Entgrenzung in der Coronakrise: Der Dampf muss abgelassen werden
Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen wie am Ballermann steigt. Man kann aber eine Bevölkerung nicht dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen.
E s gibt viele Freizeitaktivitäten, auf die ich ohne jedes Bedauern für den Rest meines Lebens verzichten kann. Der Besuch der Stehkurve eines Fußballstadions gehört dazu oder der eines Heavy-Metal Festivals, etwa in Wacken. Es zieht mich auch nicht an den Ballermann, und ich komme gut ohne Karneval klar. Massenveranstaltungen sind einfach nicht mein Ding. Waren sie übrigens nie, auch nicht, als ich 20 war.
Aber das ist doch nur eine Beschreibung meiner Persönlichkeit, kein Verdienst, auf das ich Grund hätte, stolz zu sein. In den letzten Wochen scheint mir bei diesem Thema jedoch einiges durcheinanderzugeraten. Die Herablassung, sogar Verachtung, mit der auf Leute geblickt wird, die ein körperliches Gemeinschaftsgefühl mit vielen anderen dringend brauchen, könnte mich zu einem illegalen Rave auf der Hasenheide in Berlin treiben. Nicht, weil ich mich da wohl fühlen würde. Sondern schlicht aus wütender Solidarität heraus.
Schunkeln im Dunkeln
Ich unterstelle mal: Die allermeisten Leute, die sich politisch, fachlich oder publizistisch mit Corona befassen, mögen Abendessen zu viert oder sechst lieber als Schunkeln im Dunkeln. Deswegen sind sie Virologe, Kolumnistin oder Bundeskanzlerin geworden und nicht Animateure. Ist ja recht so. Aber es ist eben auch legitim, schunkeln zu wollen.
„Denn ich will, dass es das alles gibt, was es gibt“, sang Andre Heller schon vor Jahren. Da konnten früher auch Liebhaber der gepflegten Gastlichkeit im kleinen Rahmen mitgehen. Wollen sie das noch? Ich habe Zweifel. Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen steigt in alarmierendem Ausmaß.
Es gibt einen nennenswerten Teil der Gesellschaft, der mindestens ein- oder zweimal im Jahr die Sau rauslassen will oder muss, um in der übrigen Zeit brav zu funktionieren. Wer die Teilnehmer der Sauforgien am Ballermann genau anschaut, stellt fest: Die allermeisten reisen ohne Partnerin oder Partner an. Was nicht bedeutet, dass sie unverheiratet wären oder keine unmündigen Kinder zu Hause hätten. Sondern nur: dass sie sich einige Tage lang „danebenbenehmen“ wollen. Ein uraltes Bedürfnis.
Die katholische Kirche, die menschliche Schwächen seit jeher besser kannte als die meisten Verwaltungsangestellten in staatlichen Institutionen, hat sich deshalb schon seit Jahrhunderten mit Fasching, Karneval, Fastnacht und ähnlichen Bräuchen arrangiert. Augenzwinkernd, durchaus mit Sympathie. Wohl wissend, dass die organisierte Entfesselung ihre Macht eher festigte als schwächte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das Wissen darum scheint verloren gegangen zu sein. Auf den Wunsch nach einem Ventil reagiert das sich selbst für vernünftig haltende Establishment mit unfassbarer Arroganz. Wie blöd sind die denn alle, echauffiert sich das Bildungsbürgertum, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten. So, aber nein: so, so verantwortungslos.
Wer blöd ist, sind die, die so reden. Zu glauben, man könne eine Gesellschaft dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen, ist äußerst unvernünftig. Irgendwo muss Dampf abgelassen werden. Und wenn das legal nicht geht, dann wird eben nach illegalen Wegen gesucht. Wonach denn sonst.
Es gibt einige wenige Versuche, dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen. Die Hamburger Linken wollen große, öffentliche Plätze wie das Heiligengeistfeld attraktiv für junge Leute gestalten, um Orte wie das Schanzenviertel in der Hansestadt zu entlasten. Wo sich abends derzeit ständig die Massen drängen.
Kann ja sein, dass das naiv ist. Mag sein, dass es nicht funktioniert. Aber es ist doch sehr, sehr schön, dass einige Leute wenigstens anfangen, sich Gedanken zu machen. Dann muss ich vielleicht doch nicht zur Hasenheide.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“