Vorwurf der Apartheid an Israel: Ein Staat, nicht zwei
Im Zusammenhang mit Israel ist immer öfter von Apartheid die Rede. Hintergrund ist eine weitverbreitete postkoloniale Lesart des Nahostkonflikts.
Neu ist die Debatte derweil nicht, ob der Apartheidsbegriff für die von Israel militärisch besetzten und teils annektierten Gebiete – und womöglich auch für Kernisrael – angemessen ist, oder ob es sich lediglich um einen Kampfbegriff handelt, mit dessen Hilfe Israel delegitimiert werden soll.
In der Debatte wird die Situation in Nahost nur teilweise mit dem einstigen Apartheidssystem in Südafrika parallel gestellt. Menschenrechtler*innen versuchen vielmehr, den Begriff vom südafrikanischen Kontext zu lösen. Hierbei greifen sie auf internationales Recht zurück, in dem Apartheid ein klar definierter Straftatbestand ist. Verfechter*innen des Apartheidsbegriffs argumentieren, dass die Situation in Israel/Palästina zumindest teilweise die Kriterien der Definition des Römischen Statuts von 1998 erfüllt.
Die Kontroverse um den Begriff geht einher mit einer zunehmenden Abkehr sowohl der palästinensischen als auch der israelischen Seite vom jahrzehntelang verfolgten Ziel einer Zweistaatenlösung. Denn seit den gescheiterten Oslo-Verhandlungen in den 1990er-Jahren ist es immer unrealistischer geworden, dass die Palästinenser*innen jemals in einem eigenen souveränen Nationalstaat an der Seite Israels leben werden.
Unterschiedliche Rechtssysteme
Die Hoffnung auf zwei friedlich koexistierende Staaten verblasste vor dem Hintergrund eines äußerst komplizierten Status quo in Nahost, der in Fachkreisen als „Einstaatenrealität“ diskutiert wird. Diese ist beispielsweise der argumentative Ausgangspunkt der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, wenn sie schreibt: „Mehr als 14 Millionen Menschen, etwa zur Hälfte Juden und Palästinenser, leben zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer unter einer einzigen Herrschaft“ – nämlich der Regierung Israels.
Aus dieser immer mehr auf Dauer angelegten Souveränität Israels über das gesamte israelisch-palästinensische Territorium ergibt sich die Forderung vieler Palästinenser*innen nach gleichen Rechten für alle – was ihnen wiederum teilweise als Antisemitismus ausgelegt wird, da die Forderung das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat infrage stellt.
Die Einstaatenrealität zeichnet sich dadurch aus, dass Israel die Land- und Seegrenzen sowie die Währungspolitik fast vollständig kontrolliert. Zudem gelten für Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten unterschiedliche Rechtssysteme abhängig von ihrer religiös-ethnischen Zugehörigkeit, dem spezifischen Wohnort und ihrer Staatsbürgerschaft. Außerdem ist im Westjordanland teils eine geografische Separation von Araber*innen und Sieder*innen zu beobachten, die von israelischer Seite mit der Sicherheit begründet wird.
Trump stärkte postkoloniale Lesart des Konflikts
Vor allem von Palästinenser*innen, aber auch von internationalen Wissenschaftler*innen, wird die Einstaatenrealität in Nahost mit zunehmender Tendenz durch die Perspektive des Postkolonialismus analysiert. Die anhaltende Siedlungspolitik spielt dabei eine zentrale Rolle, die de facto auf eine dauerhafte Aneignung von Teilen des Westjordanlands durch Israel hinausläuft.
Offen kolonialistische Argumentationsmuster zeigten sich während der US-Präsidentschaft Donald Trumps, als eine offizielle Annexion von Teilen des Gebiets mit expliziter Unterstützung der USA erwägt wurde, was viele Beobachter*innen in ihrer postkolonialen Lesart des Konflikts bestärkte. Neben dem Begriff Apartheid wird von Kritiker*innen der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik daher auch der ebenfalls umstrittene Begriff des „Siedlerkolonialismus“ verwendet.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen
Das hat Erpresserpotenzial
Friedenspreis für Anne Applebaum
Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
BSW in Sachsen und Thüringen
Wagenknecht grätscht Landesverbänden rein
Rückkehr zur Atomkraft
Italien will erstes AKW seit 40 Jahren bauen
Klimaschädliche Dienstwagen
Andersrum umverteilen
Tech-Investor Peter Thiel
Der Auszug der Milliardäre aus der Verantwortung