Wohnen in Schrebergärten: Grün, bezahlbar, illegal
In Großstädten fehlt Wohnraum. Einige Pächter*innen leben deshalb mittlerweile in ihrer Kleingartenlaube – trotz Verbot. Sollte man sie lassen?
W enn die Dämmerung einsetzt, gehen in der Kolonie Eichengrund nach und nach die Lichter an. Hinter 1,25 Meter hohen Hecken leuchtet es heimelig gelb aus den Fenstern der Lauben. In kleinen Wohnzimmern hängen große Bildschirme, ihr Flackern wirkt in der ruhigen Kleingartenanlage seltsam hektisch. Während es draußen dunkel wird, sitzen in einem Anbau Menschen zusammen um einen Tisch, Abendessenszeit. Die Luft ist frisch. Hier und da riecht es nach Holzofen. Eine Idylle in Miniaturformat?
Eigentlich sollten sich an diesem Dienstagabend im November – 8 Grad, trocken – nur vereinzelt Leute in der Kleingartenanlage im Süden Berlins aufhalten. Die Gartensaison ist vorbei. In mehreren Nächten gab es Frost, die PächterInnen müssten ihre Hütten und Pflanzen längst winterfest gemacht haben. Doch in der Kolonie Eichengrund wird weiter gewerkelt, gekocht, Alltag gelebt. Das sieht man, besonders abends. Man muss nur die geraden Wege entlangspazieren.
Auch bei Sabine Kügler brennt Licht. „Eine Handvoll ist im Winter nicht da, aber alle anderen wohnen hier“, sagt sie. Die 53-Jährige arbeitet als Altenpflegerin, an diesem Dienstag ist sie zu Hause. Ihr Zuhause, das ist die weiße Laube von 37 Quadratmetern. „Die Mieten in Berlin sind so hoch inzwischen. Viele hier können sich keine Wohnung leisten.“
Kügler selbst hat Schulden. Sie ist aus ihrer Wohnung geflogen und teilt sich nun das Gartenhaus mit ihrem ehemaligen Partner Thomas. Sie streiten viel. Er schläft im Wohnzimmer auf dem Sofa, sie auf dem Dachboden. Eine Notlösung. Und trotzdem sagt Kügler: „Ich lebe sehr gerne hier.“
Es wird nicht statistisch erfasst, wie viele Menschen in Deutschland in Kleingärten wohnen. Offiziell ist es verboten: Im Bundeskleingartengesetz steht, es sei nur „eine Laube in einfacher Ausführung“ zulässig, sie dürfe „nach ihrer Beschaffenheit, insbesondere nach ihrer Ausstattung und Einrichtung, nicht zum dauernden Wohnen geeignet sein“.
Zur Mietenentwicklung gibt es dagegen Zahlen genug: Wer 2018 in Berlin eine Wohnung suchte, musste doppelt so viel bezahlen wie zehn Jahre zuvor. Die Angebotsmiete lag im Schnitt bei 11,09 Euro kalt pro Quadratmeter, 2008 waren es noch 5,59 Euro. Es fehlt an Wohnraum, vor allem für Menschen mit wenig Geld.
Sabine kügler, kleingärtnerin
Auch die Kleingärten hat die Mietendebatte längst erreicht. Die Grundstücke, die meist der öffentlichen Hand gehören, könnte man schließlich mit Wohnhäusern für viele bebauen, statt sie einigen wenigen zum Gärtnern zu überlassen.
Aber ist das wirklich nötig? Was, wenn die Menschen in den Kleingärten nicht nur gärtnern, sondern auch legal wohnen dürften? In Berlin gibt es rund 71.000 Parzellen, auf denen Lauben stehen. Auf einen Schlag hätte man viele Tausend verfügbare Unterkünfte mehr in der Stadt – und die Gärten blieben trotzdem erhalten. Auch in Hamburg und Leipzig, Frankfurt und München gibt es Zehntausende Kleingärten. Jeder Gärtner, der seine Wohnung aufgibt und in die Laube zieht, würde Platz machen für andere.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.
„Wohnmodelle in Kleingärten sollten nicht behindert, sondern gefördert und weiterentwickelt werden“, schrieb Gastautorin Niña Boschmann im August in der taz. „Es fühlen sich alle wohl hier“, sagt auch Kleingärtnerin Sabine Kügler. „Wir verstehen nicht, warum wir nicht offiziell hier wohnen dürfen. Tiny Houses sind ja auch erlaubt.“
Warum also werden die Vorschriften nicht geändert? Ist das Bundeskleingartengesetz, das das Wohnen in den Lauben bislang verbietet, noch zeitgemäß?
Kügler würde gerne bleiben
Dienstagmittag in der Kolonie Eichengrund. Kügler setzt in der Küche einen Tee auf. Es ist eng und etwas chaotisch hier drinnen, aber gemütlich. Die Möbel wirken zusammengewürfelt, ein rotes Regal, weiße Hängeschränke. Herd, Spülmaschine, nichts fehlt. Auf der Fensterbank trocknet Salbei. Vorhin hat Kügler das Feuer im Ofen angeschürt, mit Holz, jetzt legt sie ein paar Kohlebriketts nach.
Sabine Kügler, ihr ehemaliger Partner Thomas und die Kolonie Eichengrund heißen in Wirklichkeit anders, auch weitere Angaben sind geändert. Würde bekannt, wo Kügler wohnt, würden die Behörden möglicherweise eingreifen und die Menschen aus ihren Lauben werfen. Für die Betroffenen wäre das fatal, viele haben keine andere Bleibe.
Im Herbst 2017 lebte Kügler noch in einer großen, hellen Wohnung. Sie arbeitete viel und verdiente gut. Dann verkrachte sie sich mit ihrem Chef, wurde gekündigt. Weil sie keine Rücklagen hatte, habe sie das Geld für die Miete bald nicht mehr aufbringen können, erzählt sie. Kügler, eine drahtige Dunkelhaarige, hat früher Leistungssport gemacht, sie kann zäh sein. Als jedoch auch noch ihre Mutter starb, brach sie zusammen. „Da ging nichts mehr“, sagt sie.
Der Arzt attestierte ihr Depressionen und Panikattacken, sie selbst spricht von Burnout. Kügler verkaufte das Auto, gab das Motorrad in Zahlung, verschuldete sich. Aber es reichte nicht. Im Frühjahr zog sie zu Thomas, von dem sie sich eigentlich getrennt hatte, in die Laube. Kügler legt die Jahresabrechnung auf den Küchentisch. Hier zahlen sie zusammen nicht mal 1.000 Euro im Jahr für die Pacht und die Nebenkosten.
Inzwischen arbeitet Kügler längst wieder. 5.000 Euro Schulden habe sie noch, die will sie nach und nach zurückzahlen, sagt sie. Mit der Wohnungssuche hat sie gar nicht erst angefangen. „Ich habe ja einen Schufa-Eintrag und gar kein Geld für die Kaution.“ Außerdem gefällt es ihr im Kleingarten. Sie würde hier gerne wohnen bleiben. Wenn nur Thomas nicht wäre.
Schon jetzt dürfte ein guter Teil der Berliner Lauben bewohnbar sein. Strom haben die meisten der knapp 900 Kleingartenanlagen der Stadt. In der Kolonie Eichengrund stellen sie das Wasser auch im Winter nicht ab, die Leitungen liegen tief genug in der Erde. In wie vielen Kolonien das so ist, kann der Landesverband der Gartenfreunde nicht abschätzen.
Küglers Laube verfügt über je eine Abwassergrube für Küche und Bad. Alle drei Monate müssen sie geleert werden. Ob es nicht auffällt, wenn die Gruben auch im Winter voll sind? Kügler winkt ab. „Das interessiert keinen.“ Laut staatlicher Verwaltungsvorschrift sind „ortsfeste Heizungsanlagen“ in den Lauben verboten. Viele PächterInnen haben dennoch einen Ofen. Kügler sammelt das ganze Jahr über Holzreste und stapelt sie außen an der Hauswand. Kohlen kauft Thomas im Baumarkt. Wenn es so mild ist wie an diesem Dienstag, lässt sie sogar die Haustür offen, im Wollpulli friert sie trotzdem nicht.
Wer illegal in einer Laube lebt, braucht eine offizielle Adresse. Kügler hat sich in der Einzimmerwohnung eines Bekannten gemeldet, dort holt sie regelmäßig die Post ab. Sie würde diese Heimlichtuerei gern beenden und legal im Garten wohnen. Aber damit spricht sie nicht für alle Kleingärtner.
Auf eine Anfrage beim Landesverband Berlin der Gartenfreunde, in dem die meisten Kleingartenvereine der Stadt organisiert sind, findet Vorstand Michael Matthei auch nach mehreren Tagen keine Zeit für ein Gespräch, weder bei einem Treffen noch am Telefon. Seine beiden Vertreter sind ebenfalls nicht ans Telefon zu bekommen. „Schwieriges Thema“, sagt eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle.
Schließlich erbarmt sich Marion Kwart, die sich bei den Berliner Gartenfreunden um Medienanfragen kümmert und selbst Vorsitzende eines Kleingartenvereins ist. „Wir pflegen die Natur, dafür zahlen wir eine geringe Pacht und haben einen Kündigungsschutz“, sagt sie. Würde das Wohnen in den Lauben legalisiert, ginge auch der Pachtzins hoch, die Vergünstigungen für KleingärtnerInnen stünden infrage. Kwart sagt: „Wenn man das umsetzt, sind wir weg.“ Auch eine andere Verbandsvertreterin warnt: Ein solcher Vorstoß wäre eine „Katastrophe“.
„Kleingärtner wollen primär Sicherheit“ ist eine Pressemitteilung der Gartenfreunde vom Oktober überschrieben, in der es um die Frage geht, ob das Bundeskleingartengesetz noch zeitgemäß ist – allerdings in Bezug auf andere Vorgaben: Bislang gilt für Kleingärten, dass Lauben nicht größer als 24 Quadratmeter sein dürfen und ein Drittel der Gartenfläche für den Anbau von Obst, Gemüse oder Kräutern genutzt werden muss. Der Verband der Gartenfreunde warnt vor den Risiken, wenn man diese Regelungen lockern wollte. Würde man das Gesetz novellieren, böte das die Grundlage, „das Kleingartenwesen abzuschaffen“.
Spricht man mit KleingärtnerInnen, dann wird ein Widerspruch deutlich: Die meisten wissen, dass manche in ihren Lauben auch wohnen. Legalisieren wollen das viele trotzdem nicht. Gerade bei den VerbandsvertreterInnen klingt es so, als sei das Bundeskleingartengesetz ein sehr empfindliches Gebilde, das, tippt man es nur an, zusammenzubrechen droht.
Um zu verstehen, wie es zum System der Kleingärten kam, muss man sich ihre Geschichte ansehen. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden in Norddeutschland die ersten „Armengärten“. Die Bevölkerung war sprunghaft angewachsen, ohne dass die Wirtschaft mitzog. Die Menschen litten Not. Landesherren, aber auch Kirchen und Stadtverwaltungen verpachteten die Grundstücke für wenig Geld an Arme, damit sie Obst und Gemüse anbauen konnten.
In Leipzig hatte der Arzt Moritz Schreber die Idee, für kränkelnde Kinder von Fabrikarbeitern Plätze auszuweisen, wo sie an der frischen Luft spielen konnten. Nach seinem Tod legte ein nach ihm benannter Verein eine Spielwiese an, im Jahr 1867 wurden drum herum Gemüse- und Blumenbeete gepflanzt, der erste Schrebergarten. „Das waren sozialreformerische Ansätze“, sagt Hanna Hilbrandt, die an der HafenCity Universität Hamburg über Geschichte und Theorie der Stadt forscht.
Kleingärten halfen nach Kriegen
In Berlin sind die Kleingärten untrennbar mit den Problemen der schnell wachsenden Industriemetropole nach 1870 verbunden. Überbelegte Mietskasernen und enge Hinterhöfe prägten das Leben der ArbeiterInnen. Grundeigentümer verpachteten die Kleingärten zur Zwischennutzung ihrer Flächen. Die Verträge waren befristet, die Pacht richtete sich nach dem Markt. Als Gegenmodell zur kommerziellen Verpachtung verstand sich die Pflanzerbewegung: BürgerInnen setzten auf brachliegenden Restgrundstücken vor allem Kartoffeln zur Selbstversorgung. Damals kamen auch die Eisenbahnergärten links und rechts der Gleise auf, die es teils immer noch gibt.
Als mit dem Ersten Weltkrieg die Pachten explodierten, griff der Staat ein: 1919 wurde die „Kleingarten- und Kleinpachtlandordnung“ beschlossen. Sie schuf erstmals Rechtssicherheit für die KleingärtnerInnen, der Pachtzins wurde festgesetzt. Das ist bis heute so: Als Pachtzins darf höchstens „der vierfache Betrag der ortsüblichen Pacht im erwerbsmäßigen Obst- und Gemüseanbau“ verlangt werden, heißt es im Bundeskleingartengesetz. In Berlin zahlt man für einen 300 Quadratmeter großen Garten deshalb im Schnitt etwas über 100 Euro pro Jahr, in den Flächenländern liegt die Pacht darunter. Hinzu kommen Vereinsbeiträge und andere Nebenkosten.
Im Zweiten Weltkrieg verloren Hunderttausende BerlinerInnen ihre Wohnung, viele zogen in die Kleingärten. Der Architekt und Stadtrat Hans Scharoun veröffentlichte 1945 Richtlinien, die es KleingärtnerInnen für fünf Jahre erlaubten, in den Lauben zu wohnen. Die Gärten lieferten Nahrungsmittel für die Stadt. Viele Lauben wurden in dieser Zeit zu stabilen kleinen Häusern ausgebaut.
Auch in der Kolonie Eichengrund lebten die Leute damals legal. Einige behielten ein offizielles Wohnrecht. „Dahinten das Haus, da wohnt eine Frau, die ist auch hier gemeldet“, sagt Kügler am Dienstagnachmittag bei einem Rundgang.
Die milchige Sonne steht schon tief. Manche Häuser liegen unberührt da, in manchen Gärten plätschert ein Springbrunnen, ein Hund spielt auf dem Rasen. Vor einem Haus steht ein Kinderfahrrad, der Schulranzen liegt noch hinten im Korb. Die Hecken sind alle auf 1,25 Meter gestutzt. „Man soll die Gärten einsehen können“, sagt Kügler, so wolle es der Vorstand des Kleingartenvereins.
Sabine Kügler mag es lieber wild, aber damit ist sie in der Kolonie in der Minderheit. Sie duscht im Sommer im Garten und schläft in lauen Nächten manchmal draußen auf der Liege. Dass die NachbarInnen sie sehen können, stört sie nicht. Viele RentnerInnen wohnen hier. Man grüße einander freundlich, aber hintenrum werde viel geschimpft, sagt sie.
Jetzt, im Winter, ist alles kahl. Auf einer Wiese zwischen den Lauben liegen noch ein paar gelbe Blätter. Einmal im Jahr gebe es hier eine Feier, erzählt Kügler. „Da stehen sie morgens auf, machen sich schick und besaufen sich. Bis 21 Uhr, dann sind alle hacke. Dann ist es ’ne Gemeinschaft.“
Heute wollen sich in den Kleingärten viele vor allem erholen. In der DDR spielten sie dagegen noch eine wichtige ökonomische Rolle. Ihre Erträge waren auch zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln bestimmt. Die Zahl der Gärten stieg stark. Da nicht genug Wohnraum vorhanden war, hätten die Behörden Pächtern vereinzelt erlaubt, in den Lauben zu wohnen, sagt Stadtforscherin Hilbrandt. „Da war die DDR sehr tolerant.“
In Westdeutschland sank die Zahl der Kleingärten dagegen über die Jahrzehnte. Angesichts des Wirtschaftswunders war der Anbau von Obst und Gemüse dort nicht mehr nötig. Gerade in Großstädten gab es aber ab den 60er Jahren deutlich mehr InteressentInnen als Gärten. 1983 wurde das Kleingartengesetz verabschiedet, das noch immer gilt. Es sichert die PächterInnen ab, macht aber eben auch Vorgaben: etwa die, dass der Garten zum Gärtnern und zur Erholung genutzt werden darf, aber nicht zum Wohnen.
Caren Lay, wohnungspolitische Sprecherin der Linken
Heute gibt es in Deutschland über eine Million Kleingärten, viele davon nach wie vor im Osten. Wäre es an der Zeit, angesichts der Wohnungsnot in den Großstädten das Gesetz neu zu fassen und den PächterInnen ein Wohnrecht zu geben, wie es das nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin schon einmal gab?
In der Politik findet diese Idee wenig Zustimmung. Das zuständige Bundesministerium für Bau teilt mit, das Kleingartengesetz habe sich bewährt. „Eine Gesetzesänderung ist nicht geplant.“ Ein Sprecher verweist auf die Pacht, die ja laut Gesetz an die Pachthöhe im Obst- und Gemüseanbau geknüpft ist. „Diese Preisbindung lässt sich nur für eine ausschließlich kleingärtnerische Nutzung rechtfertigen.“
Auch in der Opposition überwiegt die Skepsis. Das Kleingartenwesen wäre mit einem Wohnrecht passé, dabei brauche man die Gärten als Grünflächen, so Caren Lay, wohnungspolitische Sprecherin der Linken. „Dass Menschen zunehmend in ihren Kleingärten leben oder auch mehr und mehr in Wohnwagen auf Campingplätzen ausweichen, ist Ausdruck der Wohnungskrise, kann aber nicht die Lösung sein.“
Daniela Wagner, in der Grünen-Bundestagsfraktion für Stadtentwicklung zuständig, ist überzeugt: „Der Wohnraummangel in Berlin lässt sich rein quantitativ nicht über die Kleingärten lösen.“ Der Druck auf die Gärten, dort richtige Wohnhäuser zu bauen, würde mit einem Wohnrecht enorm wachsen. Ihr wichtigstes Gegenargument ist jedoch ein anderes. „Ich fürchte, es würden schnell Favelas entstehen“ – also Armensiedlungen wie etwa im brasilianischen Rio. Die Erfahrung habe gezeigt, dass Wohngebiete mit geballter Armut Gefahr liefen, kriminelle Strukturen zu entwickeln, sagt Wagner. „Wir würden den Kolonien damit keinen Gefallen tun.“
Im Bundestag ist Wohnen in Kleingärten bisher kein Thema, die PolitikerInnen haben dazu keine vorformulierten Sätze parat. In ihren Antworten schwingt auch Erstaunen darüber mit, dass das Kleingartengesetz und der Status quo überhaupt so grundlegend hinterfragt werden. Die vielen Menschen, die einen Kleingarten nutzen, könnte das auch verunsichern – für PolitikerInnen ein Risiko.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der einzige Politiker, der sich für ein Wohnrecht in Lauben ausspricht, keiner Partei angehört. „Wir brauchen Wohnungen. Wenn die Leute gewillt sind, die Kleingärten umzunutzen, warum nicht?“, sagt Siegbert Nimtz, Bürgermeister von Heidesee, einer kleiner Gemeinde südöstlich von Berlin.
Bereits 2015, als es zu wenig Unterkünfte für Geflüchtete gab, schrieb Nimtz einen offenen Brief an Angela Merkel und forderte ein Wohnrecht auf Wochenendgrundstücken. Viele BerlinerInnen, die in seiner Gemeinde eine Datsche hätten, würden dort gern ganz hinziehen und ihre Stadtwohnung aufgeben, argumentierte er. Inzwischen dürfen Wochenendgrundstücke – die oft größer und besser ausgestattet sind als Kleingärten und auch nicht unter das Kleingartengesetz fallen – teilweise tatsächlich zum Wohnen umgenutzt werden.
Für die Kleingärten gilt das nicht. Aber wer hindert die Leute eigentlich daran, in den Lauben zu wohnen, auch wenn es verboten ist?
In den Bezirksämtern sind jeweils ein bis zwei Personen für die Kleingärten zuständig. Die MitarbeiterInnen wenden sich manchmal an das Melderegister, um zu erfahren, ob sich jemand unter der Adresse der Kleingärten gemeldet hat. Ansonsten ist es fast unmöglich, nachzuweisen, dass jemand nicht nur ab und zu in seiner Hütte übernachtet, sondern ständig dort lebt.
Im Kleingartengesetz steht, dass der Verpächter den Pächter kündigen kann, wenn dieser dauerhaft in der Laube wohnt. Die Verpächter sind in den meisten Fällen die Bezirksverbände der Gartenfreunde. „Wir machen Begehungen in den Kolonien, aber es sind so viele Vereine, dass wir es nicht jedes Jahr zu allen schaffen“, sagt die Vertreterin eines Bezirksverbands. Illegale Anbauten oder Öfen ließen sie abreißen, wenn ein Gärtner aufgibt und ein neuer übernimmt. Auch die örtlichen Vereinsvorstände machten regelmäßig Begehungen.
Verhandelbare Verhältnisse
Wenn in der Kolonie von Sabine Kügler eine Begehung stattfindet, werde vor allem auf die Heckenhöhe geachtet, sagt sie. Beim Spaziergang am Nachmittag durch die Kolonie zeigt sie auf eine größere Laube mit Terrasse. Eine Frau aus dem Vorstand wohne darin. Dauerhaft.
„Viele der Verhältnisse, in denen wir leben, sind verhandelbarer, als wir denken“, sagt Stadtforscherin Hanna Hilbrandt. Sie hat über informelles Wohnen in Berliner Kleingärten promoviert und dafür mit KleingärtnerInnen in vier Bezirken gesprochen, mit Bezirksverwaltungen und dem Senat, um herauszufinden, wie das staatliche Regelwerk und die Praxis in den Kleingärten zusammengehen. Unerlaubtes Wohnen gebe es nicht nur in Städten des Südens, sondern eben auch hierzulande, so ein Ergebnis. „Die Informalität entwickelt sich durch und mit den Regeln“, sagt die Wissenschaftlerin.
Derzeit würden die Behörden das Wohnen in den Lauben vielerorts dulden, so Hilbrandts Eindruck. Das Verbot radikaler durchzusetzen wäre angesichts der Wohnraumknappheit auch nicht zu verantworten. „Die Duldung ist das pragmatische und adäquate Mittel.“
Auch Hanna Hilbrandt lehnt ein Wohnrecht in den Lauben ab. „Damit würde man Wohnverhältnisse zweiter Klasse institutionalisieren“, sagt sie. Manche Gärten hätten keinen vernünftigen Wasseranschluss, viele Lauben seien aus minderwertigem Material gebaut und schlecht isoliert. „Es gibt andere Möglichkeiten, leistbaren Wohnraum zu schaffen.“
Doch man kann das auch anders beurteilen. Wasserleitungen, Dächer und Fassaden ließen sich für den Winter isolieren. Ein Anschluss der Lauben an die Kanalisation würde vielen KleingärtnerInnen das Leben erleichtern. All das wäre deutlich weniger Aufwand, als neue Wohnhäuser zu bauen. Denn das ist ja das Problem: Es entstehen in den Großstädten zu langsam zu wenige Wohnungen für Menschen mit kleinen Einkommen.
Und wenn die grüne Abgeordnete Wagner vor der Entstehung deutscher Favelas warnt, muss man sagen: Zum Teil wohnen Menschen mit wenig Geld ja bereits in den Lauben, nur eben unterhalb des Radars – und mit ordentlich getrimmten Hecken. Elendsviertel sind das nicht.
Wissenschaftlerin Hanna Hilbrandt sagt auch: Die rechtliche Unsicherheit sei für die Menschen in den Gärten das größte Problem. Tatsächlich müssen Kügler und ihre NachbarInnen immer damit rechnen, ihr Zuhause zu verlieren. Die große Heimlichtuerei könnte man beenden – ließe man das Wohnen zu, hätten die Menschen eine Perspektive.
Trotz alldem wird es ein Wohnrecht in den Lauben auf absehbare Zeit nicht geben. Zu stark ist die Befürchtung bei Kleingartenverbänden wie PolitikerInnen, möglicherweise eine große Verteilungsdebatte auszulösen, wenn man an dem bestehenden Konstrukt rührt. Denn viel lauter würde dann die Frage gestellt: Wer hat eigentlich ein Recht auf einen Kleingarten?
Für wenig Geld einen Garten zu besitzen ist schon heute ein Privileg. Ihn zu bekommen ist weder an Bedürftigkeit noch an andere Bedingungen geknüpft. Man muss sich in Wartelisten eintragen lassen und darauf hoffen, dass die Vereine einen nehmen. In Berlin stehen 10.000 BewerberInnen auf den Listen, heißt es von den Gartenfreunden.
Mancherorts hat man als Außenstehender auch mit viel Geduld wenig Chancen auf einen Garten. Sabine Kügler sagt, bei ihnen werde alles unter der Hand geregelt. „Du kannst dich hier auf die Warteliste setzen lassen. Aber wenn du keinen kennst, kannst du es vergessen.“ Deswegen gebe es auch keine Ausländer in der Kolonie. Kügler legt Zeige- und Mittelfinger auf die Oberlippe. Hitlerbärtchen.
„Nur weil die Dinge im Kleinen von der Zivilgesellschaft verhandelt werden, heißt das nicht, dass sie fair verhandelt werden“, sagt Wissenschaftlerin Hanna Hilbrandt. An dieser Stelle fragt auch sie: Ist das Bundeskleingartengesetz noch zeitgemäß? Sollte man nicht klare, gerechte Vorgaben machen, wer einen Garten bekommt und wer nicht? Es gibt derzeit einen Generationswechsel in den Kolonien, den könnte man steuern.
Bleibt das Gesetz, wie es ist, wird das Leben im Graubereich für Menschen wie Kügler zum Dauerzustand. Sie selbst ist eine Meisterin des Informellen, nicht nur was das Wohnen angeht. Die Wildschweinkeule, die für das Abendessen in der Laube gesalzen in einer Schüssel liegt, hat ihr ein Jäger gegeben, den sie kennt. Am Nachmittag hat sich beim Spaziergang durch die Laube die Sohle an einem ihrer Lederschuhe gelöst. Ein befreundeter Schuster werde sie ihr kleben. Ihr Auto, das vor der Kolonie parkt, ist kaputt, ein anderer Bekannter hat versprochen, es zu reparieren.
„Ich hab immer meine Leute, das ist mein Kapital“, sagt Kügler. Dafür hilft auch sie, wenn sie kann. Sie kocht für andere, putzt oder arbeitet im Garten. Es ist ein großes Geben und Nehmen, formlos, ohne Bezahlung.
Bis zum Sommer durchhalten
Und obwohl das alles im Alltag gut funktioniert und Kügler dank ihrer vielen Bekannten und der niedrigen Pacht wenig Ausgaben hat, lebt sie in Not, immer wieder. Das liegt an der finanziellen Unsicherheit, die sie seit Jahren umtreibt.
Aber vor allem liegt es an Thomas. Der flippt manchmal aus. Wenn sie sich streiten, stelle er sich direkt vor sie und schreie sie an, erzählt sie. Ab und an schubst er sie auch, sodass sie fällt. Sie hat sich danach schon mal selbst mit dem Handy fotografiert, ihre Wange ist auf dem Bild bläulich verfärbt. „Ich bleibe dann eine Nacht bei einer Freundin“, sagt sie. Die NachbarInnen hören den Streit, die Häuser stehen ja eng beieinander. „Sie fragen hinterher: Wat haste wieder jemacht? Haste ihn jeärgert?“, erzählt sie.
Kügler versucht, ihre Arbeitsschichten so zu legen, dass sie Thomas nur wenig sieht. Aber immer klappt das nicht. Sie wird leiser, wenn sie über ihn spricht. „Ich muss kieken, dass ich hier wegkomme.“ Damit meint sie ihn, nicht die Kolonie. Sie hat sich auf die Warteliste für einen eigenen Kleingarten im Eichengrund setzen lassen. Aber erst mal muss sie die Schulden abarbeiten. Sie sagt: „Nächsten Sommer bin ich vielleicht soweit, bis dahin muss ich irgendwie durchhalten.“
Am Abend nach dem Treffen schickt Kügler noch eine SMS. Sie will, wenn es warm wird, zum Grillen in den Garten einladen. Sie schreibt: „Ich liebe es, hier zu leben.“
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