Coronapolitik und Vertrauen: Verantwortungslos auf allen Ebenen
Die aktuelle Pandemie-Entwicklung entspricht exakt den Prognosen vom Sommer, die Politik unterließ dennoch vorausschauendes Handeln. So geht Vertrauen verloren.
D as derzeitige Versagen in der deutschen Coronapolitik ist umfassend. Und der Umgang damit ist so dreist, dass es auch langjährigen Politikbeobachtern den Atem verschlägt. 50.000 Neuinfektionen werden täglich gemeldet, mehr als jemals zuvor in dieser Pandemie. In Kliniken kämpft das Pflegepersonal gegen die völlige Überlastung und muss vielerorts bereits Patient*innen abweisen.
200 Menschen starben zuletzt täglich im Zusammenhang mit der Infektion. Es steht bereits jetzt fest, dass sich dieser Wert in den nächsten Wochen mindestens verdoppeln wird. Und nichts davon kommt überraschend. Seit dem Sommer lagen Szenarien vom Robert-Koch-Institut und anderen Institutionen vor, die vorhergesagt haben, welche Inzidenz und welche Zahl von Intensivpatient*innen im Herbst bei der aktuellen Impfquote zu erwarten sein wird.
Doch das wollte in der Politik fast niemand zur Kenntnis nehmen. Wer auf die drohende vierte Welle im Herbst hinwies, galt als Panikmacher. Statt die Warnungen der Expert*innen ernst zu nehmen, hörten viele Entscheidungsträger*innen lieber auf realitätsferne Optimist*innen und starteten einen Wettstreit um möglichst weitgehende Lockerungen und den Termin für einen möglichen „Freedom Day“.
Dieses Versagen ist schlimm, doch der Umgang damit macht es noch schlimmer. Statt Fehler einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen, versuchen alle Beteiligten verzweifelt, die Schuld auf andere zu schieben. Die alte Regierung, die immer noch geschäftsführend im Amt ist, hat die Arbeit vollständig eingestellt. Die Bundesländer, die durchgesetzt haben, dass sie die Hauptverantwortung für die Krisenbewältigung behalten, blieben ebenfalls weitgehend untätig oder lockerten die Maßnahmen, anstatt sie zu verschärfen.
Die Verantwortung trägt jetzt die Ampel
Dass Union und Länder die Verantwortung für die aktuelle Katastrophe der künftigen Ampel-Koalition zuschieben wollen, ist eine Dreistigkeit, die ihresgleichen sucht. Doch für das, was ab jetzt passiert, tragen SPD, Grüne und FDP tatsächlich die Verantwortung. Und leider deutet bisher wenig darauf hin, dass sie diese besser wahrnehmen als die alte Regierung.
Die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ ausgerechnet jetzt auslaufen zu lassen, ist ein falsches Signal und schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Länder ohne Not ein. Und die Art, wie Olaf Scholz nach dem jüngsten Bund-Länder-Treffen die Situation schönzureden versuchte, erweckt – gerade im Gegensatz zur verzweifelt wirkenden Noch-Kanzlerin – nicht den Eindruck, dass ihr wahrscheinlicher Nachfolger den Ernst der Lage wirklich erfasst hat.
Auch sonst gib es derzeit leider kaum Hoffnung, dass sich die Situation schnell bessert, denn die Politik hat wenig aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Die Booster-Impfungen kommen nur langsam voran, weil vielerorts die Impfzentren geschlossen wurden. Die Kinderimpfung wird trotz Zulassung im November erst im nächsten Jahr so richtig anlaufen, weil erst jetzt die Vorbereitungen dafür beginnen.
Die 3G- und 2G-Regeln sind weiterhin wenig wirkungsvoll, weil die Politik die Kritik an deren völlig mangelhafter Kontrolle lange komplett ignoriert hat. Mit der Hospitalisierungsinzidenz ist künftig ein Indikator entscheidend, der erst mit deutlicher Verzögerung und zudem unvollständig anzeigt, wie sich die Lage entwickelt. Und in den Schulen läuft der Unterricht trotz fehlender Schutzmaßnahmen und Rekordinzidenzen im Normalbetrieb weiter.
Bei allen Menschen, die die Bedrohung durch Corona ernst nehmen – und das ist die breite Mehrheit im Land –, sorgt dieses Versagen für Wut und Verzweiflung. Und es besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in den Staat dauerhaften Schaden nimmt. Verhindern lässt sich das – wenn überhaupt – nur, indem jetzt endlich auf jene Expert*innen gehört wird, die in der Krise bisher fast immer richtig lagen.
Ein erster Schritt sollte dabei sein, Karl Lauterbach zum Gesundheitsminister zu machen. Wenn die SPD diesen Fachmann, der die Krise so gut versteht und erklären kann wie kaum ein anderer, bei der Regierungsbildung übergeht, wäre das ein weiterer schwerer Fehler.
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