Fridays for Future vs. Ende Gelände: „Ihr müsst ein Wagnis eingehen“

Muss sich die Klimaschutzbewegung radikalisieren? Oder eher auf ein breites Bündnis setzen? Ein Streitgespräch mit Luisa Neubauer und Tadzio Müller.

Luisa Neubauer und Tadzio Müller stehen auf dem Dach der taz

Luisa Neubauer von Fridays for Future und Tadzio Müller, Klima- und LGBT-Aktivist Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Neubauer, Herr Müller, das Kraftwerk Datteln 4 ist seit anderthalb Wochen im Regelbetrieb. Sie waren mehrfach vor Ort, um zu demonstrieren, genützt hat es nichts. Wie machen Sie nach so einer einer Niederlage weiter?

Luisa Neubauer: Ich sehe das nicht als einen Kampf, der verloren ist, sondern als einen fortlaufenden Prozess. Es ist wichtig, dass man sich weiterhin juristisch dagegen wehrt und auch weiter protestiert. Die Klimabewegung hat immerhin dazu beigetragen, dass die Mehrheit der Menschen das Kraftwerk verurteilt. Auch diese öffentliche Meinung beeinflusst die künftige Politik.

Tadzio Müller: Aber es kommt ja schon aufs Ergebnis an. Und da zeigt sich eben, dass in bestimmten Politikfeldern – etwa Außenpolitik oder Wirtschaftspolitik – die öffentliche Meinung nicht entscheidend für die tatsächliche Politik ist, sondern ganz andere Interessen. Das letzte Jahr hat doch gezeigt, dass es nicht reicht, Massen auf die Straße zu bringen. Am 20. September, genau als ihr mit 1,4 Millionen Menschen demonstriert habt, wurde das lächerliche Klimapäckchen verabschiedet. Das war doch ein Schlag ins Gesicht.

Tadzio Müller, 43, ist Klimaaktivist und arbeitet als Referent für Klimagerechtigkeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Luisa Neubauer, 24, ist Klimaaktivistin und die bekannteste deutsche Vertreterin von Fridays for Future.

Was folgt daraus für Sie?

Müller: Ich habe das Gefühl, dass die Klimabewegung, angeführt von Fridays for Future, an einem Scheideweg steht: Vertrauen wir weiter in den Politikprozess – oder sagen wir, dass dieses System keinen Klimaschutz liefern wird, und fangen an, massenhaft die Regeln des Systems zu brechen?

Neubauer: Das sehe ich nicht so. Wir sind eine große, heterogene Bewegung. Fridays for Future hat eine einmalige Sensibilität geschaffen für die Frage des Klimaschutzes und für die Dringlichkeit der Klimakrise. Diese Perspektive hat sehr lange gefehlt, um das Thema hier so prominent zu machen, wie es heute ist. Dass in der Klimapolitik nicht zwangsläufig auf die Mehrheitsmeinung gehört wird, ist keine Frage. Aber das veränderte Bewusstsein in der Öffentlichkeit hat zum Beispiel dazu geführt, dass die Wahlergebnisse bei der Europawahl signifikant anders ausgefallen sind, als es ohne den klimabewegten Frühling der Fall gewesen wäre. Und auch kommunal hat sich gezeigt, dass man mit Klimaschutz Wahlen gewinnen kann.

Müller: Aber was bringt das? Egal ob Kretschmann in Baden-Württemberg oder Tsipras in Griechenland: Ich kann keinen Unterschied in den Emissionen ablesen. Bei Fragen, die im Kern das kapitalistische System betreffen, ist es relativ unwichtig, welche Farbe die Regierung hat. Das heißt, wir müssen an anderen Punkten ansetzen als an Wahlen.

Aber wo? Der zivile Ungehorsam von Ende Gelände hat Datteln 4 auch nicht verhindert.

Müller: Ich bin absolut bereit, das Scheitern unserer bisherigen Strategien einzugestehen. Bei der Atomkraft hat es funktioniert, über symbolische Aktionen die Mehrheitsmeinung zu verändern und damit die Politik. Aber erstens sind fossile Energien für den globalen Kapitalismus ungleich wichtiger als Atomkraft, und zweitens hat sich die Gegenseite, angeführt von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, seitdem viel besser aufgestellt, um unsere Strategien zu blocken.

Und nun?

Müller: Wir stehen jetzt an einem Punkt, wo wir auf eine neue Situation reagieren müssen. Diese neue Situation ist bestimmt durch die Corona-Welt. Wie schon in der Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt sich auch im Corona-Lockdown, dass nur das Runterfahren von Wirtschaftsleistungen zu relevanten Emissionsreduktionen führt. Darum muss die Klimagerechtigkeitsbewegung verhindern, dass sie wieder hochgefahren werden.

Neubauer: Da würde ich scharf widersprechen. Corona ist einhergegangen mit krassesten Freiheitseinschränkungen. Menschen sind ungeschützt in existenzielle Probleme gerutscht, es war ein Desaster, was soziale Ungerechtigkeit betrifft. Eine solche Situation kann nicht das Ziel einer Klimagerechtigkeitsbewegung sein. Wir müssen eine, ja, „Transformation“ so gestalten, dass diese Zumutung für die Menschen verkraftbar wird und im besten Fall übersetzt wird in einen positive Erfahrung. Ich glaube nicht, dass man irgendwen für Klimaschutz gewinnen kann, wenn man ihnen sagt: Bei Corona sind die Emissionen gesunken, let's do that again. Ich erinnere diese Monate nicht als wahnsinnig bereichernde Zeit, dabei gehöre ich definitiv zu einem privilegierten Milieu.

Herr Müller, Sie halten „Corona-Lockdown forever“ also für eine gute Strategie, um Mehrheiten für den Klimaschutz zu organisieren?

Müller: Diesen Slogan würde ich nicht verwenden. Aber das Einzige, was Emissionen auf globaler Ebene verringert, ist die Reduktion ökonomischer Aktivität. Da gibt es nichts anderes. Darum müssen wir anfangen, dem Kapitalismus zu misstrauen. Denn innerhalb dieses Systems mit seinem ständigen „schneller, höher, weiter“ gibt es keinen Klimaschutz, weil das Wirtschaftswachstum nicht verhandelbar ist. Und es gibt auch kein „grünes Wachstum“. Darum würde ich sagen: Lasst uns bestimmte Dinge auch nach dem Lockdown behalten.

Was denn zum Beispiel?

Müller: Keine Inlandsflüge mehr, insgesamt deutlich weniger Flüge. Deutlich weniger Autoproduktion, kein Fracking. Autofreie Innenstädte, Pop-up-Bike-Lanes. Auf diese Teile der Corona-Welt, die sozial-ökologisch eine gute Idee sind, müssen wir uns jetzt fokussieren.

Neubauer: Also, vom Ende des Kapitalismus zu Pop-up-Bike-Lanes ist es ja schon ein ziemlicher Sprung.

Müller: Ich habe nicht vom Ende des Kapitalismus gesprochen, sondern von der Reduktion wirtschaftlicher Aktivitäten.

Neubauer: Du hast schon gesagt, dass innerhalb des kapitalistischen Systems kein Klimaschutz möglich ist. Aber auch bei der Reduktion ökonomischer Aktivität würde ich dir widersprechen. Wir brauchen da eine differenzierte Auffassung. Ökonomische Aktivität gibt es auch im Pflegesektor, bei Bildung, Gesundheit, Kultur. Alle diese Sektoren sind wahnsinnig emissionsarm und tragen viel dazu bei, dass es Menschen gut geht. Für gesunde und glückliche Gesellschaften braucht man in diesen Sektoren gerade viel ökonomische Aktivität. Pauschal zu sagen, wir brauchen weniger ökonomische Aktivität, greift zu kurz. Wir brauchen weniger fossilen Kapitalismus, weniger Kohlebagger. Aber wir wollen, dass Menschen Wohlstand erfahren, basierend auf einem differenzierten Wohlstandsverständnis.

Müller: Wer ist dieses „wir“? Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss andere Interessen haben als die AG Deutschland. Natürlich gibt es Sektoren, die raufgefahren werden müssen. Aber das Konzept der Deutschland AG basiert nun mal weniger auf dem Care-Sektor als auf dem ökologisch und sozial zerstörerischen, ungerechten und absurden Autosektor. Auf dem Verkaufen immer größerer, betrügerischer Dreckschleudern. Den müssen wir so angreifen, dass er nicht wieder hochgefahren wird.

Wie soll das gehen?

Müller: Ende Gelände und andere Akteure aus dem radikalen Teil der Bewegung wären nicht in der Lage, eine effektive Blockade der Autoproduktion oder des Exports zu machen. Dafür sind wir gesellschaftlich nicht ausreichend legitimiert und viel zu wenig …

im Gegensatz zu Fridays for Future?

Müller: Exakt. Mir war immer klar, dass die Mobilisierungsobergrenze von Ende Gelände im besten Fall bei 10.000 Menschen liegt. Das wäre dafür nicht genug. Aber Fridays for Future hat keine Mobilisierungsobergrenze. Ihr seid die politische Avantgarde einer neuen Generation, die alle möglichen Leute hinter sich sammeln kann. Ihr produziert nicht diese identitären Abwehrreflexe einer antikommunistischen BRD. Ihr habt die Fähigkeit, nicht mit 6.000, sondern mit 600.000 Leuten Sachen zu blockieren.

Neubauer: Wir haben keine Mobilisierungsobergrenze, weil wir, wenn man das so sagen kann, diszipliniert bleiben, weil wir verlässlich sind. Es wird von uns erwartet, dass wir Kinder irgendwann so wütend sind, dass wir den familienfreundlichen, massentauglichen Protest, den wir etabliert haben, in die Kohlegruben und Autofabriken tragen, anfangen zu sabotieren und so weiter, was in der breiten Gesellschaft als illegitim gilt. Das alleine hilft uns aber nicht. Unsere Kernkompetenz ist es, Massen zu versammeln und Rückenwind zu schaffen – auch für Bewegungen wie Ende Gelände, die zivilen Ungehorsam machen, und für bisher als unmöglich geltende Politik wie die CO2-Steuer.

Müller: Aber es gibt dadurch keine Effekte fürs Klima!

Neubauer: Fridays for Future lebt davon, dass man uns vertraut und das Gefühl hat, wir sind der breite Straßenprotest, wo du deine Kinder und deine Großeltern mitbringen kannst. Es stimmt, dass es bisher zu keiner Emissionsreduktion geführt hat, aber immerhin zu Politikwechseln, die bisher nicht möglich wären. Ich befürworte zivilen Ungehorsam als symbolischen Akt des Widerstands in Situationen, wo es passt. Und Fridays for Future unterstützt das ja auch. Aber ich halte die Aufgabenverteilung in der Klimabewegung für elementar. Ich glaube nicht, dass es aufgehen würde, wenn wir jetzt die Geschichte erzählen von den Kindern, die eskalieren, weil sie die Geduld verlieren, innerhalb des demokratischen Systems Veränderungen einzufordern.

Müller: Ziviler Ungehorsam ist nicht per se undemokratisch. Und es gibt ja auch andere Positionen innerhalb von Fridays. Aber klar, mit Sicherheit würde es das Mobilisierungspotenzial von Fridays numerisch reduzieren, wenn ihr als Ganzes zu zivilem Ungehorsam aufruft. Aber es langt eben nicht, die Gesellschaft ein bisschen zu verschieben in Richtung Klimaschutz. Ich würde sagen: Wenn man ein klimagerechtes Deutschland schaffen will, bevor es zu spät ist, muss man schneller und radikaler agieren, als das bisher getan wurde – auch von Fridays. Ihr müsst ein Wagnis eingehen. Das gehört zur political leadership dazu.

Neubauer: Was du da skizzierst, ist eine maximale Frontenverhärtung zwischen uns und denen, die meinen, „die Klimaradikalos wollen uns alles wegnehmen“. Das würde dafür sorgen, dass Leute sich distanzieren. Dabei ist es doch die große Stärke von Fridays for Future, dass wir es geschafft haben, Frieden zu stiften zwischen zwei großen Gegenerzählungen. Wir haben gezeigt, dass Klimaschutz und Arbeitsplätze sich nicht ausschließen. Darum setzen wir jetzt zum Beispiel auch darauf, mit Gewerkschaften und Sozialverbänden zusammenzuarbeiten, um zu zeigen, dass Ökologie und Soziales sich nicht ausschließen.

Müller: Dass man Klimagerechtigkeit mit einer Strategie erzielen kann, die alle Interessen vereint, halte ich für fragwürdig angesichts der Tatsache, dass der materielle Wohlstand im Norden deutlich über dem Niveau liegt, das ein global gerechtes System tragen könnte. Die Deutschen leben von einem global ungerechten System. Und die Gewerkschaften schicken zu den Ökos zwar nette Ökos, aber ihre Kernaufgabe ist weiterhin, die AG Deutschland am Laufen zu halten. Das heißt, dass wir auch die Strukturen dieser Republik angreifen müssen und nicht glauben dürfen, dass wir alle Interessen zusammenbringen und im happy Konsens Klimaschutz machen können. Klimaschutz ist mehrheitsfähig, aber er muss ins Verhältnis gesetzt werden zu anderen Themen, die auch mehrheitsfähig sind – nämlich Jobs.

Neubauer: Ich sehe da keinen Widerspruch. Gibt es in der klimagerechten Welt keine Jobs?

Müller: Doch, aber in Deutschland ist es nun mal so, dass ein großer Teil davon an der Autoindustrie hängt.

Neubauer: Das muss aber nicht so sein. Es ist ja kein statisches Modell. Es gibt emissionsarme Sektoren, da gibt es auch Jobs.

Wenn Sie nicht blockieren wollen: Wie sieht denn Ihre Strategie stattdessen aus, Frau Neubauer? Auch vor Corona war der Schwung ja ein bisschen raus, 1,4 Millionen würden Sie derzeit wohl kaum noch einmal auf die Straße bekommen.

Neubauer: Wir haben im letzten Jahr festgestellt, dass viel Macht aus Massen gewachsen ist. Aber wir sind noch weit weg davon, wo wir sein wollten. Anfang dieses Jahres haben wir dann erfahren, wie es funktionieren kann, das Image eines global agierenden Konzerns nachhaltig zu beschädigen, indem wir uns mit Siemens beschäftigt haben.

Aber auch da war das materielle Ergebnis gleich null: Siemens bleibt weiterhin beim Kohleprojekt in Australien dabei.

Neubauer: Aber wir haben damit eine neue Form von Macht konstituiert. Unternehmenschefs stellen sich jetzt die Frage: Wie können wir verhindern, dass Fridays for Future zu uns kommt?

Müller: Dass sich CEOs mit euch treffen wollen, ist die Essenz des bundesdeutschen Korporatismus. Das Reden selbst ist der Versuch, den Druck abzuwehren, um keine materiellen Veränderungen durchzusetzen. Noch mal: Angesichts des Zeitdrucks und der offensichtlichen globalen Ungerechtigkeit muss die Klimagerechtigkeitsbewegung hierzulande ein größeres Wagnis eingehen. Um die Emissionen wirklich runterzufahren, brauchen wir ausreichende Massen für zivilen Ungehorsam. Und das gelingt nur mit einem Aufruf aus dem Herzen von Fridays for Future.

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Neubauer: Ich bleibe dabei: Ich halte eine Arbeitsteilung für essenziell. Es braucht Leute, die Mehrheiten mobilisieren können und von der Idee einer klimagerechten Zukunft verzaubern können. Es braucht aber auch einen eskalativen Part, also Kräfte, die zeigen, wie es funktionieren kann, dass man etwas runterfährt, die symbolischen und materiellen Ungehorsam machen. Die große Stärke von Fridays for Future ist aber, dass wir es geschafft haben, Frieden zu stiften zwischen zwei Gegenerzählungen. Die Idee einer klimagerechten Welt kann nur Erfolg haben, wenn es eine gemeinschaftliche Erzählung, einen gemeinsamen Willen dahinter gibt, der nicht nur von einer kleinen Gruppe getragen wird. Die Corona-Maßnahmen waren auch nur möglich, weil die Gesellschaft mehr oder weniger geschlossen dahinterstand.

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