Corona-Politiker Karl Lauterbach im Porträt: Viel Pfeffer, kein Salz
Der Sozialdemokrat ist omnipräsent. Karl Lauterbach spricht auf allen Kanälen und kennt derzeit nur ein Thema: die Pandemie. Soll man auf ihn hören?
K arl Lauterbach ist sauer. Um das zu zeigen, muss der Mann nicht schimpfen und schäumen. Dafür reichen zwei Wörter: „verlorene Gelegenheit“. Gelegenheiten sollten nicht verloren gehen, findet der SPD-Politiker. So etwas darf schon gar nicht während einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben, passieren.
Die „verlorene Gelegenheit“ ist für den 57-jährigen sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten das Ergebnis des Coronagipfels von Bund und Ländern in der vergangenen Woche. Scharfer Lockdown, stärkere Einschränkungen im Privaten, Schulschließungen so wie im Frühjahr? Fehlanzeige. Dafür Appelle, Kontakte noch weiter zu reduzieren, ansonsten bleibt alles beim Alten.
Lauterbach sitzt in einem kargen Konferenzraum im nahezu menschenleeren Bundestag. Vor ihm auf dem Tisch eine Flasche Wasser, in seinem Gesicht eine Viren inaktivierende Livinguard-Maske, draußen die Dunkelheit eines Berliner Novemberabends. Es ist nicht so einfach, diesen Mann, den Twitter-User schon mal „Vollidiot“ nennen, in diesen Tagen zu treffen. Tagsüber der Job im Bundestag, Besprechungen mit der Kanzlerin, mit WissenschaftlerInnen. Nachts Studien lesen, auswerten, weitergeben. Nach dem Gespräch mit der taz wird er sich mit Christian Drosten treffen, dem – dank Corona – bekanntesten Virologen der Republik. „Ich habe es nicht eilig“, sagt Lauterbach. Doch je weiter der Abend voranschreitet, desto öfter gleitet sein Blick zur Wand auf eine Uhr.
Lauterbach spricht wie aufgezogen
Bevor er das mit der „verlorenen Gelegenheit“ noch mal genauer erklärt, holt er tief Luft und ruckelt an seiner Maske. Dann legt er los: hoher Inzidenzwert – jene Zahl, die besagt, wie viele Ansteckungen es in einer bestimmten Zeit gibt –, enorme Infektionsdunkelziffer, die Notwendigkeit, die Schulen am besten sofort wieder dicht zu machen. „Ansonsten brauchen wir, auch wenn wir so weitermachen wie bisher, noch einmal sechs bis sieben Wochen, bis sich etwas ändert.“ Das wäre dann im Januar. Und selbst danach könnten Bars, Restaurants, Hotels, Museen noch nicht wieder öffnen – weil es „dann wieder losgeht“.
Lauterbach spricht wie aufgezogen, die Sätze fallen förmlich aus seinem Mund, so, als hätte man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und die Infektionszahlen der vergangenen Wochen abgefragt. Corona – das ist Lauterbachs Thema, seit Monaten schon. Der Mann ist nicht nur Politiker, sondern auch Mediziner. Um genau zu sein: Epidemiologe, also jemand, der sich mit den Ursachen, der Verbreitung und den Folgen von Krankheiten beschäftigt. Wenn jemand – neben Sandra Ciesek, Christian Drosten, Hendrik Streeck und weiteren VirologInnen – etwas von diesem Metier versteht, dann ist es Karl Lauterbach. Deshalb äußert er sich seit März jeden Tag dazu, im Radio, in den „Tagesthemen“, im Bundestag, in Talkshows. Als gefühlter Dauergast sitzt er bei Anne Will, Lanz, Maischberger, Maybrit lllner, dort erklärt er, mahnt, rät. Man würde sich nicht mehr wundern, begegnete sich Lauterbach in einer der Runden selbst, so omnipräsent ist er.
Damit polarisiert Lauterbach. Da gibt es jene, die all das unterschreiben, was er sagt. Die sich an seine Vorgaben halten, seit Monaten kein Restaurant von innen gesehen haben und öffentliche Plätze meiden. Die komplett im Homeoffice arbeiten und mit anderen ausschließlich telefonieren, zoomen, skypen. Die sich in ihrem vorsichtigen Verhalten bestätigt fühlten, als die Infektionszahlen zu Herbstbeginn in die Höhe schnellten. Genau das nämlich hatte Lauterbach vorausgesagt: Sobald es kühler werden würde, würden sich mehr Leute anstecken. Seit Monaten warnt er vor Spätfolgen und unklaren Dauerschäden an Lunge, Nieren und Hirn, wenn das Virus den Körper erst einmal hart getroffen hätte.
Und da gibt es die anderen, die die Coronamaßnahmen für übertrieben halten. Die argumentieren, dass Covid-19 vor allem für Alte und Menschen mit Vorerkrankungen und Übergewicht gefährlich sei. Diese sollten besonders geschützt werden. Aber die vielen Millionen anderen? Für die Kritiker der drastischen Einschränkungen ist Lauterbach eine Spaßbremse und einer der größten Phobiker aller Zeiten. „Alarmsirene“ nannte ihn mal die Zeit, „liebenswerteste Kassandra“ taufte ihn die taz.
Fast alle seine Prognosen waren richtig
Das Problem ist: Lauterbach ist beides, Rechthaber und Spielverderber. Fast alles, was er prognostiziert und erklärt, ist auch eingetroffen: höhere Infektionszahlen im Herbst und Winter, Langzeitfolgen, die vielen Toten. Der Mangel an Klinikpersonal, bald fehlende Beatmungsbetten, hohe Inzidenzwerte über lange Zeiträume hinweg.
In all den Talkshows, Interviews und Gesprächen erklärt er das mit der ihm eigenen flachen Tonamplitude, meist ein wenig näselnd. Seine Tweets dazu kommen mit einer Dringlichkeit daher, die komplett humorlos ist. „Verbot Privatparties ohne Maske und Obergrenze Feier 50 Leute“, twitterte er im August. Einen Spiegel-Artikel, kommentiert er auf Twitter so: „Der Fall zeigt auch, wie gefährlich die Weihnachtsfeiern werden.“ Der Text berichtet von einer Hochzeit mit nur 55 Gästen, in deren Folge es 177 Infizierte, sieben Krankenhauseinweisungen und sieben Todesfälle gab.
Ein einziges Mal hatte er unrecht: Im Sommer warnte er davor, Läden und Restaurants zu früh zu öffnen, weil sich dann zu viele Menschen zu rasch infizieren würden. Passiert ist das nicht – und Lauterbach begründete das mit der frischen Luft, draußen sei das Infektionsrisiko nicht so groß. Nun ja, falsch ist das nicht.
Der Mediziner Karl Lauterbach, 56, wächst in einem katholischen Haushalt im Rheinland auf. Nach dem Studium in Aachen und den USA promoviert er 1991 zum Doktor der Medizin. Ein weiteres Studium der Gesundheitsökonomie folgt.
Der Professor 1998 wird er Direktor und Professor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) an der Uni Köln. Zehn Jahre später avanciert er zum Professor für Gesundheitspolitik und -management an der Harvard School of Public Health.
Der Politiker Nach dem Studium tritt Lauterbach zunächst in die CDU ein. Seit 2001 ist er SPD-Mitglied. 2005 wurde er erstmals per Direktmandat im Wahlkreis „Leverkusen – Köln IV“ in den Bundestag gewählt, er hat dieses Mandat seitdem immer verteidigt.
Die Karriere Von 2013 bis 2019 war Lauterbach Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion und dort zuständig für die Themen Gesundheit, Bildung und Forschung. 2019 scheiterte er zusammen mit Nina Scheer bei der Mitgliederabstimmung über den SPD-Vorsitz. (taz)
Lauterbach ist aber nicht nur umstritten in der Bevölkerung, er ist es auch in seiner eigenen Partei. Da geht es um Kompetenzstreitigkeiten, seine Medienpräsenz, die Anschlussfähigkeit seiner Thesen, sein Wesen an sich.
Nicht ganz spannungsfrei: Lauterbach und seine Partei
Um das zu verstehen, muss man ein wenig in seine jüngste politische Vergangenheit einsteigen. Als die SPD im vergangenen Sommer nach dem Rücktritt von Andrea Nahles als Parteichefin eine Nachfolge suchte, trat Lauterbach gemeinsam mit der Umweltpolitikerin Nina Scheer an. Die beiden waren eines von sechs Duos. Sie verloren, unter anderem weil sie sich scharf gegen die Große Koalition aussprachen, so vehement wie kein anderes Antrittsduo. Die meisten Sozialdemokraten empfanden den Angriff auf die Koalition, dessen Teil die SPD ja ist, als wenig hilfreich, um es mal vorsichtig zu formulieren. Nestbeschmutzung kommt selten gut an.
Im Zuge der Kandidatur gab Lauterbach, der seit 2005 ohne Unterbrechung per Direktmandat im Wahlkreis „Leverkusen – Köln IV“ in den Bundestag gewählt wurde, seinen Posten als gesundheitspolitischer Sprecher und auch den Vizefraktionsvorsitz ab. Damit war er nur noch ein ganz normales Fraktionsmitglied. Mit harten Einschnitten für ihn: Nach der Niederlage mit Nina Scheer war er weniger gefragt, hatte seltener öffentliche Auftritte und wurde unbedeutender. Es gibt Fraktionsmitglieder, die ihn damals hämisch „Hinterbänkler“ nannten.
Jene, die etwas Gutes über ihn sagen wollen, verweisen auf sein neues Styling: seit dem Wahldebakel keine Fliege mehr, eine andere Frisur. Beim Gespräch mit der taz fragt die Fotografin, was denn mit seinen Haaren los sei, warum so kurz. „In mein Haus ist ein Friseur eingezogen“, sagt Lauterbach und grient. Dann will er rasch drei, vier Fotos machen, für mehr hat er keine Zeit. Schließlich ist er zum Reden hier und nicht als Coverboy für ein Männermagazin.
Denn Lauterbach wäre nicht Lauterbach, würde er seine „neue Freiheit“ als einfaches Fraktionsmitglied nicht nutzen. Jetzt, so ohne Posten, kann er machen und sagen, was er will. Fraktionsräson? Muss er nicht mehr annehmen. Absprachen? Wozu denn noch? Als Corona Deutschland erreicht, prescht Lauterbach vor, mit eigenem Drehbuch, eigenem Tempo, eigenen Thesen. Kurz: als Karl Lauterbach in Hochform. Seitdem erklärt er die Coronasachlage – als Epidemiologe, vor allem aber als Sozialdemokrat.
Aber Moment mal, darf er das denn überhaupt? Er ist doch gar nicht mehr gesundheitspolitischer Sprecher seiner Partei? Das ist doch jetzt Bärbel Bas, die ihm 2019 auf dem Posten gefolgt ist. Stimmt. Aber die Krankenkassenbetriebswirtin kommt gegen die mediale Präsenz eines Lauterbach schlichtweg nicht an. Gegen die Fachkompetenz des Prof. Dr. Dr. sowieso nicht. Lauterbach riss das Gesundheitszepter (wieder) an sich – und hält es seitdem fest in seiner Hand. Eine Fraktionsmitarbeiterin beschreibt das so: „Am liebsten würde der Karl jeden Tag neben Merkel sitzen und sagen: Angela, komm, wir machen das jetzt mal, wir beide kriegen Corona schon in den Griff.“
Die Frau, die das sagt, möchte anonym bleiben. Da ist sie nicht die Einzige. Niemand möchte sich aktuell kritisch über Karl Lauterbach äußern. Das hat einerseits mit jener Parteiräson zu tun, die Lauterbach gerade verweigert. Und andererseits mit einer Art Dankbarkeit: Seien wir doch froh, dass wir in dieser unsicheren Zeit einen wie den Lauterbach haben. Mit ihm ist die SPD wieder präsent – und das weitgehend skandalfrei.
Das gefällt nicht allen. „Der Karl“ agiere doch komplett neben der Partei, erzählt ein anderer SPDler. Er nennt Lauterbach den „viruspolitischen Sprecher“. Das zeigt vielleicht, dass Lauterbach für seine Mission die Partei gerade nicht sonderlich braucht. Lauterbach selbst bestreitet das, er sagt: „Ich weiß nicht, ob ich gerade mehr Politiker oder Wissenschaftler bin. Aber ich agiere politisch. Als einer von vielen berate ich alle Ebenen der Politik.“ Die Kanzlerin, Vizekanzler Olaf Scholz, Gesundheitsminister Jens Spahn, solche Leute. „Das mache ich jeden Tag.“ Sein Blick, klar und standhaft über die Maske hinweg, scheint zu sagen: Noch Fragen?
Karl Lauterbach über Karl Lauterbach
Schon möglich, dass manche in der Fraktion und im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, den Mann um diese Selbstsicherheit und dieses Charisma beneiden. In Gesprächen mit Abgeordneten klingt das in Zuschreibungen wie „Karl der Solitär“, „was für eine Koryphäe“, „Superman“ durch. Darauf hat Lauterbach nur eine Antwort: „Jeder, der so viel arbeitet wie ich, wird Erfolg haben. Mir fällt nichts zu.“ Mit anderen Worten: Dann strengt euch gefälligst mehr an.
Damit bringt er sogar jene in der Partei gegen sich auf, die ihn gerade stärker als sonst verteidigen. Diese Lauterbach-Hybris, die jetzt noch gigantischer ist als sonst, stört auch sie.
Schwierig im Sozialverhalten
Menschlich habe Lauterbach in der Partei „keinen guten Ruf“ und den noch nie gehabt, erzählt eine weitere Frau aus den SPD-Reihen. Er gelte als arrogant, von sich selbst so dermaßen überzeugt, dass man von autistischen Zügen sprechen könne. „Schwierig im Sozialverhalten“, fasst die Frau zusammen: „Menschen mitnehmen, ihnen erklären, was man wie machen möchte, das kann der Karl nicht. Konnte der noch nie.“ Da sei beispielsweise die Sache mit dem Salz, an der könne man das am besten erklären.
Lauterbach isst seit 30 Jahren kein Salz, abgesehen von den Salzspuren, die in Fisch, Gemüse und Obst ohnehin enthalten sind. Mittlerweile wissen das alle in der Berliner Republik, und viele Sozialdemokraten können von einem „Salzerlebnis mit Karl“ berichten. Das geht ungefähr so: Man will zusammen essen gehen und freut sich auf ein Rumpsteak mit Pommes, bis Lauterbach sagt: „Du weißt schon, wie schädlich Salz ist?“
Abgeordnete erinnern sich, wie peinlich es sein könne, mit Lauterbach in Restaurants einzukehren, deren Personal ihn nicht kennt. Wenn er Pasta bestelle mit dem Zusatz: „Ohne Salz, bitte!“, schauten die Kellner pikiert. So, als habe man Coq au Vin bestellt und gefordert, die Soße solle keinen Rotwein enthalten. Auf einer Spargelhochzeit vor einigen Jahren in Brandenburg hat sich Lauterbach beim Koch ausbedungen, dass der für ihn den Spargel extra kocht. In der Hochzeitsgesellschaft machte das die Runde als „nette Schrulle“.
Salz hin oder her, seine eigene Gesundheit scheint Lauterbach recht zu geben. Er ist schlank, durchtrainiert und scheint auch sonst seinen Körper im Griff zu haben. Wenn andere nachts schlafen, liest er Studien: Corona-Impfstoffe, Langzeitfolgen, Immunitätszeiträume, Mehrfacherkrankungen. Drei, vier, fünf Studien pro Nacht. Am nächsten Tag erklärt und bewertet er sie in Tweets, in Statements, im Fernsehen. „Ich lese die Studien nicht, ich fresse sie regelrecht“, sagt Lauterbach, „das mache ich seit Jahrzehnten. Ich habe einen Vorteil: Ich bin sehr gut vernetzt mit Wissenschaftlern auf der ganzen Welt.“
Mit ihnen sei er täglich im Kontakt, erzählt er. Sie schreiben sich Mails, chatten und weisen sich auf Studien hin: Achtung, das Paper hier ist wichtig, bitte auf diese Passage achten und auf jenes Ergebnis. „Dann weiß ich schon, in welche Richtung es geht“, sagt er. Gerade diskutiere er mit seinen „Leuten“ eine Expertise der Havard University zu Mutationen. „Das ist total irre“, sagt er, „das geht alles so rasend schnell.“ Wie viele Coronastudien es gebe, könne man nicht mehr zählen, das sei ein „wahres Universum“. Wirklich wichtig seien aber nur etwa zehn, höchstens 15 Studien. Alles andere: Beifang.
Warum macht er das? Warum schlägt er sich die Nächte um die Ohren, hetzt von einer Talkshow zu nächsten, redet unermüdlich, setzt sich heftiger Kritik aus bis hin zu Morddrohungen? „Ich will, dass wir so unbeschadet wie möglich durch die Pandemie kommen“, sagt er. Und schaut dabei so eindringlich und fest, dass ein Zweifel an dieser Aussage nahezu unmöglich ist. „Ich wünsche mir vor allem, dass niemand in meinem näheren Umfeld, in meiner Familie erkrankt.“ Soweit es geht, hat er seine Kontakte eingeschränkt. Übrig geblieben sind sehr wenige familiäre Treffen und solche mit KollegInnen, mit Medienleuten.
Wenn er seine 85-jährige Mutter besucht, lässt er sich vorher testen. Später sitzen Mutter und Sohn auf der Terrasse, in dicke Decken eingewickelt. „So wird das auch Weihnachten sein“, sagt er, „kein Risiko.“
Aber es gibt Hoffnung. Lauterbach vertraut den potenziellen Impfstoffen von Biontech und Moderna. Möglicherweise kann in Kürze mit den Impfungen begonnen werden. Lauterbach sagt: „Eine große Erleichterung.“ Und wann ist das Drama Corona weitgehend vorbei? „Im nächsten Sommer.“ Die Wette gilt.
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