Türk*innen in Deutschland: Warum Erdoğan so beliebt ist
Viele Türk*innen in Deutschland wählen konservativ. Das hat nicht nur demografische Gründe, sondern hat auch mit Ausgeschlossensein zu tun.
Im Ringen um die türkische Präsidentschaft läuft Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland außer Konkurrenz. Zwar ging in der ersten Wahlrunde nur knapp die Hälfte der 1,5 Millionen Türk*innen in Deutschland überhaupt zur Wahl, doch die stimmten ganz überwiegend für den Amtsinhaber. Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu bekam nur ein knappes Drittel der Stimmen.
Warum halten die türkischen Wähler*innen in Deutschland so deutlich zu einem Autokraten, der die Demokratie in ihrem Herkunftsland systematisch demontiert und die dortige Wirtschaft ruiniert hat?
Expert*innen verweisen als Erklärung insbesondere auf die geografische und soziale Herkunft der türkischen Gastarbeiter, die in den 60er Jahren nach Deutschland geworben wurden. „Es sind vor allem Menschen aus dem konservativ-religiösen Unterschichtsmilieu vom Land gekommen“, sagt Yunus Ulusoy, Programmleiter bei der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.
Er spricht von „mitgebrachten politischen und weltanschaulichen Überzeugungen“. Die habe die Gastarbeitergeneration auch an ihre Kinder und deren Kinder weitergegeben. Und wer konservativ ist, stimmt eben für Erdoğan.
Nirgendwo so beliebt wie im Ruhrgebiet
Das Gleiche zeigt sich in anderen Staaten, die einst Gastarbeiter*innen aus den ländlichen Regionen der Türkei anwarben. In Österreich und Belgien erhielt Erdoğan unter den Türk*innen sogar noch größere Stimmanteile als in Deutschland.
Hacı-Halil Uslucan, Professor für Integrationsforschung an der Uni Duisburg-Essen, sagt: „In Großbritannien und den USA ist es genau andersherum. Nach dort gingen die westlich orientierten und akademisch gebildeten Schichten aus den Städten.“ Das zeigt sich an den Wahlergebnissen: 18 Prozent der Türk*innen in Großbritannien wählten Erdoğan, in den USA waren es sogar nur 16 Prozent.
Ähnliches lässt sich teils auch innerhalb Deutschlands beobachten. Nirgendwo im Bundesgebiet erhielt Erdoğan im ersten Wahlgang so hohe Stimmenanteile wie unter den rund 500.000 türkischen Staatsbürger*innen im Ruhrgebiet, in Essen wählten ihn fast 80 Prozent. Die dortige Schwerindustrie hatte in den 60er Jahren besonders viele Bergarbeiter*innen aus den Schwarzmeer-Regionen der Türkei geworben. Dort erhält Erdoğan heute ähnlich hohe Stimmanteile wie im Ruhrgebiet.
Ganz anders Berlin, wo rund 90.000 Menschen mit türkischem Pass leben. Viel Schwerindustrie gab es hier nie, die lange geteilte Großstadt zog andere Menschen an. Uslucan sagt: „Das türkische Milieu in Berlin ist kritischer, viele kamen auch 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch.“ Im ersten Wahlgang erhielt Erdoğan hier deutlich weniger Stimmen als im Rest Deutschlands. Für ihn und Kılıçdaroğlu stimmten jeweils rund 49 Prozent der Wahlberechtigten.
Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft entfremdet
Zum sozialen, geografischen und demografischen Hintergrund der Türk*innen in Deutschland kommen noch weitere Faktoren, die die Zustimmung zu Erdoğan in die Höhe treiben. Etwa, dass die Wähler*innen in Deutschland vor vielen negativen Folgen von Erdoğans Politik abgeschirmt sind. „Repression, Wirtschaftskrise und Inflation in der Türkei treffen diese Leute einfach nicht“, sagt Uslucan. Auch das Erdbeben im April und die katastrophalen Folgen betreffen höchstens Verwandte.
„Stattdessen sehen die Leute positive Veränderungen, etwa in den Konsulaten“, sagt Uslucan. „Dort wurden sie lange von der Elite von oben herab behandelt, geradezu erniedrigt.“ Das habe sich unter Erdoğan deutlich geändert, auch das Wählen selbst sei einfacher geworden.
Erdoğans konservative Motive von Nationalstolz und Religion verfangen aber auch, weil viele Türk*innen sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft entfremdet fühlen. Das geht insbesondere auf die unseligen deutschen „Integrationsdebatten“ zurück, die, befeuert von konservativen deutschen Politiker*innen, seit Jahrzehnten Menschen aus muslimischen Ländern herabsetzten. „Auch der dritten Generation der Türken in Deutschland wird streitig gemacht, wirklich dazuzugehören“, fasst Ulusoy zusammen.
Und Uslucan sagt: „In den Integrationsdebatten geht es fast immer in negativer Weise um Türken und Muslime. Und dann kommt ein Präsident, der sagt: Ihr gehört zu uns.“ Die Botschaft: Das Land, in dem ihr lebt, kümmert sich nicht um euch, aber wir schon. „Diese Umarmung wirkt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen