Horst Seehofer und die taz-Kolumne: Was man wirklich nicht sagen soll
Es gibt Worte, die nicht grad zum guten Ton gehören. Aber wenn ein Innenminister eine_n Kolleg_in anzeigen will, sitzen sie doch ganz vorne auf Zunge.
D a gibt es diesen Reflex in mir: Immer wenn in unserer Familie jemand „Scheiße“ sagt, antworte ich so was wie „Na, wollen wir das sagen?“ oder „Nicht so reden“ oder „Oh, sorry, das wollt ich nicht sagen“.
Ich sage sehr oft „scheiße“ oder „scheiß“ oder „beschissen“. Meine Töchter fangen auch schon damit an. Und jetzt versuche ich ihnen und mir das wieder abzutrainieren.
Aber heute ist so ein Tag, an dem ich mir denke: Scheiß drauf.
Denn was für eine Scheiße geht bitte gerade ab? Der Bundesinnenminister Horst Seehofer kündigt an, meine Kolleg_in Hengameh Yaghoobifarah anzeigen zu wollen. Scheiße nochmal, sind denn jetzt alle völlig verrückt geworden?!?
„Eine Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und zu Gewaltexzessen“, sagte Seehofer der Bild. Und eine Entvernunftisierung der Politik führt unweigerlich zu bescheuerter Politiksimulation. Denn was anderes soll diese geplante Anzeige sein als eine Simulation von Politik? Rauskommen wird dabei eh nichts.
Angezeigt wurde Hengameh Yaghoobifarah wahrscheinlich ohnehin schon von vielen, unter anderem hatten die Polizeigewerkschaften das ja bereits angekündigt. Untersucht wird also sowieso.
Es geht nur noch darum, ein Zeichen zu setzen. Den Rächer zu spielen. Um Eskalation. Vielleicht um abzulenken. Vielleicht aus Freude am Brand.
Ich weiß, es klingt pathetisch, aber ich frage mich in letzter Zeit immer häufiger, was für eine politische Landschaft meine Kinder eigentlich vorfinden, wenn sie selbst groß genug sind, um sich einzumischen. Kriegt meine Generation es noch hin, der Entvernunftisierung entgegenzuwirken? Oder ist das, was Donald Trump in den USA vormacht und worin ihm so viele auch hier nachzueifern versuchen, dann schon ganz normal? Ist die politische Auseinandersetzung bald nur noch ein hyperventilierender, dauererregter, sich mit Anzeigen überziehender, Trennung der Gewalten und die Achtung der Pressefreiheit ignorierender, am Ende alles spaltender Kampf?
Ich versuche – wie so viele Eltern – meinen Kindern beizubringen, nicht „Scheiße“ zu sagen, Konflikte im Dialog zu lösen, vernünftig zu sein – und dann bekommen sie irgendwann vorgeführt, dass das alles nichts mehr zählt. Dass das keine wertvollen Tugenden sind. Dass das nicht honoriert wird.
Scheiße.
Ich hoffe, dass ich mit alldem falsch liege. Dass ich übertreibe. Dass ich zu fatalistisch bin. Dass die Vernunft siegt. Die Werkzeuge, die wir dafür brauchen, kennen wir alle. Es sind dieselben wie bei den Kindern: Reden statt hauen, zuhören statt reinbrüllen, nicht scheiße sein und nicht „scheiße“ sagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich