Folgen der Hamas-Barbarei: Wieso ich mich wieder als Jude fühle

Ivan Ivanji überlebte die KZs. Er stand immer auf der Seite der Palästinenser – bis zum letzten Samstag. Jetzt kann er nicht mehr ruhig bleiben.

Der serbische Schriftsteller Ivan Ivanji

Ivan Ivanji erschrickt vor dem Gedanken, was noch alles passieren kann Foto: Georg Hochmuth/picture alliance

Soweit mir bekannt ist, waren alle meine Vorfahren sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits Juden. Doch meine Familie war nicht gläubig, hielt sich nie strikt an die jüdischen Vorschriften. Wir haben Weihnachten und Ostern gefeiert und serbische Freunde zum orthodoxen Familienfest besucht, jüdische Feiertage und Bräuche aber kannte ich als Kind überhaupt nicht. Ich habe mich nicht mal in eine Jüdin verliebt und immer gesagt: „Für Hitler bin ich Jude, aber auch sonst bin ich mit ihm nicht einer Meinung.“

Doch jetzt, nach der blutrünstigen Orgie, die die Mörderbande der Hamas am 7. Oktober begangen hat, ist es anders:

Ich fühle mich zum ersten Mal seit meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager vor 78 Jahren als Jude.

Das ist selbstverständlich meine Privatangelegenheit; aber nicht der Umstand, dass sich auf der ganzen Welt das Verhältnis sowohl zu den Juden als auch zu den Arabern ändern wird, auch wenn nicht alle Araber Palästinenser sind, so wie nicht alle Palästinenser der Hamas angehören und nicht alle Juden für die Palästinapolitik des israelischen Staats sind.

Am Anfang dieser Idee stand der Friedensnobelpreis

Bis letzten Samstag stand ich aufseiten der Palästinenser. Ich habe die israelischen Regierungen verurteilt, die die Idee einer Zweistaatenlösung ablehnten. Zu meinem Kummer fand auch nur eine Minderheit der Israelis diese Idee gut. Dabei stand am Anfang dieser Idee vor 29 Jahren der Friedensnobelpreis, den der Palästinenserpräsident Jassir Arafat und die israelischen Politiker ­Jitzhak Rabin und Schimon Peres dafür erhielten.

Wäre der Konflikt mehr oder weniger auf gegenseitige Raketenangriffe begrenzt geblieben, so wie es bisher immer der Fall war, hätte sich meine Sympathie vielleicht auf Palästinenser und Israelis verteilt. Vielleicht. Aber nach dieser unbeschreiblichen Barbarei kann ich nicht mehr ruhig bleiben. Kann das irgendjemand? Ich, trotz meiner Rationalität, kann es nicht.

Ich verstehe, wenn die Israelis sagen, dass der Angriff für sie das Gleiche ist wie für die Amerikaner der 11. September. Aber es war schlimmer. Viel schlimmer. Die Entführer der vier Flugzeuge, Mitglieder von al-Qaida, haben mit ihrem Selbstmordattentat fast 3.000 Menschen ermordet. Sie haben ihnen nicht in die Augen geguckt, als sie sie umbrachten. Die Mörder aus den Reihen der Hamas schossen auf Menschen, die direkt vor ihnen standen, auf junge Menschen und Kinder, die sie einzeln jagten und deren Leben sie mit unglaublicher Brutalität raubten.

Es hat so etwas schon gegeben

Es fehlt nicht viel, um zu sagen, dass es so etwas in der Geschichte bisher noch nie gegeben hat – aber da muss ich mir auf die Zunge beißen. Es hat so etwas schon gegeben. Es hat so etwas vor noch gar nicht so langer Zeit in der Nachbarschaft gegeben, in Jasenovac. Im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac haben sie meinen Onkel ermordet, Saša, seine Frau und zwei Kinder. In Israel, Gott sei Dank, noch niemanden von meinen Verwandten. Bis jetzt.

Was wurde mit diesem Massaker erreicht, das die Israelis ein Pogrom gegen die Juden nennen? Was wurde erreicht für die arabische Welt, was für Israel, was für alle Übrigen …? Ich korrigiere mich, was heißt das für uns alle, aber wirklich für uns alle auf diesem Planeten?

Ein paar meiner Verwandten aus Israel waren zufällig gerade in Belgrad, als der Horror sich ereignete. Am Abend schauten wir gemeinsam die Nachrichten im serbischen Fernsehen. Es wurde die zerstörte Stadt Gaza gezeigt, erschrockene Kinder und ein Alter, der schrie: „Sie haben alles, was ich habe, vernichtet. Warum?“ Ich habe nicht reagiert, aber mein Verwandter: „Sie zeigen das Elend der Palästinenser, aber nicht, warum wir sie bombardieren.“

Die Anführer der Hamas sind geschickte Propagandisten. Israel in seiner gerechtfertigten Verzweiflung und Wut interessiert sich gerade nicht dafür, welches Bild sich die Welt von ihm macht. Die Israelis haben den Gazastreifen von Strom, Wasser, Benzin, Gas, Medikamenten und humanitärer Hilfe abgeschnitten. Der Gesundheitsminister hat den israelischen Medizinern verboten, verletzte Angehörige der Hamas zu behandeln.

Im Gazastreifen werden Hunger und Durst ansteigen, wegen mangelnder Hygiene wird Typhus und Cholera ausbrechen, der Tod wird in noch mehr Ecken als sowieso schon lauern. In diese Hölle werden israelische Kampfeinheiten einmarschieren. Die israelische Armee ist diszipliniert, aber die jungen Kämpfer haben wahrscheinlich Angehörige verloren und Bilder der abgeschlachteten Juden vor Augen. Sie werden schwere Kämpfe in brenzligen Situationen mitten in bewohnten Orten auszuführen haben.

Werden sie sich an das Kriegsrecht halten?

Werden sie alle Palästinenser bekämpfen, nicht nur die Mitglieder der Hamas? Oder werden sie korrekt bleiben und sich an das Kriegsrecht halten? Ich bin nicht sicher, ob ich das könnte, wenn ich an ihrer Stelle wäre.

Die Staaten Europas und Nordamerikas unterstützen Israel, aber in ihnen lebt der kleinste Teil der Menschheit und nicht die Mehrheit der Weltöffentlichkeit. Die Fotos und Videos aus dem Gazastreifen werden nun täglich in alle Bildschirme geflutet, in allen Meridianen. Das Blutbad des 7. Oktober wird langsam vergessen werden. Der Antisemitismus wird wachsen. Hilflos erschrecke ich vor dem Gedanken, was noch alles passieren kann, vor allem wenn Israel in die Ecke gedrängt wird, in seiner Verzweiflung die Atombombe zündet und sich Iran, Syrien, Russland, Amerika einmischen. Wohin sollen wir fliehen?

Mir bleibt nur der Sarkasmus des Alters: Fragen wir Elon Musk, ob es noch einen freien Platz in seinen Raketen zum Mars gibt.

Der Text erschien zuerst in der serbischen Zeitung „Vreme“.

Aus dem Serbischen von Doris Akrap

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