Streumunition für die Ukraine: Tödlich und nutzlos
Lieferung und Einsatz geächteter Streumunition bringen Kyjiw militärisch wenig und schaden der Solidarität. Für die Zivilbevölkerung geht der Schrecken weiter.
J etzt also doch: Nach monatelanger Debatte innerhalb der US-Regierung hat sich US-Präsident Joe Biden jetzt offenbar dazu durchgerungen, der Ukraine Streumunition zu liefern.
Damit gehen die USA einen Schritt, dessen militärischer Nutzen zweifelhaft, dessen politischer Schaden jedoch immens ist. Immerhin haben über 100 Staaten weltweit, darunter auch die meisten Nato-Mitglieder, sich zur Ächtung dieser Waffenart verpflichtet – und das nicht ohne Grund. Streumunition tötet und verstümmelt auch Jahrzehnte, nachdem ein Krieg vorbei ist. Denn jene der Dutzenden oder gar Hunderten Sprengkörper, die nicht sofort explodieren, bleiben als Minen im Boden.
Die USA behaupten jetzt, sie würden nur solche Munition liefern, die eine Blindgängerquote von unter 2,35 Prozent habe. Militärische Tests hätten das ergeben. Die Testergebnisse bleiben jedoch unter Verschluss, und Organisationen wie das Rote Kreuz oder Human Rights Watch bezweifeln die Zahlen – und auch die Aussagekraft jener Tests. Denn was unter Idealbedingungen – harter Untergrund, idealer Aufprallwinkel – funktionieren mag, geht unter Realbedingungen – weicher, unebener Boden, Schlamm – oft schief. In Wirklichkeit also liegen nach den Angaben dieser Organisationen die Blindgängerquoten bei 10 bis 30 oder gar 40 Prozent.
In der Praxis hieße das: Aus einer rein militärischen Logik ist der Wunsch der Ukraine vielleicht nachvollziehbar, solche Munition im Rahmen ihrer Rückeroberungsoffensive einsetzen zu wollen. Denn tatsächlich ist diese Art von Waffen ursprünglich einmal genau für solche Situationen entwickelt worden, also zur Bekämpfung eines in einem weitläufigen System von Schützengräben verschanzten Gegners.
Auf dem Schlachtfeld vielleicht kurzfristige Vorteile
Und der Ukraine wie ihren Unterstützern gehen die Vorräte an lieferbarer konventioneller Artilleriemunition aus, die angesichts fehlender Luftwaffe das wichtigste Mittel zum Angriff auf die russischen Frontstellungen ist. Schon jetzt sind diese Gebiete heftig vermint – im Netz kursieren unzählige Videos von der Front, die ukrainische Soldaten zeigen, denen beim Sturm auf russische Gräben die Gliedmaßen weggesprengt werden.
All das erklärt den ukrainischen Wunsch, mit artilleriebasierter Streumunition die russischen Stellungen attackieren zu können. Allerdings: Auf dem Schlachtfeld wird das vielleicht kurzfristige Vorteile bringen, mittel- und langfristig aber nicht kriegsentscheidend sein – im Gegenteil. Und das nicht nur, weil nachrückende Einheiten womöglich noch von den eigenen Blindgängern zerfetzt werden.
Die Ukraine kann sich gegen den russischen Angriff nur behaupten, wenn die internationale Unterstützung stetig bleibt und Legitimität genießt. Bislang hat Russland in recht großem, die Ukraine in geringem Umfang Streumunition eingesetzt, wobei Kyjiw das immer leugnete. Auch nur den Wunsch zu äußern, eine Waffenart einzusetzen, die von vielen der wichtigsten Unterstützerstaaten geächtet ist, schadet politisch gewaltig – der Vorwurf des Doppelstandards erhält neue Nahrung, und die Ukraine büßt für vielleicht kurzfristige militärische Gewinne langfristig Solidarität ein.
US-Präsident Joe Biden ginge im übrigen mit diesem Schritt auch ein hohes Risiko ein. Zwar haben die USA die Anti-Streubombenkonvention nie ratifiziert – aber schon seit 2017 verbietet eine Kongressresolution den Einsatz von Munition, die eine Blindgängerquote von 1 Prozent übersteigt. Biden kann das unter Berufung auf Sonderbefugnisse zur Wahrung der nationalen Sicherheit umgehen.
Und die Republikaner wettern wieder
Aber in wenigen Monaten beginnt das Wahljahr 2024 – und schon jetzt wettern die wichtigsten potenziellen republikanischen Herausforderer gegen weitere militärische Unterstützung der Ukraine. Wenn Biden sich durch die Lieferung geächteter Waffen offensichtlich ins Unrecht setzt, wird auch die Unterstützung in der eigenen Partei schwinden.
Gleiches gilt in der Europäischen Union: Schon jetzt sind die Waffenlieferungen an die Ukraine in allen Ländern umstritten und beziehen ihre politische Unterstützung nicht nur aus strategischen, sondern auch aus moralischen Erwägungen. Lieferung und Einsatz von Streumunition stärkt das Narrativ, beide Seiten handelten gleichermaßen verbrecherisch – besser raushalten.
Was also auf dem Schlachtfeld vielleicht militärisch logisch erscheint, führt in ein politisches Desaster.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels