Handlungsoptionen für Syrien: Es geht um Menschenleben

Man darf sich nicht von Antipathie gegen Erdoğan leiten lassen. Er führt in Idlib den Abwehrkampf gegen Assad.

ein Militärkonvoi fährt eine Straße entlang

Türkischer Militärkonvoi auf einer Straße in der Nähe von Idlib Foto: ap

In diesen Tagen entscheidet sich das Schicksal von mehreren Millionen Menschen, die in absoluter Verzweiflung an der syrisch-türkischen Grenze ausharren. Jede Reaktion auf die aktuelle Eskalation in Syrien muss in erster Linie das Schicksal der Kriegsflüchtlinge von Idlib im Blick haben.

Seit Monaten treibt die Armee des syrischen Diktators Assad bei der Eroberung des letzten Rebellengebiets des Landes die Menschen vor sich her. Ein Ort nach dem anderen wird mithilfe von Russlands Luftwaffe plattgemacht und erobert, meist als menschenleeres Trümmerfeld. Niemand begrüßt Assads Soldateska als Befreier. Die Menschen fliehen vor ihr, bis an der türkischen Grenzmauer Schluss ist. Der syrische Diktator hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er das ganze Land mit Gewalt zurückerobern will – und wer sich je gegen ihn erhoben hat oder auch nur unter Rebellenherrschaft gelebt hat, wird grausam bestraft. Es gibt keinen Frieden für Syrer unter Assad.

Niemand auf der Welt hat einen Finger gehoben, um diesen Vernichtungsfeldzug zu stoppen – bis jetzt. Die türkische Armee greift als Reaktion auf eigene Verluste erstmals die syrische Militär­infra­struktur ernsthaft an. Endlich hält jemand Assads Mordmaschine auf – und nebenbei führt die Türkei vor, wie schwach das syrische Regime tatsächlich ist. Assad wirft Teenager an die Front und ist ohne russische Kampfkraft hilflos.

Natürlich agiert der türkische Präsident Erdoğan nicht aus selbstlosen Motiven, sondern aus machtpolitischen. Aber das ändert nichts am Ergebnis. Jeder Tag, an dem die syrischen und russischen Bomber am Boden bleiben, und jeder Kilometer, den die türkischen Soldaten mit ihren syrischen Verbündeten gutmachen, rettet in ­Idlib Menschenleben.

Aus Europa und speziell in Teilen der linken Politik wird dies von der Antipathie gegen Erdoğan verstellt. Man analysiert politische Optionen nicht unter der Fragestellung, ob sie den Syrern nützen, sondern ob sie Erdoğan nützen. Unter dieser Sichtweise gilt dann Nichtstun als klug. Man versteckt sich hinter dem Gerede von „Islamisten“, um den Abwehrkampf in Idlib zu delegitimieren, und hinter den eigenen Grenzzäunen, um das menschliche Elend nicht anfassen zu müssen.

Wenn man Erdoğan so schlimm findet, wieso überlässt man es ihm, die Menschen in Idlib zu schützen? Besser wäre es, Europa und die Nato würden sich selbst an die Spitze des Schutzes der Syrer stellen. Eine Zusammenarbeit mit Russland dabei ist nicht unmöglich; es gab sie bereits im Gebiet der syrischen Kurden. Der Westen hätte schon vor Jahren die Initiative ergreifen können. Aber noch ist es nicht zu spät.

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