Kriegsdienstverweigerer aus Russland: Moralische Möchtegernexperten

Wer sich abschätzig über russische Männer äußert, die vor Putins Krieg fliehen, macht es sich zu einfach. Aber auch ukrainische Ängste zählen.

Autoschlange an der finnisch-russischen Grenze

Autoschlange an der finnisch-russischen Grenze am 28. September

Die letzten Tage lag ich mit Fieber im Bett und war dankbar dafür. Mal kurz konnte ich eine Pause machen von all den moralischen Möchtegernexperten, die sich seit einigen Tagen abschätzig über russische Militärdienstverweigerer äußern und – würde es nach ihnen gehen – den Männern die Möglichkeit auf Asyl verwehrt ließen und sie am liebsten gleich an die Wand stellen würden.

Mein Herz bricht gerade an zwei Stellen. Ich verstehe die Ängste vieler Ukrai­ne­r:in­nen, die Sorge haben, wenn sie deutschen Po­li­ti­ke­r:in­nen zuhören, die die Aufnahme dieser Kriegsdienstverweigerer fordern. Sorge, weil sie Angst vor Retraumatisierung haben. Weil ungewiss ist, wer diese Männer sind und welche Haltung sie zu diesem Krieg und der Ukraine mitbringen. Diese Angst ist nachvollziehbar angesichts des Leids, das Russen der ukrainischen Bevölkerung angetan haben.

Mein Herz bricht aber auch bei den Bildern mutiger Menschen, die gegen den russischen Krieg und die Mobilmachung auf die Straße gehen, die verhaftet und in Gefängnissen gefoltert werden; bei Nachrichten wie die über den jungen russischen Dichter Artjom Kamardin, der für ein Anti-Kriegs-Gedicht von Polizisten geschlagen und mit einer Hantel vergewaltigt wurde. Er wurde zu zwei Monaten Haft verurteilt. Ein Bild aus dem Gerichtssaal zeigt ihn mit Wunden im Gesicht. Mit seinen Händen formt er ein Herz.

An Menschen wie Artjom Kamardin sollte gedacht werden, wenn es von deutschen Moralaposteln wieder heißt, die Menschen in Russland würden ja nicht protestieren. In einer Gesellschaft, in der trotz wiederkehrender Proteste immer alles schlimmer geworden ist, geht das Gefühl, eine treibende Kraft politischer Veränderung sein zu können, irgendwann verloren. Die Proteste in Russland mögen überschaubar sein, aber auch deshalb, weil staatliche Repressionen so stark geworden sind, dass man es sich zweimal überlegt: riskiert man Verhaftung, Gewalt, Folter?

Wir brauchen uns nichts vormachen: Die russischen Kriegsdienstverweigerer werden nicht als Friedenstauben nach Europa geflogen kommen. Aber müssen sie das, um Schutz vor Verfolgung und Kriegsdienstzwang zu erhalten? Sich aktiv zu weigern an Menschenrechtsverletzungen und an einem völkerrechtswidrigen Krieg teilzunehmen, auch weil man das persönliche Leben schützen möchte, sollte in Europa Grund genug sein, Asyl bekommen zu können. Oder pragmatisch gesprochen: Jeder russische Soldat weniger im Krieg macht es für Putin schwerer, diesen weiterführen zu können – und schützt somit die Ukraine.

Humanitäre Frage

Warum schaffen es Länder wie Georgien, Armenien und Kasachstan, die bei Weitem keine einfache Geschichte mit Russland verbindet, russische Staats­bür­ge­r:in­nen aufzunehmen und ihre Notlage anzuerkennen, Europa aber nicht? Über die eingereisten Russen sagte Kasachstans Präsident Tokajew, sie seien in einer „ausweglosen Situation“. Man müsse für ihre Sicherheit sorgen, das sei auch eine „humanitäre Frage“. In den ersten sechs Tagen seit der Mobilmachung sind allein nach Kasachstan über 98.000 Russen eingereist. Spricht diese Zahl nicht für eine ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg?

Etwas ist dran an dem Bild der passiven russischen Bevölkerung, die den Krieg schweigend hinnimmt. Natürlich schmerzt es da zu sehen, dass der Krieg erst mit der Mobilmachung so richtig bei den Russen angekommen ist. Viele haben den Krieg kaum gespürt, bis jetzt. Weil sie nun fürchten, ihre Väter, Brüder, Großväter nicht lebend wiederzusehen. Der Krieg ist in ihren Augen nichts Abstraktes mehr, auf das sie keinen Einfluss nehmen können. Einige spüren jetzt – zwar viel zu spät – wie sie mit dem Krieg verbunden sind. Vielleicht führt es sie aus ihrer Passivität.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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