Interview mit Antisemitismus-Expertin: „Klare Parteilichkeit ist möglich“
Nach den Hamas-Angriffen verbreiten auch deutsche Medien antisemitische Vorurteile. Kim Robin Stoller über die hohe Bedeutung, Sprache zu entlarven.
taz: Frau Stoller, die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Das steht im Koalitionsvertrag. Auch die Ampelparteien betonen das angesichts des Terrors, den die islamistische Hamas an israelischen Zivilist:innen verübt hat. Was bedeutet das für Medienschaffende?
Kim Robin Stoller: Für die Bundesregierung hat dieser Grundsatz gegebenenfalls eine militärische Dimension. Um Israels Sicherheit zu schützen, würde die deutsche Bundeswehr auch kriegerisch eingreifen. Diese Dimension gibt es für Journalist:innen nicht. Aus den Erfahrungen des Ukrainekriegs wissen wir aber, dass eine klare Parteilichkeit bei einem Angriffskrieg möglich ist. Nach der Kriegserklärung und dem genozidalen Massaker der Hamas ist das geboten.
Wie könnte so eine Positionierung in der Berichterstattung aussehen?
Medien sollten vermitteln, dass es sich bei der Hamas um eine vernichtungsantisemitische Terrororganisation handelt. Eine solche Terrororganisation wird ihre Taten weiter umsetzen, wenn sie nicht gestoppt wird. Diese Dimension sollte in der Berichterstattung deutlich werden.
Sie beobachten in der deutschen Berichterstattung über Israel Sprachbilder, die antisemitische Ressentiments transportieren. Welche Sprachbilder sind das?
Vorsitzende des Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung und Mitautorin des Handbuchs zur Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Ihre Forschungsschwerpunkte sind israelbezogener Antisemitismus und Akteur_innen der antisemitischen Mobilisierung.
Ein verbreitetes Sprachbild ist die sogenannte jüdische Rache. Israels Handeln oder Reaktionen auf Angriffe der Hamas werden dann als solche dargestellt. Ein Bild, das permanent reproduziert wird, ist, Israel als intentionaler Kindermörder, solche O-Töne gab es in einem Radiobeitrag. Immer wieder finden sich in der Berichterstattung über Israel asymmetrische Darstellungen, in denen insbesondere auf die militärische Überlegenheit Israels abgestellt wird: David gegen Goliath, also der starke Unterdrücker, gegen den sich „die“ armen Palästinenser wehren. Hierbei werden Akteure wie die terroristische Hamas nicht genannt. Ein Großteil der Menschen verbreitet diese Falschdarstellungen und antisemitischen Topoi vermutlich nicht bewusst.
Welche Instrumente können Medienschaffende nutzen, um israelbezogenen Antisemitismus in der journalistischen Praxis zu erkennen?
Sie könnten Vergleiche ziehen zu anderen kriegerischen Auseinandersetzungen und überlegen: Wie haben wir im Kontext des Ukrainekrieges berichtet? Welche Bilder wurden damals produziert? Wie berichten wir jetzt in Bezug auf Israel und die Hamas-Angriffe? Es gibt eine internationale Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die sogenannte IHRA-Definition, die viele Beispiele von israelbezogenem Antisemitismus enthält. Medienhäuser sollten prüfen, ob sie auf die eigene Berichterstattung zutrifft.
In proisraelischen Kreisen ist das Schlagwort „Pallywood“ verbreitet. Die Behauptung: Palästinenser würden mithilfe gestellter Szenen gewaltsame israelische Übergriffe vortäuschen. Wie bewerten Sie das?
Es gibt auf jeden Fall zivile Opfer. Bekannt ist allerdings auch, dass Bildmaterialien aus anderen Kriegssituationen, wie dem syrischen Bürgerkrieg, oder inszenierte Szenen genutzt werden, um zu behaupten, dass gerade Massaker von israelischer Seite verübt werden. Eine Herausforderung ist, dass Bilder, Videos und Informationen der Hamas teilweise von Nachrichtenagenturen oder von prominenten Sendern verbreitet werden. Selbst wenn Falschmeldungen im Nachhinein als solche benannt werden, ist es kaum möglich, sie wieder aus den Köpfen zu bekommen. Wenn die Bereitschaft besteht, zu glauben, dass Israel gezielt palästinensische Kinder tötet oder die Tötung absichtlich in Kauf nimmt, wirkt auch eine nachträgliche Meldung über eine Falschdarstellung nicht.
Die Hamas hat ihr barbarisches Vorgehen gegen israelische Zivilist:innen selbst gefilmt. Sollten Medien solche Videos zeigen?
Es ist einerseits wichtig, jüdische Opfer zu thematisieren. Andererseits wird mit der Verbreitung von Hamas-Material die Perspektive der Täter eingenommen. Wir wissen aus Untersuchungen zum Nationalsozialismus, dass Bilder von Opfern häufig von Nazi-Tätern aufgenommen und inszeniert wurden. Das hat Auswirkungen darauf, wie wir auf diese Opfer blicken – und inwiefern wir zu Empathie für sie fähig sind. Aktuell werden Videos von Hamas-Geiseln, die medizinisch versorgt werden, verbreitet. Deshalb würde ich raten, andere Bilder und Erzählungen über jüdische Opfer in den Vordergrund zu stellen.
Die Grünen-Innenpolitikerin Lamya Kaddor fordert eine strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Propagandavideos verbreiten. Die Bilder würden Radikalisierungspotenzial bergen. Wie stehen Sie dazu?
Das Abfeiern der Massaker gegen israelische Zivilist:innen ist eine Form der Radikalisierung. Dies hat unter Islamisten und ihren Anhänger:innen zu einem Selbstbewusstseinsschub geführt. Man sollte die Verbreitung von Propagandamaterial und Terrorverherrlichung rechtlich unterbinden.
Israel wird wohl mit einer Bodenoffensive in Gaza auf den Großangriff der Hamas reagieren. Wie bereits in vorangegangenen Kriegen wird es auch auf der palästinensischen Seite zivile Opfer geben. Wofür sollten Medienschaffende in den nächsten Wochen in ihrer Berichterstattung sensibilisiert sein?
Medien sollten auf ihre Sprache achten. Es handelt sich bei der Hamas nicht um „militante Kämpfer“ oder „Widerstandskämpfer“, sondern um Terroristen einer terroristischen Organisation, die Massaker verübt haben. Außerdem sollte sensibel mit Formulierungen wie der „Spirale der Gewalt“, „Eskalation“ oder der Forderung nach Verhältnismäßigkeit umgegangen werden. So eine Forderung würde bedeuten, dass die Israelis im gleichen Verhältnis agieren sollten wie die Hamas, was natürlich völliger Humbug ist. Medien in Deutschland sollten bedenken: Ihre Berichterstattung hat massive Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland. Eine empathische Berichterstattung gegenüber Israel und den israelischen Opfern sollte ein Gebot sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil