Auf dem Straßenstrich in Berlin: Selbstbestimmt und ausgebeutet
Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal. Zuhälter müssen kaum mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Kann ein Sexkaufverbot helfen?
D ie Abendsonne brennt auf den Asphalt der Kurfürstenstraße in Berlin-Mitte, als Daria durch die Tür des Vereins Neustart kommt. Sie trägt eine Jogginghose und Cap, ihre Haare sehen zerzaust, ihr Gesicht müde aus. Daria geht schnurstracks auf die „Zum Mitnehmen“-Kiste zu, holt eine bunte Kette heraus und wirft sie einer Frau auf der Couch zu. Sie wirkt aufgedreht, ihre Augen blicken nervös durch den Raum, bevor sie sich hinsetzt, um ein belegtes Brötchen zu essen. Der Verein ist eine gemütliche, kleine Erdgeschosswohnung mit mehreren Sofas sowie einer Einbauküche. Hier bekommen Sexarbeiter:innen dreimal die Woche kostenlos Essen und Getränke.
Daria lebt seit etwa 15 Jahren in Berlin, so ganz weiß sie das aber selbst nicht mehr. Ihren Weg in die Hauptstadt findet sie über einen Bekannten, der ihr einen Job als Prostituierte in Berlin verspricht. In Bulgarien hat sie zuvor auch als Prostituierte gearbeitet. Daria spricht kaum Deutsch, eine Sozialarbeiterin hilft bei der Übersetzung. Mehr als ihr halbes Leben ist sie schon in diesem Beruf, doch es fällt ihr noch immer schwer, ihren Körper zu verkaufen. „Ich würde lieber als Putzfrau arbeiten“, sagt sie.
Daria ist wohl der Typ Prostituierte, den man meint, wenn in Deutschland über Armutsprostitution gesprochen wird. Wie viele andere Frauen aus Osteuropa kam Daria nach Deutschland, um hier Geld zu verdienen. Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal, er ist geregelt über das Prostitutionsschutzgesetz. Kritiker:innen des Gesetzes behaupten, Deutschland habe sich seit der Legalisierung vor mehr als 20 Jahren zum „größten Bordell Europas“ entwickelt; Frauen würden Opfer von sexueller Ausbeutung. Sie fordern deshalb ein sogenanntes Nordisches Modell, bei dem sich Freier mit dem Kauf von Sex strafbar machen. Die Sexabeiter:innen selbst werden dabei nicht kriminalisiert. In Schweden und Frankreich gibt es bereits ein solches Modell.
In Deutschland fordern Teile der SPD schon länger ein Sexkaufverbot, die Grünen und die FDP stehen dem Modell eher skeptisch gegenüber. Andere fordern im Gegenteil eine Entkriminalisierung der bisherigen Regelungen, um so Sexarbeiter:innen weniger zu stigmatisieren. Derzeit wird das Gesetz evaluiert. Doch was sagen eigentlich Frauen wie Daria dazu? Und gibt es womöglich andere politische Lösungen, um die Situation von Sexarbeiter:innen in Deutschland zu verbessern?
Daria lebt wie ein Phantom in der Stadt, kämpft sich permanent durch. Ohne Papiere und ohne eine offizielle Anmeldung hat die 47-Jährige keinen Anspruch auf Sozialleistungen, sie will deshalb auch anonym bleiben. Anfangs arbeitete sie noch in einer Bar in der Kantstraße im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie hatte eine Wohnung, musste dort aber ihrem Zuhälter die Hälfte ihres Gehalts abgeben. Seit einigen Jahren ist sie obdachlos und verdient ihr Geld weiterhin in der Prostitution. Sich von ihrem Zuhälter zu lösen, war ihre eigene Entscheidung. Sie kennt aber auch Frauen, die nicht von ihrem Zuhälter loskommen.
Das kann verschiedene Gründe haben. Manche Prostituierte sind von ihrem Zuhälter emotional abhängig. Sie denken beispielsweise, dass sie ohne ihren Zuhälter in Deutschland nicht klarkommen. Andere werden psychisch unter Druck gesetzt. Wirklich gewaltsam in die Prostitution gezwungen werden wenige, die Beziehung und das Abhängigkeitsverhältnis sind meist komplex, was auch die Strafverfolgung erschwert.
Daria muss zweimal am Tag einen Kunden treffen, um zu überleben. Nicht weil es ein Job ist, der ihr Spaß macht. Deshalb wird sie in diesem Text auch Prostituierte genannt und nicht Sexarbeiterin, denn mit Selbstbestimmung hat ihre Geschichte wenig zu tun. Fragt man Daria, was ihr helfen würde, sagt sie sofort: eine Wohnung.
Der Verein Neustart bietet seit März 2022 eine sogenannte Ausstiegswohnung an, hier können Frauen ein paar Monate kostenlos wohnen. Doch für soziale Angebote wie diese kommt Daria nicht infrage: Die Frauen müssen clean sein, um dort leben zu können, da der Verein keine 24-Stunden-Betreuung anbieten kann. Daria konsumiert aber seit einigen Jahren Crystal Meth.
Darias Geschichte zeigt, wie komplex die Probleme sind, denen vor allem Sexarbeiter:innen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, ausgesetzt sind. Denn oft gehen Sexarbeit, Armut und Wohnungslosigkeit an der Kurfürstenstraße Hand in Hand. „Wir haben schon mal versucht, Daria über einen Drogenentzug zu helfen, von der Straße zu kommen“, erzählt Gerhard Schönborn vom Verein Neustart. Doch sie hatte einen Rückfall. Laut dem Streetworker gibt es auf dem Straßenstrich einen immensen Anstieg beim Konsum von Crystal Meth. „Die Verelendung hat hier in den letzten Jahren zugenommen“, sagt der 61-Jährige, der seit 19 Jahren als Streetworker auf der Kurfürstenstraße unterwegs ist.
In Deutschland müssen Sexarbeiter:innen nach dem Prostituiertenschutzgesetz registriert sein. Die Bundesregierung schätzt, dass es bis zu 400.000 Sexarbeiter:innen in Deutschland gibt. Nur etwa 23.700 sind offiziell gemeldet, vier Fünftel davon haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Um sich als Sexarbeiter:in zu registrieren, muss man sich einer jährlichen Gesundheitsberatung unterziehen. Einige Sexarbeiter:innen halten die Registrierung für überflüssig, weil ihnen der sogenannte Hurenausweis keinen Vorteil bringt. Andere haben Angst, dass ihre Daten weitergegeben werden. Prostituierte wie Daria, die ganz ohne Papiere im Land sind, gehören zu all jenen Prostituierten, die im großen statistischen Dunkelfeld arbeiten.
Etwa 100 Frauen kommen pro Woche in den Verein Neustart. Die meisten Frauen kommen aus Bulgarien, Rumänien, ein paar Deutsche sind auch dabei. In der Ausstiegswohnung des Vereins wohnen derzeit drei Frauen kostenlos. Sofern sie keine Sozialleistungen bekommen, erhalten sie von dem Verein ein monatliches Taschengeld von 400 Euro, angelehnt an das Bürgergeld. Einige sind trotzdem noch weiter in der Sexarbeit tätig, weil sie beispielsweise Geld an ihre Familien in den Herkunftsländern schicken müssen.
In den Wohnungen sollen sie zur Ruhe kommen. Sie sollen Zeit haben, sich anzumelden, Sozialleistungen zu beantragen sowie eine Krankenversicherung. Eigentlich war die Idee, dass die Frauen dort nur für drei Monate bleiben. Doch es zeigte sich schnell: Die Frauen brauchen mehr Zeit. Eine der Frauen wohnt mittlerweile seit mehr als einem Jahr dort. „Wenn die Frauen erst mal aus diesem Modus des Funktionierens raus sind, dann kommen körperliche Beschwerden und psychische Probleme auf“, sagt eine der Sozialarbeiterinnen von Neustart.
Auch Elena ist an diesem Montag in den Verein gekommen. „Stell mir auch Fragen, ich will berühmt werden“, ruft sie der Journalistin lachend zu. Auch sie möchte anonym bleiben. Elena trägt ein pinkes Kleid, mit silbernen Glitzerelementen entlang des Kragens. Sie ist eine trans-Frau und nach Deutschland gekommen, weil sie die Stigmatisierung in ihrem Heimatland nicht mehr ausgehalten hat. Dort wurde sie aufgrund ihrer sexuellen Identität teils auf der Straße verfolgt und zusammengeschlagen. Ihre Familie will sie nicht als Frau akzeptieren. Deshalb ist sie nach Berlin gekommen.
Elena arbeitet seit über zehn Jahren in der Sexarbeit. Mit ihren Kunden verabredet sie sich meist privat, auf der Kurfürstenstraße ist sie nur unterwegs, wenn sie etwas mehr Geld dazuverdienen will. „Die Kunden haben sich verändert, früher waren alle nett, mittlerweile sind viele aggressiv und nehmen Drogen“, sagt sie.
Anders als Daria ist sie nicht obdachlos, sie lebt in einem Frauenwohnheim in Wedding. Die 35-Jährige ist offiziell als Prostituierte registriert und macht einen Deutschkurs, den sie aus eigener Tasche bezahlt. Gerade ist sie auf der Suche nach einer Wohnung. Am liebsten würde sie eine Ausbildung zur Maskenbildnerin machen, aber mit der Sexarbeit will sie nicht aufhören. „Ich liebe meinen Beruf, er macht mir Spaß“, sagt sie. „Und ich liebe Männer“, fügt sie hinzu.
Elena mag es, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, der Sex spielt dabei nur eine Nebenrolle. Aber auch sie berichtet von schlimmen Erfahrungen: Kunden hätten sie ausgeraubt oder geschlagen – auch deshalb sei es für sie sicherer, sich mit einem Kundenstamm von ihr bereits bekannten Männern zu treffen. Mit ihrer Familie hat sie wenig Kontakt und wenn, dann wollen sie meistens, dass sie ihnen Geld aus Deutschland schickt, erzählt Elena.
Dass Sexarbeiter:innen an der Kurfürstenstraße Geld an ihre Verwandten in die Heimat schicken, kommt häufig vor, sagt Gerhard Schönborn. „Man würde da jetzt nicht von Menschenhandel sprechen, aber das ist auch eine Form der Nötigung oder des sozialen Zwangs.“ Die Bedingungen, unter denen die Frauen auf der Kurfürstenstraße anschaffen, sind prekär. Laut dem Verein fragen Männer regelmäßig nach Sex ohne Kondom. Einige Prostituierte stehen den ganzen Tag an der Straße, bieten sexuelle Dienstleistungen zu Dumpingpreisen an. Sex im Auto gibt es teils schon für 20 Euro.
Das Prostituiertenschutzgesetz sieht man im Verein Neustart kritisch, es biete den Betroffenen keinen Schutz. Langfristig wünscht man sich hier das Nordische Modell, das Freier bestraft, während Sexarbeiter:innen ungestraft bleiben. „Es ist die teuerste Lösung und es würde nur funktionieren, wenn man genug Ausstiegsprogramme anbietet“, sagt der Vereinsvorsitzende. Es wären Zehntausende Frauen, die man langfristig begleiten müsste, mit Wohnungen, Jobs und psychologischer Betreuung. Frauen müsste dabei vor allem der Zugang zu Sozialleistungen ermöglicht werden, denn viele sind seit Jahren in Deutschland, aber ohne Anmeldung.
Doch könnte man nicht auch soziale Programme anbieten, ohne den Verkauf von Sex zu verbieten? Das sieht man bei Neustart kritisch, weil so das Problem der Zwangsprostitution nicht gelöst werde. Auch sieht Schönborn ein moralisches Argument für das Nordische Modell: „Es sollte nicht normal sein, dass wenn Männer ein sexuelles Bedürfnis haben, sie das einfach an einer Frau ausleben können.“
Zwei Hausnummern weiter sieht man das anders. „Indirekt werden die Frauen dann doch kriminalisiert“, sagt Lonneke Schmidt-Bink, die Leiterin des Frauentreffs Olga in der Kurfürstenstraße. In Schweden berichten beispielsweise Sexarbeiter:innen, dass sie ihr Einkommen mit ihren Partner:innen nicht mehr teilen könnten. Denn diese machen sich strafbar, wenn sie Geld, das mit Sexarbeit verdient wurde, ausgeben – weil sie so indirekt von einer kriminellen Tätigkeit profitieren.
Auch das moralische Argument überzeugt sie nicht: „Wer bin ich denn, Frauen meine Sexualmoral aufzudrängen?“ Auch der Frauentreff Olga ist eine umfunktionierte Altbauwohnung, die Räumlichkeiten sind hier etwas größer. Neben einem Aufenthaltsraum gibt es noch eine große Küche, einen Raum mit Ruhebetten, ein Bad sowie ein Behandlungszimmer. Neben einem Frauenarztstuhl gibt es ein Ultraschallgerät. Spricht man mit der Leiterin des Frauentrefffs, dann fällt immer wieder ein Wort: „zieloffen“. Sie wollen die Frauen selbst entscheiden lassen, welche Hilfe sie brauchen.
Zweimal im Monat können Sexarbeiter:innen hier eine Frauenärztin oder einen Allgemeinarzt aufsuchen. „Wenn wir die Frauen hier nicht versorgen würden, hätten viele von ihnen überhaupt keine medizinischen Leistungen“, sagt Lonneke Schmidt-Bink. Tests für sexuell übertragbare Krankheiten (STI) wie zum Beispiel HIV oder Chlamydien, Schwangerschaftstests, Krebsvorsorge, Wundheilung – all das sind Leistungen, die das Team vom Frauentreff Olga anbieten kann. Doch auch ihre Kapazitäten sind begrenzt: „Wir haben in den letzten Jahren insgesamt weniger Frauen auf der Straße angetroffen. Aber die, die hier sind, haben einen sehr hohen Bedarf an Betreuung.“
Auch bei Olga beobachtet man einen erhöhten Drogenkonsum, immer mehr Sexarbeiter:innen rutschten in die Sucht ab. Insgesamt sei die Zahl der Sexarbeiter:innen in den letzten Jahren auf der Straße zurückgegangen, haben die Sozialarbeiter:innen beobachtet. Das heißt aber nicht, dass sie nicht stattfindet. Sie findet eher im Verborgenen statt, etwa in Bordellen in Wohnhäusern. Das geht auch aus der Bundeskriminalstatistik hervor und ist ein weiteres Argument gegen das Nordische Modell: Durch die Kriminalisierung könnte Sexarbeit womöglich mehr im Verborgenen stattfinden und so weniger reguliert werden.
Legal und umstritten
Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal, geregelt über das Prostituiertenschutzgesetz. Kritiker:innen des Gesetzes behaupten, Sexarbeiter:innen seien in der Branche hauptsächlich Opfer von sexueller Ausbeutung. Sie fordern deshalb ein sogenanntes Nordisches Modell, wie es in Schweden in Kraft ist. Freier machen sich dabei mit dem Kauf von Sex strafbar. Die Sexabeiter:innen selbst werden nicht kriminalisiert. Teile der SPD fordern schon länger ein sogenanntes Sexkaufverbot. Die Grünen und die FDP sind eher dagegen.
400.000 Sexarbeiter:innen
Laut der Bundesregierung gibt es bis zu 400.000 Sexarbeiter:innen in Deutschland. Davon sind nur etwa 23.700 offiziell gemeldet, vier Fünftel haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Um sich als Prostituierte zu registrieren, muss man sich einer jährlichen Gesundheitsberatung unterziehen. (taz)
Davor hätten auch Daria und Elena Angst: Sie wären den Freiern so noch mehr ausgeliefert. Sie sind besorgt, dass es durch eine Kriminalisierung weniger Nachfrage geben würde und sie so Kunden annehmen müssten, die sie nicht annehmen wollen. Daria fände es gut, wenn es mehr sichere Räume gebe, wohin sie mit ihren Kunden gehen kann. Auch das ist ein Problem an der Kurfürstenstraße: Gentrifizierung. Säumten vor einigen Jahren noch viele leerstehende Häuser die Straße, reihen sich jetzt Neubauten aneinander. Damit gehen Räume verloren, zu denen die Sexarbeiter:innen mit ihren Kund:innen gehen können. „Drogen und Wohnungslosigkeit sind das größte Problem hier“, bilanziert auch Elena über die Kurfürstenstraße. Sie würde sich wünschen, dass es mehr Therapie- und Wohnungsangebote gibt, um den Frauen zu helfen.
Es ist auch eine feministische Frage, was man von dem Nordischen Modell hält. Findet man es feministisch, dass Frauen sexuelle Dienstleistungen anbieten? Will man eine Gesellschaft, in der Männer sich Sex kaufen können? Der eigene Standpunkt fängt dabei schon mit der Formulierung an. Spricht man von Prostitution, schwingt gleich eine negative Komponente mit, es hebt den Unterschied zu anderen Formen der Arbeit hervor. Sagt man Sexarbeit, betont man, dass Prostitution eben auch Arbeit sei. Beim Frauentreff Olga spricht man von „Umstieg“ statt „Ausstieg“, man sagt Sexarbeiter:innen, nicht „Prostituierte“ – denn es sind ja nicht nur Frauen auf der Straße, sondern auch Männer und nicht-binäre Personen.
Schmidt-Bink, die Leiterin von Olga, ist insgesamt genervt von der Art und Weise, wie über Sexarbeit in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Sie findet es problematisch, dass nicht klar zwischen Sexarbeit und Zwangsprostitution unterschieden wird. Denn es gibt eben auch einige Sexarbeiter:innen, die selbstbestimmt im Beruf arbeiten. „Das würde auch eine bessere Diskussion über politische Maßnahmen ermöglichen“, sagt sie. Sie hält es für völlig unrealistisch, dass ein Nordisches Modell den Menschenhandel in Deutschland bekämpfen würde. „Vieles von dem, was passiert, ist bereits illegal, eine weitere Kriminalisierung würde die Zuhälter nicht abschrecken.“
Laut Bundeskriminalamt haben etwa 90 Prozent des Menschenhandels in Deutschland sexuelle Ausbeutung zum Ziel. Die Ursachen von Menschenhandel sind komplex. Sie hängen viel mit Migration und Armut zusammen. In Deutschland gab es im Jahr 2022 291 Ermittlungsverfahren wegen sexueller Ausbeutung sowie 220 wegen kommerzieller sexueller Ausbeutung von Minderjährigen. Fachleute und das Bundeskriminalamt gehen von einem großen Dunkelfeld aus.
An der Emotionalität der Debatte stört sich auch die Grünen-Abgeordnete Denise Loop. „Ich finde, wir entfernen uns bei dem Thema zu sehr von einer sachlichen Debatte“, sagt sie. „Man kann auch entkriminalisieren und gleichzeitig gegen Menschenhandel vorgehen.“ In etwa 50 Prozent der Fälle kommt es durch die Opfer selbst zu einem Verfahren, diese Zahl ist jedoch rückläufig. Im Jahr 2020 gingen die Anzeigen noch zu 55,4 Prozent von den Opfern aus, 2021 nur noch zu 47,1 Prozent. Der Rest der Verfahren wird durch die Polizei eigeninitiativ, über einen Hinweis oder über eine Anzeige durch Dritte, eingeleitet.
Würde ein Nordisches Modell helfen, die Strafverfolgung von Zwangsprostitution zu verbessern? Loop ist da skeptisch. Sie sieht das Potenzial eher in anderen politischen Instrumenten, den Menschenhandel zu stoppen. Dabei hakt es derzeit aber noch an der Umsetzung. So gibt es bei der Staatsanwaltschaft keine gesonderte Stelle für Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung, außer in einzelnen Bundesländern. Auch sei die Polizei nicht ausreichend spezialisiert im Umgang mit Opfern. Das sei aber essenziell, um gegen Menschenhändler vorzugehen. Eine Forderung aus dem Ampel-Koalitionsvertrag sei es, die Aussagebereitschaft vom Aufenthaltstitel zu entkoppeln, so Loop. Wenn den Opfern keine Abschiebung droht, wenn sie eine Aussage machen, sind sie womöglich eher bereit, mit der Polizei zu sprechen.
„Da warte ich seit 20 Jahren drauf und es passiert nichts“, sagt hingegen Leni Breymaier von der SPD. Sie setzt sich schon seit Jahren für das Nordische Modell ein. Die Politikerin sieht es nicht als die ultimative politische Lösung – aber als die beste zur Verfügung stehende. Deutschland habe sich laut Breymaier zum Zielland von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung entwickelt, deshalb sei es wichtig, die Nachfrage zu regulieren. Ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Legalisierung von Prostitution und einer Zunahme des Menschenhandels in Deutschland gibt, ist jedoch umstritten.
Laut Neustart-Leiter Schönborn begünstigt eine liberale Gesetzgebung das System: „Zuhälter können sich bedenkenlos auf die Straße stellen und den Frauen zusehen, wie sie für sie Geld verdienen“, sagt er.
Es gibt jedoch noch andere Faktoren, die zu der Zunahme des Menschenhandels beigetragen haben. Denn das Problem hängt direkt mit der Armutsbekämpfung in ganz Europa zusammen. Seit der EU-Osterweiterung ist es einfacher für Menschen wie Daria und Elena, nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Diese Liberalisierung hat auch dazu beigetragen, dass sich solche Netzwerke bilden konnten. Aus Mangel an Perspektiven im Heimatland kommen die Frauen in reichere Länder in Europa. Gleichzeitig ist es für Menschenhändler lukrativer, in Deutschland Sex zu verkaufen.
Genau wie Schönborn findet die SPD-Politikerin Breymaier trotzdem, dass das Nordische Modell der richtige Weg ist: Ein solches Modell funktioniere aber nur, wenn man ausreichend Ausstiegshilfen, Wohnraum und gesundheitliche Versorgung anbiete. Allein solche Maßnahmen zu ergreifen, hält sie für sinnlos. „Für jede Frau, der wir helfen, kommen im Zweifel zehn nach“, sagt sie. Dass es auch Sexarbeiter:innen gibt, die selbstbestimmt und freiwillig in der Branche tätig sind, streitet sie nicht ab. „Aber das Recht dieser vielleicht 5 Prozent Frauen legitimiert doch nicht das Leid der anderen 95 Prozent.“
Die 5 Prozent kann man an einem heißen Tag in Juni an der Kurfürstenstraße beobachten. Etwa 200 Sexarbeiter:innen und Prostituierte protestieren anlässlich des Internationalen Hurentags für weniger Stigmatisierung und mehr Mitspracherecht bei der Evaluation des Prostitutionsschutzgesetzes. Rote Schirme säumen die Menge, die Schirme sind ein weltweites Solidaritätssymbol unter Sexarbeiter:innen. Viele leicht bekleidete Frauen sind zu sehen, aber auch viele Unterstützer. Auf Protestbannern stehen Sprüche wie „Sex work is work“, „Stigma kills“ oder „Redet mit uns statt über uns“.
Als der Protestzug vor den Beratungsstellen des Frauentreffs Olga und des Vereins Neustart hält, kommt eine Anwohnerin auf den Balkon. Sie zeigt den Mittelfinger und schüttet Wasser auf die Protestierenden. „Wir bleiben hier“, brüllt die Menge ihr entgegen. Sichtlich unberührt von dem ganzen Trubel stehen Sexarbeiter:innen am Rand der Straße, die auf einen nächsten Kunden warten. Auch Daria und Elena sind nicht zu sehen. Für ihre Rechte kämpfen, das kommt ihnen wohl bisher noch nicht in den Sinn. Das fällt in dem Gespräch mit ihnen auf: Als man sie fragt, wie man ihre Situation verbessern kann, hat man das Gefühl, sie äußern sich dazu zum ersten Mal.
Dabei ist es wichtig, Menschen wie Elena und Daria zuzuhören. Denn ihre Stimmen gehen in dem Diskurs über Sexarbeit oft verloren. Und ihre Geschichten zeigen, wie vielschichtig die Probleme der Sexarbeiter:innen sind. Sie zeigen auch, dass man differenzieren muss. Beide Frauen arbeiten unter ähnlich prekären Bedingungen, trotzdem sind ihre Geschichten ganz unterschiedlich: Die eine sieht sich dazu gezwungen, ihren Körper zu verkaufen. Für die andere ist es eine selbstbestimmte Entscheidung. Das wird die Herausforderung für die Zukunft sein: einen gesetzlichen Rahmen zu finden, der das Leben aller Sexarbeiter:innen beziehungsweise Prostituierten verbessert. Niedrigschwellige Unterstützungsangebote sind dabei zentral. Damit Menschen wie Daria nicht länger durchs System fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar