taz-Sonderausgabe zu Utopie: „Gut und böse muss aus den Köpfen“

Sind Gefängnis und das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ noch zeitgemäß? Hannah Hettich und ihr Kollektiv fragen nach einem neuen Umgang mit Gewalt.

Eine Hand von oben hebt einen Käfig an aus dem drei rote Figuren entkommen

Wozu Knast? Die Gesellschaft kennt bessere Antworten, sagt Hanna Hettich vom Kollektiv Radix Foto: erhui1979/getty images

taz: Frau Hettich, was ist das Problem mit unserem Justizsystem?

Hannah Hettich: Die meisten von uns wachsen mit einer Praxis des Strafens auf: Macht man als Kind etwas „Böses“, muss man eine Strafarbeit schreiben­. Verhält sich ein Mensch gegenüber anderen gewaltvoll, folgt der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dem liegt der Glaube zugrunde, damit sei die Gemeinschaft wieder sicher. Dieser Gedanke findet sich auch im Strafsystem. Transformative Gerechtigkeit beginnt sozusagen einen Schritt früher und geht davon aus, dass der Status quo die Gewalt erst ermöglicht hat.

28, beendet gerade an der Universität Wien den Master in Internationaler Entwicklung und gibt als Teil des Kollektivs Radix Workshops zu dem Thema Transformative Gerechtigkeit.

Nach diesem Ansatz würde man Gewalt ausüben und dem System die Schuld geben. Wie soll das gerecht sein?

Gewalt ist oft facettenreich und subjektiv. Ausgangspunkt sollte sein, der von Gewalt betroffenen Person zu glauben. Betroffene von Gewalt sollten nichts beweisen müssen. Das ist im staatlichen Strafsystem aber noch anders, in dem das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt. Betroffene sind also in unserem jetzigen Justizsystem nicht wirklich geschützt. Bei Transformativer Gerechtigkeit liegt der Fokus nicht auf Rache und Bestrafung, sondern auf Heilung und auf Veränderung von Verhalten und Strukturen. Es geht darum, Menschen zu begleiten und als Gemeinschaft die Sicherheit für Betroffene wiederherzustellen.

Was gehört zu so einer Begleitung alles dazu?

Illustration von Ali Arab Purian

🐾 Von der Kneipe an der Ecke bis zum solidarischen Garten in Bogotá: Junge Au­to­r*in­nen haben sich auf die Suche nach utopischen Ideen begeben. Die dabei entstandenen Artikel haben sie in einer Sonderausgabe der taz veröffentlicht.

Veränderung und Gerechtigkeit müssen ganzheitlich verstanden werden. Was braucht die gewaltbetroffene Person, damit sie heilen kann? Es bedeutet aber auch, die Person, die die Gewalt ausgeübt hat, in der Aufarbeitung ihrer Taten zu begleiten. Außerdem nimmt man auch die Gruppe in Verantwortung: Müssen wir über Bilder von Männlichkeit reden oder über Alkoholkonsum in Räumen nachdenken? Wie sprechen wir miteinander? Wo ist Raum für Unsicherheiten, wo für Emotionen? Wie stark ist das gegenseitige Vertrauen? Das und vieles mehr hat Einfluss darauf, wie Gewalt entsteht. In unseren Workshops merken wir: Der Wunsch zu lernen, wie in Gruppen mit Gewalt umgegangen werden kann, ist sehr groß.

Wie können die gewaltbetroffenen Personen geschützt werden, wenn beide Parteien in der Gemeinschaft verblieben sind?

Das ist sehr individuell und bei einer Wohngruppe natürlich anders als in einem Verein. Es können langfristige Vereinbarung über Triggerpunkte, Nähe und Abstand im Gemeinschaftsalltag getroffen werden. Wo und wann sind zum Beispiel getrennte Räume nützlich? Wer fühlt sich dafür verantwortlich, der gewaltausübenden Person ihre problematischen Muster bei einem „Rückfall“ zu spiegeln? Die betroffene Person braucht das nicht zu tun. Die Arbeit mit Transformativer Gerechtigkeit ist sehr anstrengend und oft sehr emotional. Aber das darf es auch sein. Es darf etwas mit uns machen, wenn Gewalt in unseren Räumen geschieht.

Warum fällt es vielen so schwer, sich Alternativen zum Justizsystem und zu Gefängnissen vorzustellen?

In vielen Köpfen herrscht ein binäres Denken, das heißt, man denkt, alles ist entweder gut oder schlecht. Im Strafsystem findet sich das in Begriffen wie „Täter“ und „Opfer“ wieder. Das gewaltvolle Erlebnis wird damit zur Identitätszuschreibung. Damit ist kaum Platz für Veränderung. In der Transformativen Gerechtigkeit spricht man daher von „gewaltausübender“ und „gewaltbetroffener Person“. Die Praxis kommt aus der Abolitionismusbewegung der 80er und 90er Jahre und entstand in den USA.

Damals erstarkte die Schwarze Widerstandsbewegung gegen Gefängnisse, die als Institutionen dazu genutzt wurden, Menschen nach Ende der Versklavung weiter auszubeuten. Menschen of Color, queere Menschen und Trans*­per­so­nen haben die Praxis der Transformativen Gerechtigkeit sehr geprägt und tun dies nach wie vor. Gerade diese Gruppen sind von rassistischer, trans*- und queerfeindlicher Gewalt betroffen, die sie auch von staatlicher Seite erleben. Denn ein Gang zur Polizei bedeutet oft nur noch mehr Gewalt.

Wie kriegen wir dieses binäre Denken in den Kategorien „Gut“ und „Böse“ aus unseren Köpfen raus?

Wir müssen die komplexen Zusammenhänge verstehen, die hinter Gewalt stecken. Sobald zum Beispiel über Rassismus gesprochen wird, betonen viele weiße Menschen als Erstes, keine Ras­sis­t:in­nen zu sein. Gesellschaftlich scheint wenig Bewusstsein darüber zu existieren, dass wir in einem rassistischen System sozialisiert wurden und uns daher auch rassistisch, also gewaltvoll, verhalten oder anderes gewaltvolles Verhalten reproduzieren. Das muss nicht absichtlich passieren, aber es passiert. Das anzuerkennen kann befreiend sein. Man kann auf einmal fragen: Wie übernehme ich Verantwortung, statt in eine Abwehrhaltung zu verfallen, um das Selbstbild von sich als einen „guten Menschen“ zu schützen.

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