: M für Mitbestimmung und Mitgestaltung
Warum schwenkt alles nach rechts aus, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung andere Themen für wichtiger hält? Zum Beispiel auch den Klimaschutz
Von Annette Jensen und Ute Scheub
Es ist wieder Wahlkampf, aber was für einer. Lähmung und Ohnmachtsgefühle machen sich breit. Progressive Menschen fühlen sich vom Parteienangebot nicht mehr repräsentiert. Superreiche Extremisten wie Elon Musk mischen sich in den deutschen Wahlkampf ein. Die AfD treibt mit dem Thema Migration die anderen Parteien vor sich her. Der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat den Rechtsextremen ohne Not am Mittwoch ein Eingangstor geöffnet. Aber auch die anderen Parteien sind so dämlich, sich darauf einzulassen und sich in der Abschieberhetorik zu überbieten, die „Populismus-Parade“ am 9. Januar in der NDR-Sendung „extra 3“ zeigt es. Selbst die Grünen machen mit und reden nicht mehr von ihrem Kernthema Klimaschutz. Das ist keine Strategie, sondern Dummheit.
Der Rechtsruck ist zur Selffulfilling Prophecy geworden, weil sich alle Parteien auf Migration konzentrieren. Auch in der taz heißt es, es gebe keine Mehrheiten für Klimaschutz mehr. Aber die Wahlprognosen für die Parteien verzerren die Wirklichkeit. Seit Jahren steht eine Bevölkerungsmehrheit hinter Klimaschutz, dem Ausbau der Erneuerbaren und der ökosozialen Transformation der Wirtschaft. Oft finden sich klare Mehrheiten in Parteiprogrammen, Koalitionsvereinbarungen und Realpolitik nicht wider. In vielen Punkten sind Bevölkerung und Wirtschaft weiter als die Politik.
So befürworten laut einer repräsentativen Umfrage nicht weniger als 91 Prozent der Befragten einen umwelt- und klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft. Auf wachsende Akzeptanz stoßen Tempolimits: 64 Prozent der Befragten sprachen sich laut Umweltbundesamt 2024 für eine Begrenzung auf 130 km/h auf Autobahnen aus. 79 Prozent wollten bessere Bus- und Bahnverbindungen auf dem Land, 60 Prozent in den Städten, und den Ausbau von Radwegen unterstützten 2024 laut RWI-Institut immerhin 73 Prozent.
Es gibt deutliche Mehrheiten für mehr Grün in den Städten, mehr Schutz vor Extremwetter, für das Verbot von Pestiziden und für die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Gesundheit und Pflege sind nach einer aktuellen forsa-Umfrage von Januar 2025 für 48 Prozent der Befragten sogar die wichtigsten Themen im Wahlkampf, noch vor Wirtschaft und Sicherheit. Viele sind unzufrieden mit dem Fachkräftemangel und der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum. Die Abschaffung der Zweiklassenmedizin ist ein zentrales Anliegen der Mehrheit laut Umfragen, sogar unter den Privatversicherten. Gleiche Bildungschancen, eine Neuausrichtung der Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung – etwa durch die Einführung von zufällig ausgelosten Bürgerräten und bundesweite Volksentscheide oder auch das Volksveto, also die Möglichkeit, Gesetzentwürfe per Volksentscheid zu stoppen – und Lobbyregister sind einer breiten Mehrheit ein Bedürfnis, ebenso eine Obergrenze von Unternehmensspenden an Parteien.
Natürlich würden die meisten dieser Reformen viel Geld kosten: allein der ökosoziale Umbau der Wirtschaft und die Reparatur der maroden Infrastruktur jährlich 60 Milliarden Euro. Aber in Deutschland ist genug Geld da. Warum nicht vor allem diejenigen in die Pflicht nehmen, die bisher am meisten profitiert haben: die Reichen und Überreichen? Auch hier sprach sich 2024 laut forsa eine breite Mehrheit für ein Umsteuern aus: 62 Prozent befürworten eine Vermögensteuer ab einer Million Euro, selbst 55 Prozent der CDU/CSU-Fans waren für eine Vermögensabgabe.
Nur wurde die Vermögensteuer 1997 eingefroren, sodass die Regierung seither nicht mal weiß, wie viel Vermögen die Überreichen angehäuft haben. Auch die Erbschaft- und andere Reichensteuern schrumpften seit den 1990ern immer mehr zusammen. Eine Normalverdienerin muss hierzulande rund 47 Prozent ihres Einkommens für Steuern und Sozialabgaben ausgeben, ein Milliardär nur 26 Prozent. Gleichheit und Gerechtigkeit sind die größten uneingelösten Versprechen der Demokratie.
Annette Jensen
ist freie Journalistin und Autorin in Berlin. Ihr Buch „Holy Shit – Der Wert unserer Hinterlassenschaften“ erschien im Verlag orange-press.
Fünf Multimilliardäre besitzen hierzulande so viel wie die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung zusammen. Dieser Umstand wird noch ungerechter, wenn man bedenkt, dass 70 Prozent der milliardenschweren Vermögen nicht erarbeitet, sondern vererbt wurden. „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“, so geißelte der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle 2010 nicht Superreiche, sondern Menschen, die von Sozialhilfe lebten. Rechte Parteien, rechte Medien und Lobbyorganisationen tun medial derzeit alles, um die Schuld für erlebte Ungerechtigkeit weg von den Reichsten und hin zu den Ärmsten zu schieben, den Bürgergeldempfangenden und Geflüchteten. Leider ziemlich erfolgreich. Investierte der Staat heute massiv in Klimaschutz, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und Frauenrechte, würde es in einigen Jahren billiger, solidarischer, gesünder und hoffnungsvoller. Ein harter Sparkurs in der Gegenwart führt dagegen zu hohen und unproduktiven Reparaturkosten, Dauersubventionen und mehr Katastrophen aufgrund mangelnder Klimaanpassung.
Würden Superreiche endlich wieder besteuert, könnten die Ärmeren von der ökosozialen Wende profitieren – was die Akzeptanz des notwendigen Umbaus enorm steigern würde.
Mit dem Buch „Earth for All“ hat der Club of Rome und sein deutscher Ableger, das Wuppertal Institut, einen Kompass für einen gerechten Umbau geliefert. Das wissenschaftliche Autorenteam zeigt, dass eine Wende bei Armut und Ungerechtigkeit die Voraussetzung ist, dass die nötigen tiefgreifenden Veränderungen stattfinden können.
Beispiel Wärmeenergie: Werden die am schlechtesten isolierten Wohnungen zuerst saniert, hat das die größten Vorteile fürs Klima und aus sozialer Sicht. Der Energieverbrauch sinkt, die nächste Nebenkostenabrechnung verliert ihren Schrecken. Auch für den Staat wird es beim Wohngeld billiger. Eine Förderung der „Öffis“ kommt ebenfalls insbesondere den Ärmeren zugute und spart Treibhausgase, reduziert schlechte Luft und Krankheitskosten. Und mit einer einzigen Krankenkasse für alle würden die allermeisten Menschen besser versorgt und explodierende Kosten gedämpft.
Damit die ökosoziale Wende stattfinden kann, hält der Club of Rome eine Zutat für unerlässlich: die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Empowerment. Mitbestimmung und Mitgestaltung sollten grundlegend sein für jede Demokratie. Es ist ein Fehler, dass immer nur Parteienlisten zur Abstimmung stehen.
Ute Scheub
schreibt als Journalistin und Buchautorin zu den Themen Ökologie, Frauenrechte, Demokratie und klimafreundliche Landwirtschaft.
Würde man über Themen wie Klimaschutz, Bildungszugang oder Pestizidverbote abstimmen können, würden ganz andere Mehrheiten sichtbar. Und die Menschen würden sich mit Sicherheit mehr gehört fühlen.
Wir sollten viel stärker zeigen, dass wir die übergroße Mehrheit sind, die eine Brandmauer gegen rechts im Bund und allen Städten einfordert. Demos bieten dazu Gelegenheit. Wir erwarten von der kommenden Regierung weder einen Schmusekurs mit Rechtsradikalen und Superreichen noch die Ignoranz existenzieller Themen. Das M könnte ein gemeinsames Zeichen sein. Mit einem M auf der Kleidung, auf Demos, auf Veranstaltungen könnten wir einen ökosozialen Umbau von Wirtschaft und Demokratie einfordern. M würde auch für „Milliardäre besteuern“ stehen, für „Moneten her!“ oder für „Marginalisiert die AfD!“.
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