Rechtsextreme Verschwörungserzählung: Der Mythos vom „großen Austausch“
Die rassistische Verschwörungserzählung vom „Great Replacement“ ist unter Rechten weit verbreitet. Doch auch außerhalb der Szene verfängt die Mär.
E in Rassist erschießt in Buffalo zehn Menschen. In Essen wird der rechtsterroristische Anschlag eines Jugendlichen vereitelt. In der Berichterstattung über die beiden Geschehnisse fällt eine Gemeinsamkeit sofort ins Auge: Die beiden Männer sollen die (geplante) Ermordung von Menschen mit dem „Aussterben der Weißen“ gerechtfertigt haben.
Die Mär vom sogenannten „großen Austausch“ hat sich in den vergangenen Jahren zum wohl wichtigsten Narrativ der extremen Rechten entwickelt. Und schon vor Buffalo und Essen bezogen sich Terroristen darauf – der Täter von Christchurch etwa, der im Jahr 2019 insgesamt 51 Menschen muslimischen Glaubens ermordete, gab seinem Hasspamphlet gar den Titel „The Great Replacement“.
Ursprünglich aus Frankreich stammend, geht die Erzählung davon aus, die weißen Bevölkerungen verschiedener Länder würden durch nichtweiße Menschen ausgetauscht – und das gezielt. Als Verursacher:innen des vermeintlichen Austauschs werden geheim agierende Eliten beschrieben und dabei insbesondere immer wieder antisemitische Codes bedient.
„Großer Austausch“ als ideologischer Überbau
Im Wesentlichen wird ein Szenario gezeichnet, in dem Migration und Geburten eng zusammenhängen. Einerseits würde eine als illegal dargestellte Migration weiße Menschen, etwa in Deutschland, in eine Minderheitenposition bringen. Das geschehe sowohl durch den Zuzug der Migrant:innen selbst als auch durch ihre Geburtenzahlen, die nach altbekanntem rassistischem Topos als besonders ausufernd beschrieben werden. Andererseits wird auch das Fortpflanzungsverhalten all jener problematisiert, die qua ihrer genealogischen Abstammung und ihres Weißseins als genuin deutsch betrachtet werden: Sie würden schlichtweg zu wenige Kinder bekommen.
Die Verfechter:innen dieses Verschwörungsmythos zeichnen ein Bild Deutschlands, in dem ganze Stadtteile von feindlichen Mächten übernommen würden und sich weiße Deutsche nicht mehr sicher im eigenen Zuhause fühlen könnten. Menschen werden in der Erzählung in fixe Kategorien eingeteilt und damit zu Zugehörigen beziehungsweise Nichtzugehörigen. Wer als Gefahr für „das deutsche Volk“ gilt, entscheidet sich anhand rassistischer Marker – weiße Schwed:innen oder Amerikaner:innen kommen als Schuldige in den Horrorszenarien nicht vor. Stattdessen sind es People of Color, die unabhängig von ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit als „Umvolker“ zur Gefahr stilisiert werden.
Es gibt mehrere Gründe, warum das Narrativ derart starken Anklang findet. Martin Sellner, Gesicht der sogenannten Identitären Bewegung in Österreich, erklärte schon 2016, der „große Austausch“ sei genau der übergreifende Begriff, der alle wichtigen Themen des Milieus auf so praktische Weise vereine. Ob gegen Migrant:innen gehetzt, vor „Mischehen“ gewarnt oder eine „Islamisierung“ beschworen werden soll – all dem verleiht der „große Austausch“ einen vermeintlich systematischen Überbau.
Rassismus und Antifeminismus
Diese Sammelfunktion des Konzepts generiert gleichzeitig eine größere Anschlussfähigkeit. Denn die einzelnen Themen, die sich darunter versammeln, werden nicht nur in der rechten Szene heiß diskutiert, sondern weit darüber hinaus. Wettert die extreme Rechte beispielsweise gegen einen zerstörerischen Feminismus, der deutsche Kinderlosigkeit zur Folge habe, lassen sich damit auch viele Menschen in die Welt des „großen Austauschs“ führen, die für allzu hasserfüllte Migrant:innenhetze möglicherweise nicht empfänglich wären – schließlich ist die Ablehnung feministischer Errungenschaften bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal der Rechten. Auch der wissenschaftliche Begriff der Demografie wird als Einfallstor genutzt. Doch anstatt tatsächlich relevante soziale Folgen des Bevölkerungswandels wie die medizinische Versorgung alter Menschen zu diskutieren, verbindet das rechtsextreme Milieu damit Hetze gegen Migrant:innen und Misogynie.
Das Thema Geschlecht durchzieht die Erzählung wie ein roter Faden. Frauen und Männer nehmen im völkischen Denken fixe Rollen ein – Geschlechtervielfalt gibt es nicht. Die Frau sei demnach nicht nur Gebärerin der Volksnachkommen, sondern auch Sinnbild einer erdachten Volkskultur. Der Austauscherzählung zufolge habe der westliche Feminismus jedoch dazu geführt, dass „deutsche Frauen“ ihren Platz in der Familie vernachlässigen würden und sich darüber hinaus allzu häufig auf Beziehungen mit „Nichtdeutschen“ einließen. Derartige Beziehungen werden als gezielte Zerstörung des weißen Deutschlands verstanden, gefördert von gleichgeschalteten Medien und Regierungen. So werden auch die von der Szene als deutsch betrachteten Frauen zur potenziellen Gefahr für das Volksbild der extremen Rechten.
Auf der anderen Seite gilt die emotionsgesteuerte, unberechenbare Frau dieses Zerrbilds als völkisches Gut, das vor dem als migrantisch gezeichneten Mann beschützt werden muss. Die sexualisierte Darstellung dieses „Anderen“ ist seit dem Kolonialismus fest verankert und auch die Nationalsozialist:innen stellten ihre Opfer als unkontrollierbare Gefahr für die (sexuelle) Ordnung dar. So nutzt die extreme Rechte die Sexualisierung rassifizierter Männer zum einen, um ihren Rassismus zu rechtfertigen, zum anderen, um den eigenen Sexismus zu verschleiern – dieser sei lediglich ein Problem der „Anderen“.
Erzählung suggeriert eine akute Bedrohung
Dass es sich beim „großen Austausch“ weder um Wissenschaft noch um berechtigte Sorge handelt, wird durch die rassistische und sexistische Hetze des Narrativs schnell deutlich. Tatsächlich geht es um Gewalt und Ausgrenzung zur Wahrung von Privilegien. Doch wer der Erzählung Glauben schenkt, kann zu der Überzeugung gelangen, schnellstmöglich handeln zu müssen. Genau das macht den „großen Austausch“ so brandgefährlich: Er suggeriert eine Situation der akuten Bedrohung, in der eine Zurwehrsetzung mit allen Mitteln gerechtfertigt sei. Denn wo man angegriffen wird, darf man nicht nur, man muss sich gar wehren, um weiteren Schaden abzuwenden, so der Gedanke der extremen Rechten. In den Köpfen der Anhänger:innen wird so eine absurde Täter-Opfer-Umkehr vollzogen, mit der die Tötung rassifizierter Menschen als Notwehr erscheinen soll.
Doch wozu das Ganze? Die Szene rechtfertigt ihre gewaltvollen Forderungen implizit stets mit einer völkischen Überlegenheit – das „gute Volk“ muss gerettet, erhalten werden. Unverblümt ein offensives Vorgehen gegen die Verachteten zu fordern, würde nicht in dieses Bild passen: Der Gute, so die Argumention der Rechtsextremen, wehrt sich bloß gegen den illegitimen Angriff des Feindes. Solche vermeintlichen Notwehrerzählungen sind nicht neu, sondern werden seit jeher in den unterschiedlichsten Situationen gezielt eingesetzt. Schon aus der Zeit vor dem deutschen Völkermord an den Herero und Nama finden sich öffentliche Behauptungen über bestialische Morde an deutschen Frauen und Missionaren. Wer nicht so weit in die Vergangenheit blicken möchte, findet erstaunliche Anleihen der Notwehrerzählung in Putins Kriegsrechtfertigung, mit der er ein angebliches Nazi-Regime in Kiew zeichnet, vor dem die Welt bewahrt werden müsse.
Die thematischen Verknüpfungen des „großen Austauschs“ haben der extremen Rechten Räume erschlossen, die weit über die eigenen Hinterzimmer hinausgehen. Es überrascht kaum, dass die AfD das Narrativ bedient. Doch laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmt ein Fünftel aller Befragten der Aussage zumindest teilweise zu, Deutschland werde „durch den Islam unterwandert“. In den USA glaubt mittlerweile jeder dritte Erwachsene an den Verschwörungsmythos. Das macht deutlich, wie wichtig die Finanzierung professioneller Aufklärungs- und Präventionsangebote ist, wenn wir nicht nur kaum fassbaren Massakern, sondern auch der fortwährenden Ausgrenzung von rassifizierten Menschen die Grundlage entziehen wollen.
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