Essay über offene Grenzen: Offene Türen, enge Herzen
Der Geburtsort entscheidet über die Lebenschancen. Das ist nicht fair. Aber würde eine globale Bewegungsfreiheit für alle wirklich weiter helfen?
ber offene Grenzen nachzudenken wirkt aus der Zeit gefallen. Die Stimmung ist nach dem kurzen Refugees-welcome-Herbst 2015 umgeschlagen. Die Republik wirkt wie jemand, der nach einem heftigen Rausch am Tag danach alle Spuren des Fehltritts tilgen will. Die AfD prägt den Diskurs. Die CSU versucht mit Polemik gegen Flüchtlingsunterstützer zu punkten. Und die Grünen sagen lieber gar nichts mehr.
Angesichts dieser verspannten Gemütslage scheint die Frage, was für offene Grenzen spricht, wie von einem anderen Stern. Wer mehr Migranten ins Land lassen will oder prinzipiell die Grenzregime, die in Europa befestigt werden, anzweifelt, gilt als linksradikaler Spinner. Oder, noch schlimmer, als besser verdienender Gutmensch, dessen Alltag unberührt vom Zuzug der Habenichtse ist – während die Unterschicht sich mit knappem Wohnraum und Konkurrenz um Jobs herumschlagen muss. Doch es gibt seriöse Argumente, Grenzen abzuschaffen – zum Beispiel die Menschenrechte.
In Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“ Es existiert somit kein explizites Menschenrecht, zu leben, wo man will – allerdings hat der Artikel 13 nur Sinn, wenn es auch Staaten gibt, die Migranten aufnehmen.
Der kanadische Philosoph Joseph Carens vertritt die Idee, dass ein individuelles Recht auf globale Freizügigkeit existiert. Warum kann, wer in El Paso geboren ist, ohne Probleme in New York jobben – während wer ein paar Kilometer weiter südlich in Ciudad Juárez groß wurde, dafür als illegaler Migrant sein Leben auf Spiel setzen muss?
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Zufälliges Glück
Nichts ist so entscheidend für die Chance, ein gutes Leben zu führen, wie der Ort, an dem man geboren wird. Wer in einem Slum in Lagos aufwächst, hat kaum die Möglichkeit zu bekommen, was in Stockholm oder El Paso selbstverständlich ist: sauberes Wasser, Bildung, Aussicht auf einen guten Job. Mit welchem Recht blockieren Staaten also die Bewegungsfreiheit und gießen das zufällige Glück des Geburtsortes in Beton?
Einige Verfechter offener Grenzen berufen sich auf John Rawls, der mit „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) den politischen Liberalismus auf den Stand gebracht hat. Das gedankliche Experiment lautet, anknüpfend an Rawls, in etwa so: Wenn wir nicht wüssten, ob wir in Lagos oder Stockholm zur Welt kommen, würden wir dann für abgeriegelte Grenzen oder für das Recht auf globale Bewegungsfreiheit plädieren? Eben.
Für offene Grenzen lassen sich argumentativ nicht nur philosophische Trockenübungen in Anschlag bringen. Der globale Kapitalismus, der in atemlosem Tempo Glanz und Elend erzeugt, jagt Informationen, Kapital und Waren grenzenlos um den Globus.
Wir erleben „die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse werden aufgelöst. Alles Ständische und Stehende verdampft.“ So hat Marx 1848 die Effekte des Industrie-Kapitalismus beschrieben. Damals rumpelten die ersten Eisenbahnen durch Europa.
Die frühe Eisenbahnära des digitalen Kapitalismus
Was den digitalen Kapitalismus angeht, befinden wir uns heute in der frühen Eisenbahnära. Die globalen Informationsflüsse und virtuellen Geldströme werden noch rasanter zirkulieren, die technischen Innovationsschübe in noch schnellerer Taktung die Arbeitswelt umkrempeln. Der globale Handel löst, mit allen zerstörerischen Kollateralschäden, Grenzen auf. Doch für Menschen soll die globale Mobilität nicht gelten?
Angesichts dieses Szenarios erscheinen nicht die Fürsprecher freier Migration als Traumtänzer, sondern jene, die Stacheldraht ausrollen und Mauern hochziehen. Ein Einwand gegen die Migration in die reichen Zentren der Welt lautet, dass diese die globale Ungleichheit noch verfestigt und zum Brain-Drain führt.
Wenn Facharbeiter oder Krankenschwestern aus Dhaka und Kinshasa in die USA und die EU kommen, fehlen sie den Ländern, die sie verlassen. Das ist richtig – aber nur halb. Denn ein Teil der Migranten kehrt mit mehr Erfahrung und Geld in die Heimat zurück. Die Arbeitsmigranten überweisen jährlich mehr als 600 Milliarden Dollar in den globalen Süden – das ist dreimal mehr als die gesamte staatliche Entwicklungshilfe.
Ist „Grenzen weg“ also das richtige Ziel? Noch nicht mehrheitsfähig, aber vernünftig, so wie es vor hundert Jahren die Forderung nach dem Frauenwahlrecht war? Eher nicht. Unter den Fürsprechern offener Grenzen sind nicht zufällig viele Neoliberale und Linksradikale, die beide den Staat geringschätzen. Das globale Recht auf Migration würde, jedenfalls absolut gesetzt, die aufnehmenden Staaten ruinieren.
„No Border, No Nation“ hat auch etwas bedrohliches
Nationalstaaten brauchen einen definierten Souverän. Wenn Migranten sofort alle Rechte bekämen, würde das Kollektiv der Staatsbürger diffus und unverbindlich zu werden drohen. Den Neulingen allerdings weniger staatsbürgerliche Rechte einzuräumen als den Alteingesessenen, ist auch kein überzeugendes Konzept. Eine Staatsbürgerschaft light würde zu einem Apartheidssystem führen, das den für Demokratien fundamentalen Gleichheitsgrundsatz aushöhlt. Außerdem kann Masseneinwanderung von Ärmeren aus dem globalen Süden soziale Sicherungssysteme überfordern und das Lohnniveau rapide senken.
Man mag das für Horrorszenarien halten. Doch wer globale Freizügigkeit fordert, muss einkalkulieren, dass diese auch von allen in Anspruch genommen wird. Vollständige globale Freizügigkeit würde aber weit mehr schaden als nutzen. Denn Staaten sind Schutzräume für BürgerInnen. Sie spannen ein soziales Netz, dämpfen und kanalisieren gesellschaftliche Konflikte und sorgen dafür, dass die Straßenbahn pünktlich kommt.
Der linksradikale Slogan „No Border, No Nation“ klingt schwungvoll, hat aber auch etwas Bedrohliches. Eine Welt ohne Staaten und Grenzen wäre nicht friedlicher und freier, sondern chaotischer und rechtloser. Ein beherztes Kontra zu offenen Grenzen hat der US-Philosoph Michael Walzer in „Sphären der Gerechtigkeit“ (1983) formuliert.
Walzer, einer der bekanntesten Theoretiker der politischen Denkschule des Kommunitarismus, gilt manchen, die eine strikte Migrationspolitik befürworten, als intellektueller Gewährsmann. Funktionsfähige Demokratien brauchen, so das Argument, eine gewisse Homogenität und einen Vorrat an gemeinsamen Werten. BürgerInnen und der Staat haben daher das Recht, Fremde aufzunehmen oder abzuweisen.
Migranten sind keine Gesetzesbrecher
Das ist mehr als bloßes Revierverhalten. Wer ein spärlich besetztes Zugabteil betritt, schaut meist in verdrießliche Gesichter. Wer schon da ist, glaubt sich oft im Besitz von mehr Rechten als der Neuankömmling. Laut Walzer ist das Recht, Fremde zurückzuweisen – es sei denn, sie sind politisch Verfolgte –, mehr als dieser Reflex. Für demokratische Gemeinschaften sind Grenzen existenzielle Bedingung. Ohne Geschlossenheit keine Offenheit, so die dialektische Pointe.
Wir haben es also mit einem Widerspruch zu tun, der nicht auflösbar ist: zwischen dem Menschenrecht auf Gleichheit und dem Bürgerrecht auf Verschiedenheit, zwischen dem Recht, zu leben, wo man will, und dem Recht von Staaten, zu entscheiden, wer zum Demos zählt und wer nicht. Wir haben es mit dem Paradox zu tun, dass ein Recht auf Auswanderung existiert, aber kein Recht auf Einwanderung.
Was folgt daraus? Erst einmal, dass Migranten, anders als es die AfD- und CSU-Rhetorik suggeriert, keine Gesetzesbrecher sind, sondern Menschen, die das Recht reklamieren, zu leben, wo sie wollen. Wir dürfen sie nicht wie Kriminelle behandeln, sondern wie jemanden, der oder die das Recht hat, Rechte zu haben. Darauf gilt es zu beharren – gerade weil Migranten als Projektionsfläche für die Überforderung durch den globalen Kapitalismus dienen.
Die Datenströme, die unsere Privatsphäre zersetzen, die Kapitalströme und Technikschübe, die unsere Lebenswelt umwälzen, sind weitgehend abstrakt und ungreifbar – der Migrant scheint für viele ganz konkret die Zumutungen unserer Zeit zu verkörpern.
Im globalen Dorf steigt der Druck auf das Villenviertel
Walzer plädiert dafür, dass Einwanderungsländer Migration allein nach ihren Bedürfnissen regulieren. Sie öffnen ihre Türen daher besser nur für wenige und zwar für solche, die zu der „Art von Gemeinschaft passen, die wir zu haben wünschen“ – die westlichen Werten also kulturell nahe sind. Dieses Konzept scheint attraktiv, als ein praktisch handhabbares Instrument, mit dem sich eine Schneise in das Dickicht aus Widersprüchen schlagen lässt, aus schlechtem Gewissen den Ärmeren gegenüber und dem Gefühl, heillos überfordert zu sein.
Doch nur solche Migranten aufzunehmen, die uns nützlich und passend erscheinen, das ist eher ein Rezept für das letzte Jahrhundert als für das multiethnische, von Turbo-Globalisierung geprägte 21. Jahrhundert. Im globalen Dorf werden künftig wohl noch mehr aus den Armutsquartieren in die Villenviertel drängen.
Der reiche Norden sollte daher legale Einwanderung ermöglichen – und zwar nicht so restriktiv, sondern so großzügig wie möglich. Denn gefährlich für Demokratien ist nicht nur, wenn ihre inneren Bindungskräfte schwinden. Gefährlich für Demokratien ist es auch, wenn sie brutale Grenzregime errichten, die ihren eigenen Werten Hohn sprechen.
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