und potenziellen Verbündeten zeigte. Die palästinensischen Gebiete dagegen – das Westjordanland und der Gazastreifen, aus denen einmal ein eigener Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung werden sollte – waren gar nicht erst eingezeichnet.

Mit brachialer Gewalt hat die im Gazastreifen herrschende Hamas dieser Entwicklung nun etwas entgegengesetzt. Insofern ist der gelungene Überraschungsgroßangriff auch als Sabotage einer regionalpolitischen Entwicklung zu verstehen, in der die Palästinenser schlicht keine Rolle mehr spielen. Die Saudis betonen zwar, dass sie ohne deutliche Verbesserungen für die Palästinenser nicht zu einer Normalisierung bereit seien. Was sich aber in der seit Jahren völlig festgefahrenen Situation im Westjordanland und dem Gazastreifen konkret ändern könnte, blieb unklar. Ein eigener palästinensischer Staat jedenfalls steht schon längst nicht mehr zur Debatte.

Saudisches Atomprogramm

Als Gegenleistung für eine mögliche Normalisierung mit Israel sind für die Saudis zwei andere Forderungen viel wichtiger, die mit Palästina rein gar nichts zu tun haben: umfassende Sicherheitsgarantien der USA im Rahmen eines militärischen Beistandspakts und Unterstützung aus Jerusalem und Washington für ein eigenes ziviles Atomprogramm. Einem Bericht des Wall Street Journals zufolge ziehen Israel und die USA ernsthaft in Erwägung, Saudi-Arabien es nicht nur zu erlauben, sondern es auch aktiv darin zu unterstützen, Uran auf saudischem Boden anzureichern.

Nach dem Hamas-Angriff auf Israel vom Samstag hat Saudi-Arabien ein „sofortiges Ende der Eskalation“ gefordert. Und tatsächlich dürfte Riad daran gelegen sein, denn Hunderte getötete Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Gaza, möglicherweise auch deutlich mehr in den nächsten Tagen und Wochen, werden die Palästinasolidarität auch in der saudischen Bevölkerung stärken. Die jüngste Eskalation treibt den Preis in die Höhe, den Riad für eine Normalisierung mit Israel zahlen würde.

Für die Hamas stellt der Angriff aber mehr dar als eine Sabotage des regionalpolitischen Trends. Das Jahr 2023 war in Israel und Palästina das blutigste seit Jahren. Seit Jahreswechsel wurden mehr als 200 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen bei israelischen Militäreinsätzen und Zusammenstößen mit Sicherheitskräften getötet – so viel wie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Dem standen auf israelischer Seite rund 30 Todesopfer durch palästinensische Terrorangriffe entgegen.

Allein zahlenmäßig kann die Hamas nun für sich verbuchen, mit der schlagkräftigsten Armee der gesamten Region auf Augenhöhe mithalten zu können. Mehr als 600 Tote bei nur einer Aktion, das hat es in der gewaltreichen Geschichte des Nahostkonflikts noch nicht gegeben. Hinzu kommen offenbar mehr als hundert israelische Geiseln in der Gewalt der Islamisten, wie die israelische Regierung am Sonntag meldete.

Die Hamas wird Gegenangriffe gnadenlos ausschlachten und sich als Opfer einer israelischen Aggression darstellen

So bestialisch die Gewalttaten, so schockierend die Bilder auch sind: Die Hamas hat gehalten, was sie im Juli angekündigt hatte, nachdem bei einem Armeeeinsatz in Dschenin, einer Hochburg palästinensischer Militanter im Westjordanland, zwölf Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet wurden. Sie kündigte Rache an und sprach, als ein Angreifer in Tel Aviv noch während des Armeeeinsatzes in eine Menschenmenge fuhr, von einer „ersten Reaktion“. „Die Besatzung“, also Israel, werde „den Preis für die Verbrechen in Dschenin zahlen“ – Aussagen, die nach dem Angriff vom Samstag in einem anderen Licht stehen.

Zu befürchten ist, dass die Strategie der Hamas aufgeht, sich mit der Aktion innerhalb der palästinensischen Bevölkerung als Hauptakteur vor allem gegenüber der gemäßigteren Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas durchzusetzen, die im Westjordanland das Sagen hat – und dass dabei die Tatsache nicht im Weg zu stehen scheint, dass die Hamas nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheidet. Frauen, Kinder, Alte: Getötet oder verschleppt wurde am Wochenende jede und jeder. Dass die terroristische Kriegsführung einer breiten Unterstützung für die Hamas entgegensteht, ist zu hoffen, doch davon ist kaum auszugehen, so verhärtet sind die Fronten zwischen Israelis und Palästinensern, so persönlich betroffen ist fast jede Familie in den palästinensischen Gebieten von der Gewalt der letzten Jahre und Jahrzehnte.

Was in den kommenden Tagen und Wochen kommen dürfte, wird diese Entwicklung noch vorantreiben. Dass es in Gaza nicht bei den rund 400 Toten vom Sonntag bleibt, ist sicher. Die Hamas operiert aus dicht bevölkerten Stadtteilen heraus und nimmt getötete Zi­vi­lis­t*in­nen in Kauf. Israel hat zuletzt bei der Bombardierung Gazas 2021 klargemacht, dass es sich davon nicht abschrecken lässt. Sollte die Regierung zusätzlich zu Luft- und Artillerieschlägen auch mit Bodentruppen in das Küstengebiet vorrücken, um Geiseln zu befreien und die Stellungen der Hamas zu bekämpfen, wird diese das gnadenlos ausschlachten und sich als Opfer einer israelischen Aggression darstellen, um weitere Unterstützung zu gewinnen.

„Wir werden die Hamas zerstören, langsam, aber sicher“, sagte der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Yaakov Amidror in einem Pressebriefing am Sonntag. Persönlich habe er am Samstag auf die harte Tour lernen müssen, dass eine Terrororganisation eine Terrororganisation ist und ihre Unterstützer dementsprechend behandelt werden müssen, das heißt: getötet. Was dann perspektivisch aus dem Gaza­streifen werden solle, wollten die Jour­na­lis­t*in­nen wissen? „Alles andere ist das Problem der Leute in Gaza.“

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