Deutschlands Fehleinschätzung von Putin: Illusion und Scham
Deutschland hat Putin falsch eingeschätzt. Balten, Polen und Ukrainer lagen dagegen richtig in ihrem Sicherheitsbedürfnis. Es bleibt Hilflosigkeit.
W ir lagen falsch. Weite Teile der politischen Linken in Deutschland hingen bis zuletzt einer Illusion an. Und nicht nur sie; im Grunde basierte auf diesem Wunschdenken auch das Regierungshandeln der letzten Jahre. Die Fehlannahme in Kurzform: Putin ist zwar ein Autokrat und sein Handeln nicht legitim, er lässt sich aber einhegen durch geduldige Gespräche, wirtschaftliche Verflechtungen und Zurückhaltung in der russischen Nachbarschaft. Die Nato-Osterweiterungen waren demnach entweder grundsätzlich ein Fehler oder durften zumindest nicht fortgeführt werden. Provoziert nicht den Kreml!
Die beschämende Erkenntnis: Das war nie der Punkt. Wladimir Putin demonstriert heute in der Ukraine einen Imperialismus ohne Skrupel. Als Reaktion auf eine gefühlte Einkreisung durch die Nato lässt sich das nicht mehr erklären. Eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands hätte tatsächlich keine Sicherheit gebracht gegen eine russische Regierung, die die Einverleibung ehemaliger Sowjetstaaten anstrebt.
Balten, Polen, Ukrainer, wegen eines vermeintlich übertriebenen Sicherheitsbedürfnisses lange als paranoid belächelt, lagen dagegen richtig. Stand jetzt war Abschreckung erfolgreicher als Angebote. Die osteuropäischen Nato-Länder haben Frieden, die Ukraine hat Krieg.
Nun wäre es gefährlich, am Tag des Kriegsbeginns im Schockzustand alle Überzeugungen abzuwerfen. In Abwesenheit einer Glaskugel war Gesprächsdiplomatie löblich und die Geschichte kennt Beispiele, in denen Entspannungspolitik Katastrophen verhindert hat. Verbohrt wäre es allerdings, angesichts der neuen Wirklichkeit die alten Gewissheiten nicht zu hinterfragen.
Hätte der Westen der Ukraine nicht in der Vergangenheit zur Seite stehen müssen? Vielleicht lag ausgerechnet George W. Bush richtig, der anderswo selbst ungerechte Kriege führte. Er wollte 2008 den Nato-Beitritt der Ukraine, Deutschland hat gebremst. Dabei gab es ein Zeitfenster dafür: Russland wäre damals noch zu schwach gewesen, um den Beitritt militärisch zu verhindern. Vor einem Angriff im Jahr 2022 hätte der Nato-Schutzschirm die Ukraine dann wohl bewahrt.
Nachholen lässt sich das Versäumnis nicht. Entschiede sich der Westen jetzt dazu, der Ukraine militärisch beizustehen, würde der Krieg weit über die Region hinaus eskalieren. Atombomben auf Berlin, was für ein wahnsinniger Satz, wären ein realistisches Szenario.
Vielleicht wären auch Waffenlieferungen richtig gewesen, nicht spontan in der Krise, sondern schon nach 2014. Militärisch hätte der Westen die Ukraine zwar niemals ausreichend aufrüsten können, um das Land auf Augenhöhe mit Russland zu bringen. Mit einer anständigen Flugabwehr hätte er sie aber zumindest ausstatten können. Auslieferung, Ausbildung und Inbetriebnahme hätten Jahre gedauert. Mit genügend Vorlaufzeit wären die Kosten des Angriffs, der wie erwartet mit Luftangriffen begann, so allerdings gestiegen. Um das entscheidende Maß?
Hätte, wenn und wäre: Wir werden es nicht erfahren. In der aktuellen Situation werden Waffenlieferungen das Blatt auf jeden Fall nicht mehr wenden, es sei denn, man legt es auf einen langen und blutigen Partisanenkrieg an. Und Sanktionen, selbst wenn sie maximal verheerend ausfallen, sind zwar wichtig, um der totalen Selbstaufgabe zu entgehen. Es sollte aber auch niemand darauf bauen, dass sie den Krieg beenden. Und damit sind wir an dem Punkt, der die Scham so groß macht: Infolge der Fehleinschätzung stehen wir machtlos da. Verletzte aufnehmen, Hilfsgüter senden, die Grenzen offen lassen – klar, muss alles sein. Darüber hinaus bleibt aber wenig zu tun. Wir müssen die Ukraine im Stich lassen.
Vorbeugung ist jetzt nur noch für die eigene Sicherheit möglich, für Deutschland und seine direkten Partner. Dabei geht es einerseits um zivile Maßnahmen, zum Beispiel bei der Energieversorgung. Das ist noch so ein Bereich, in dem sich die Versäumnisse der Vergangenheit rächen; dass die Energiewende in Deutschland verschleppt wurde, dass Gaslieferungen vor allem aus Russland kommen und dass Gasspeicher an Gazprom verkauft wurden. Die Abhängigkeit macht uns verwundbar. Korrekturen brauchen Zeit, umso schneller müssen sie beginnen.
Bei der eigenen Sicherheit geht es aber natürlich auch um militärische Fragen, die ab jetzt unter ganz neuen Annahmen im Raum stehen. Reichen unsere Verteidigungsausgaben wirklich aus? Sollten mehr Truppen in die Nachbarländer im Osten? Müssten Schweden und Finnland nicht jetzt noch schnell in die Nato? Grundsätze geraten heute ins Wanken. Was für ein beschissener Donnerstag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen