Wohnungslos trotz Job: Feierabend in der Notunterkunft
Immer mehr Erwerbstätige in den Städten können sich kein eigenes Zuhause leisten. Gibt es in Deutschland eine neue Form der „Working Poor“?
U m 7.30 Uhr macht Christian Schulz das erste Mal Feierabend. Zwei Stunden hat er an diesem Montagmorgen im Licht der Neonröhren die Parkgarage eines Einkaufszentrums gesäubert. Mit Laubbläsern hat er Zigarettenstummel, Plastikverpackungen und alles, was die Menschen hier in einer Woche fallen ließen, zu einem Haufen zusammengepustet. Er hat den Dreck in einen Sack gefüllt und in die große Mülltonne geleert. Jetzt parken die ersten Autos auf den grau gemusterten Steinen. Draußen steigt die Sonne über die Plattenbauten, es wird ein schöner Augusttag.
„Heute war wenig Schmutz“, sagt Schulz. In der schwarzen Arbeitsjacke der Reinigungsfirma und Turnschuhen steht er vor dem Einkaufszentrum in Berlin-Hohenschönhausen. Ein drahtiger 31-Jähriger mit Dreitagebart und auffallend grünen Augen. Er sieht etwas müde aus. Früher fertig werden ist gut. Und gleichzeitig schlecht. Denn weniger Arbeitszeit bedeutet weniger Geld. Schulz verdient 16,50 Euro die Stunde, für einfache Tätigkeiten wie die auf dem Parkplatz bekommt er 14,45 Euro. Bei zwei Stunden Arbeit lohnt es sich kaum, dafür um vier Uhr morgens aufzustehen.
Schulz geht über die Straße zur Haltestelle der Tram. Seine zweite Schicht beginnt erst um 15 Uhr, dann muss er sieben Stunden lang Glasscheiben und Fußböden putzen. Für die Zeit dazwischen fährt er nach Hause.
Wobei das mit dem Zuhause so eine Sache ist. Schulz ist seit September 2019 wohnungslos. Übergangsweise lebt er in einer Einraumwohnung der Caritas. Er arbeitet Vollzeit als Glas- und Gebäudereiniger, er verdient nicht schlecht. Doch eine eigene Bleibe findet er nicht.
Trotz Arbeit keine Wohnung – in dieser Situation ist nicht nur Christian Schulz. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe erhebt jedes Jahr Zahlen zu Wohnungslosen in Deutschland. Den aktuellen Bericht hat der Verband an diesem Donnerstag veröffentlicht. Demnach hat sich der Anteil der erwerbstätigen Wohnungslosen in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt: 2009 hatten 6 Prozent der Wohnungslosen in Deutschland einen Job. 2019 waren es bereits 11,7 Prozent. Eine Entwicklung, die VertreterInnen der Wohnungslosenhilfe aus verschiedenen Regionen Deutschlands im Gespräch bestätigen.
Leistung muss sich lohnen, heißt es oft. Was aber, wenn das nicht stimmt, wenn man arbeitet und trotzdem kein gutes, eigenständiges Leben führen kann? Aus den USA kennt man Geschichten von Leuten, die mehrere Jobs haben und im Wohnwagen leben müssen. Gibt es inzwischen auch in Deutschland diese Form der „Working Poor“?
In der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs frühstückt Leon Kouamé an einem Mittwochmorgen im August. Er sitzt an einem Biertisch und pellt sich zum Brötchen ein Ei. Von der Hektik der Großstadt ist hier, auf der Terrasse der Unterkunft der Stadtmission, nichts zu spüren. Sie geht nach hinten, ins Grüne. Ein bisschen heile Welt im Leben von Menschen, bei denen wenig heil ist.
Kouamé ist ein kräftiger Mann in Poloshirt und Jeans. Eine Stunde hat er Zeit für das Gespräch, dann muss er los. Wie Schulz arbeitet auch Kouamé Vollzeit. Er ist Finanzberater bei einer Firma in Potsdam.
Leon Kouamé, Finanzberater
Kouamé kam mit 18 Jahren von der Elfenbeinküste zum Studium nach Deutschland, heute ist er 45. Er sei immer zurechtgekommen, erzählt er. Bis zum März dieses Jahres: Da verlor er seine Wohnung. Er hatte nur einen Untermietvertrag und war mehrere Monate auf Dienstreise in Westafrika. Er habe regelmäßig seine Miete überwiesen, zuletzt 400 Euro für 35 Quadratmeter in Berlin-Wedding, sagt er. Der Brief, in dem stand, dass das Haus verkauft wurde, erreichte ihn nicht. Als er von der Dienstreise zurückkam, musste er sofort ausziehen, erzählt er. „Ich stand da. Es war kalt. Wo sollte ich so plötzlich wohnen?“
Sein damaliger Chef habe ihm die Wohnung vermittelt, ihm aber nichts von dem Verkauf des Hauses gesagt, erzählt Kouamé. Er war so sauer, dass er den Job kündigte.
Kleidung, wichtige Papiere und seinen Laptop behielt er bei sich, für den Rest seiner Sachen mietete er für 150 Euro im Monat einen Lagerraum an. Er schlief zunächst in Hostels und Hotels. Das war teuer. „Ich dachte: Wenn ich so weitermache, habe ich bald gar nichts mehr.“ Über das Internet fand er jemanden, der ein Zimmer zur Untermiete anbot, allerdings ohne Vertrag. „Der hat das Geld kassiert, das Zimmer aber an noch jemanden vermietet“, erzählt er. Kouamé hat drei erwachsene Töchter. Auch zu ihnen wollte er nicht, sagt er, sie hätten ihr eigenes Leben und wohnten nicht in Berlin.
„Ohne Wohnung fühlt man sich wie ein Untermensch. Als hätte man seinen Wert verloren“, sagt Kouamé. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass er alleine nicht mehr weiterkommt. Schließlich gab er sich einen Ruck und wandte sich an die Stadtmission. So erzählt er es. Er habe zu sich selbst gesagt: „Ich bin Katholik, ich zahle immer Kirchensteuer. Dann ist es okay, wenn sie auch mal was für mich tun.“
Kouamé schrieb Bewerbungen, er wollte schnell wieder arbeiten. Aber welche Adresse sollte er angeben? Er hatte ja keine. Schließlich richtete er ein Postfach ein. Seit April arbeitet er bei der Firma in Potsdam, die Projekte in Afrika mit Krediten finanziert.
Sowohl Christian Schulz als auch Leon Kouamé heißen in Wirklichkeit anders. Sie hätten auf dem Wohnungsmarkt noch schlechtere Chancen, wenn jeder sofort ihre Geschichte googeln könnte. Kouamé will auf keinen Fall erkennbar sein. Schulz muss über die Anonymisierung nachdenken. „Die Wohnungslosigkeit ist nichts, wofür ich mich schämen muss“, sagt er. Er will dazu stehen, wenn nicht mit dem Namen, dann mit Foto.
Für den Jahresbericht der BAG Wohnungslosenhilfe stellten 223 Einrichtungen Daten ihrer KlientInnen zur Verfügung. Sie gehören zu freien Trägern, staatliche Anlaufstellen werden nicht erfasst. Genauere Zahlen gibt es bislang nicht. Die Bundesregierung will eine offizielle Wohnungslosenstatistik erheben, startet damit jedoch erst im Januar 2022.
An den Zahlen der BAG Wohnungslosenhilfe kann man vieles ablesen. Etwa, dass heute mehr Menschen mit Migrationshintergrund unter den Wohnungslosen sind als früher. Seit 2014 haben EU-BürgerInnen aus Rumänien und Bulgarien das Recht, sich in Deutschland Arbeit zu suchen, das merkt man in den Einrichtungen. Seit 2015 kommen auch Flüchtlinge. Die Zahlen zeigen zudem, dass mehr Frauen und Familien wohnungslos sind.
Und eben, dass mehr als jeder zehnte Wohnungslose inzwischen einen Job hat. Im aktuellen Jahresbericht widmet der Verband Menschen wie Schulz und Kouamé ein eigenes Kapitel. Vor allem die Wohnungslosen, die im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, seien mehr geworden. Der Bericht zeige „die alarmierende Realität in Deutschland“, sagt Werena Rosenke, die Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe, der taz. „Nicht einmal mehr eine Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt kann einem Menschen das Recht auf Wohnen garantieren.“
Auch wenn die Zahlen nur einen Teil aller Einrichtungen erfassen, so zeigen sie doch eine Entwicklung auf, die für viele Städte zutrifft. Ein Sprecher des Katholischen Männerfürsorgevereins München berichtet, dass der Träger bereits seit den fünfziger Jahren eine Unterkunft anbietet für Menschen, die arbeiten, aber keine Wohnung haben. Weil die Nachfrage so gestiegen sei, hätten sie in diesem Frühjahr eine zweite Unterkunft für erwerbstätige Wohnungslose eingerichtet, mit mehr als 80 Apartments.
Dariusz Sasin vom Berliner Unionhilfswerk leitet seit 2008 ein Wohnheim für Wohnungslose in Berlin-Wedding. Er sagt: „Als ich anfing, lebten hier vor allem alleinstehende ältere Männer mit einer Neigung zum Alkohol. Von denen hatte keiner einen regulären Job.“ Nach und nach seien auch Paare und Familien bei ihm untergekommen, EU-AusländerInnen, die so lange hier arbeiteten, dass sie Anspruch auf Sozialleistungen hatten. Heute haben etwa ein Zehntel der rund 100 Menschen im Wohnheim einen Job, schätzt Sasin. „Viele arbeiten im Reinigungsgewerbe oder als Bauarbeiter.“
Empfohlener externer Inhalt
Sasin erzählt von einer türkischstämmigen Alleinerziehenden, die beim Bäcker jobbt, wenn das Kind in der Schule ist. Von einem Mann mit Minijob in der Altenpflege. Sasin sagt: „Die meisten sind Hilfskräfte. Keiner von denen, die gerade hier wohnen, arbeitet voll.“ Das würde sich auch nicht lohnen: Je mehr sie verdienen, desto mehr müssen sie sich an den Wohnheimkosten beteiligen.
Dass es gerade in den Städten zu wenige Wohnungen für Menschen mit geringen Einkünften gibt, ist ein bekanntes Problem. Aber inzwischen finden nicht mal mehr die eine eigene Bleibe, die Vollzeit arbeiten. Mit dem verbreiteten Bild von Obdachlosen, die alkohol- oder drogenabhängig sind und ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen, haben sie nichts gemein – außer dass auch ihnen eine Wohnung fehlt.
Leon Kouamé, der Finanzberater aus Berlin, hat Ökonomie studiert und Informatik. So erzählt er es. „Wenn man in dem Bereich arbeiten will, kann man arbeiten.“ Er habe das immer auch als seine Pflicht empfunden. „Man muss sich integrieren. Als Gast habe ich das akzeptiert.“
Französisch ist seine Muttersprache, er spricht zudem Deutsch und Englisch. Früher habe er für eine Versicherung in Süddeutschland gearbeitet, erzählt Kouamé. Heute, bei der Firma in Potsdam, verdiene er netto 1.400 Euro. Er arbeite auch samstags, weil er eh nicht wisse, was er am Wochenende ohne Wohnung machen soll. „Sonntags arbeite ich nicht, ich bin Christ.“
Während des Gesprächs auf der Terrasse der Stadtmission rührt Kouamé Brötchen und Ei kaum an, er erzählt die ganze Zeit. „Ich rede gerne. Das werde ich auch die nächsten neun Stunden tun“, sagt er und lacht. „Das ist mein Job.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Bevor er zum Bahnhof geht, muss er noch mal rauf in sein Zimmer, seinen Rucksack holen. Kouamés großer schwarzer Rollkoffer steht direkt vor seinem Bett. Das Laken ist verrutscht, man sieht den blauen abwaschbaren Gummiüberzug der Matratze. Seinen Laptop, die Klamotten und Papiere lässt er hier, Geld und Pass nimmt er immer mit.
Kouamé muss sich das Zimmer mit einem anderen Mann teilen. Kaum zwei Meter trennen sein Bett von dem seines Mitbewohners. Der ist gerade unterwegs. „Ein Junkie“, sagt Kouamé. Wenn er Drogen genommen habe, sei er nicht ansprechbar. Der Mann habe eine offene Wunde am Bein. „Und er riecht wie ein Teufel“, sagt Kouamé. Aber er könne sich schlecht beschweren, schließlich brauche er selbst Hilfe. Er eilt die Treppe hinunter, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen.
Christian Schulz muss sich die Wohnung der Caritas mit niemandem teilen. Sie liegt in Berlin-Hohenschönhausen, nur ein paar Tram-Stationen vom Einkaufszentrum entfernt, dessen Parkplatz er am Morgen gereinigt hat. Schulz steigt in den Fahrstuhl, im 7. Stock bewohnt er 29 Quadratmeter, ein Zimmer samt Küche und Bad. Die Caritas hat ihm ein Klappsofa, einen Ikea-Schrank und einen Tisch mit zwei Stühlen zur Verfügung gestellt. Er selbst hat Regale gekauft, einen Fernseher und Zimmerpflanzen. Die Wände sind kahl, bis auf ein knalliges Pop-Art-Bild mit Albert-Einstein-Motiv. Freunde haben es ihm geschenkt. „Das ist bunt, crazy, das passt zu mir“, sagt er.
In seiner alten, seiner eigenen Mietwohnung hatte er die Wände rot gestrichen, das darf er hier nicht. Für die Küche konnte er sich eine Tapete aussuchen, immerhin. Es sieht jetzt so aus, als bedeckten dort dunkle Steine die untere Hälfte der Wände.
Christian Schulz hat eine Ausbildung zum Glas- und Gebäudereiniger gemacht, später auch das Fachabitur an der Abendschule. Für seine Mutter, wie er sagt. „Ich wollte ihr beweisen, dass ich das kann. Sie ist Elektroingenieurin.“ Er hat auch einen Kletterschein. Als Industriekletterer seilte er sich von außen an Gebäuden ab, etwa am Potsdamer Platz, um die Fenster zu putzen. „Da hat man Ausblicke über Berlin, die bekommt keiner sonst zu Gesicht.“ Schon damals arbeitete er Vollzeit, verdiente gut, um die 2.000 Euro netto, erzählt er.
Im Winter konnte Schulz diesen Job allerdings nicht machen, für drei Monate wurde ihm jedes Jahr witterungsbedingt gekündigt. Er sparte nicht, jobbte oder verreiste in der Zeit. Und er häufte Mietschulden an, die er im Sommer wieder beglich. Schulz lebte im Plattenbau einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft im Osten Berlins, er zahlte zuletzt 435 Euro für 59 Quadratmeter, sagt er. Die Wohnungsbaugesellschaft drohte schon 2017 mit einer Räumung. Als Schulz der Job dauerhaft gekündigt wurde und er die Mietschulden nicht begleichen konnte, setzte sie die Räumung durch.
Er habe damals noch einen Minijob als Fensterputzer gehabt, von dem Geld habe er gerade so leben können, sagt Christian Schulz. Doch dann klappte etwas nicht beim Antrag auf Arbeitslosengeld. „Ich dachte, das Amt zahlt die Miete, das hat es aber nicht gemacht.“ Die Wohnungsbaugesellschaft habe ihm versprochen, sich mit dem Jobcenter in Verbindung zu setzen, aber auch das sei nicht passiert, erzählt er.
Am 6. September 2019 musste Schulz seine Wohnung verlassen. Er erinnert sich genau an diesen Tag. „Ich musste die Möbel, Fotos und alles zurücklassen. Ich hatte keinen Ort, wo ich das hätte hinbringen können.“ Er habe Kartons gepackt, die Wohnung gereinigt und sich dabei betrunken. Nur ein paar Klamotten, die Zeugnisse und seinen Gesellenbrief nahm er mit. Und zwei Plattenspieler, Schulz legt in seiner Freizeit als DJ auf. „Ich habe einen Brief geschrieben, dass ich mich irgendwann für die Aktion rächen werde.“ Den ließ er liegen, schloss ab und ging.
Man merkt im Gespräch, dass Schulz all das noch heute zu schaffen macht. Er habe seine Mutter um Hilfe gebeten, bei ihr ist er aufgewachsen. Aber die sei der Meinung gewesen, er müsse das alleine regeln. Seitdem hat er keinen Kontakt mehr zu ihr. „Ich finde ihre Haltung falsch. Ich hätte abrutschen können.“ Diese Angst begleitet ihn noch immer. Menschen, die Obdachlosenzeitungen verkauften, schaue er heute anders an als früher, sagt Schulz. „Vielleicht ist denen das Gleiche passiert wie mir.“
Als er im Herbst 2019 auf der Straße stand, nahmen ihn seine Freunde auf. Über ein Jahr schlief er mal hier, mal da auf der Couch. „Man weiß nicht, ob man erwünscht ist oder nicht, man hat keinen Rückzugsort“, sagt er. Ein Paar mit Kind, bei dem er oft übernachtete, hatte seinetwegen Streit, das wollte er nicht. Einen Job hatte er zu der Zeit längst wieder, er reinigte Fensterscheiben am Bundestag. Er suchte nach einem WG-Zimmer oder einer Wohnung, fand aber nichts. Es sei ihm schlecht gegangen, sagt er. „Ich war gebrochen.“
Seine Freunde stellten schließlich den Kontakt zur Caritas her. Im November 2020 konnte er die Wohnung im 7. Stock beziehen, 430 Euro zahlt er dafür. Ein Sozialarbeiter hilft ihm, seine Papiere in Ordnung zu bringen. Die Wohnung ist eine Übergangslösung. Von hier aus soll er eine eigene Bleibe finden.
Im Februar wurde Schulz wieder gekündigt, seine Firma bekam wegen Corona weniger Aufträge. Im April hatte er etwas Neues. Putzen macht ihm Spaß. Er sagt: „Man sieht beim Reinigen den Unterschied und oft den zufriedenen Kunden.“
Hört man Leon Kouamé und Christian Schulz zu, wird schnell klar, dass die Arbeit nicht ihr Problem ist. Jobs gibt es viele, sie können sie sich aussuchen. Auch verdienen sie nicht schlecht.
„Der Arbeitsmarkt hat sich aufgehellt. Das wurde auch durch Corona nicht grundlegend erschüttert“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung am Telefon. Er forscht zu Einkommens- und Vermögensverteilung. Zwischen 2013 und 2019 stiegen die Bruttolöhne in Deutschland im Schnitt um etwa zehn Prozent. Davon profitierten auch Menschen mit niedrigen Löhnen. „Die Einführung des Mindestlohns hat die schlimmsten Auswüchse eingedämmt“, sagt Grabka. „Die Lohnungleichheit geht seit Jahren zurück.“ Minijobs seien weggefallen, der Niedriglohnsektor schrumpfe.
Demnach müsste es nicht mehr, sondern eher weniger „Working Poor“ in Deutschland geben. Nur: Was hilft es, wenn man leicht Jobs findet und auch die Löhne steigen, man für sein Geld aber keine Wohnung mieten kann? Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird überlagert von den Problemen auf dem Wohnungsmarkt.
Wie schwerwiegend die sind, zeigt die kürzlich veröffentlichte Studie eines Forschungsteams um den Stadtsoziologen Andrej Holm von der Berliner Humboldt-Universität. Eigentlich sollten Haushalte nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Die WissenschaftlerInnen aber stellten fest: Jeder vierte Haushalt in deutschen Großstädten wendet mindestens 40 Prozent des Einkommens für Wohnkosten auf, 12 Prozent der Haushalte geben sogar mehr als die Hälfte für die Miete aus.
Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Die Schwelle lag für Einzelpersonen im vergangenen Jahr bei 1.074 Euro. Will man jedoch abbilden, wie es den Menschen wirklich geht, müsste man die steigenden Wohnkosten mitberücksichtigen.
Vor allem kleine und günstige Wohnungen fehlen, schreiben die StadtsoziologInnen in ihrer Studie. „Am größten sind die Versorgungsdefizite in den Millionenstädten Berlin, Hamburg, München und Köln.“ Aber auch in kleineren Städten überschreite der Bedarf an bezahlbaren Wohnungen das Angebot deutlich.
Wer wie Schulz und Kouamé einmal die Wohnung verloren hat und keine deutlich höhere Miete zahlen kann, kommt schlicht nicht mehr rein in den Wohnungsmarkt. Immer mehr Menschen verzweifelten deshalb, sagt auch Kai-Gerrit Venske. Er ist bei der Caritas Berlin seit vielen Jahren Fachreferent für die Wohnungslosenhilfe. „Die Wohnungsnot und der Wohnraumverlust erreichen zunehmend auch die Mittelschicht.“ Sogar ein Arzt habe sich nach einer Kündigung wegen Eigenbedarfs schon an die Stelle gewandt, weil er kurzfristig keine neue Wohnung fand.
Markus Grabka, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Wohnungslosigkeit betrifft deutlich mehr Menschen als die, die am Ende in den Hilfseinrichtungen ankommen. Viele, die ihre Wohnung verlieren, versuchen, sich selbst zu helfen und werden deshalb nirgends erfasst. Sie schlafen bei FreundInnen und Familie. Manche ziehen in Kleingärten oder, wie man es aus den USA kennt, in einen Wohnwagen. Ein Job schützt nicht länger vor diesem Schicksal.
„Ein großes Gerechtigkeitsproblem“
Eine Wohnung mieten zu können, wird vielerorts zum Luxus. Gleichzeitig werden die, die eine Wohnung besitzen, reich, ohne viel zu tun. Sie müssen nur abwarten. Denn nicht nur die Mieten sind gestiegen, auch die Immobilienpreise haben sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht. „Eine Eigentumswohnung in städtischen Regionen kann man sich nur noch mit einer Erbschaft oder Schenkung kaufen. Mit normalen Löhnen geht das so gut wie gar nicht mehr“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die bittere Botschaft dahinter sei: Du kannst dich als arbeitender Mensch anstrengen wie du willst, du wirst nicht auf einen grünen Zweig kommen. „Da haben wir in der Gesellschaft ein großes Gerechtigkeitsproblem“, sagt Grabka.
Leon Kouamé darf bis Ende August in der Unterkunft der Stadtmission bleiben. Dann müsse er raus, andere Wohnungslose benötigten seinen Platz, sagt er. Was danach kommt, weiß er nicht. Er sucht im Internet nach Wohnungen, was für ihn noch schwerer ist als für andere. Einen deutschen Pass hat er nicht, seine Aufenthaltsgenehmigung gilt nur bis nächsten Sommer. Viele wollten an Schwarze nicht vermieten, so seine Erfahrung.
Auch Christian Schulz schaut täglich auf Immoscout nach Mietangeboten. Er schätzt, dass er 25 bis 30 E-Mails geschrieben hat. „Ich habe nie auch nur eine Antwort bekommen.“ In Berlin wird ein Teil der Wohnungen von städtischen Gesellschaften für Wohnungslose vorbehalten. Auf dieses sogenannte geschützte Marktsegment hofft er.
Man könnte meinen, dass Wohnungslose wütend werden, weil sie kaum eine Chance auf ein Zuhause bekommen. Doch davon spürt man in den Gesprächen nicht viel. Dariusz Sasin vom Wohnungslosenheim in Berlin-Wedding sagt, seine Klienten erlebten das als höhere Gewalt. „Viele haben sich damit abgefunden.“
Christian Schulz sieht in der Erfahrung der Wohnungslosigkeit sogar etwas Gutes. „Ich bin jetzt minimalistischer. Ich weiß, was ich wirklich brauche zum Leben“, sagt er. Sein Traum wäre es, mit einem Tiny House auf Rädern durch Deutschland zu fahren und immer da zu leben und arbeiten, wo es ihm gefällt.
Leon Kouamé sagt auf dem Weg zum Bahnhof, beim Überqueren der Straße: „Ich war fast ein Kind, als ich nach Deutschland kam. Gott hat mich beschützt.“ Dadurch habe er alles erreicht. „Mein Glaube gibt mir Zuversicht, dass ich wieder eine Wohnung finde, eine Adresse habe und Mensch sein kann.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen