Tempo spart keine Fahrzeit: Lob der Langsamkeit
Warum wir mit Tempo 25 in der Stadt eher am Ziel sind – und sicherer, klimafreundlicher, entspannter und gesünder sowieso.
E ntschleunigung klingt hübsch, aber romantisch-gestrig. Man genießt sie im Urlaub in gemütlichen Örtchen mit dem „Cittàslow“-Siegel. Aber im Alltag müssen wir immer schnellstmöglich irgendwohin. Langsamer würden wir unser Pensum gar nicht schaffen, glauben wir.
Aber das täuscht gewaltig: Tempo spart erstens keine Fahrzeit und bringt uns zweitens nicht an mehr Ziele. Das zeigt eine alle paar Jahre wiederholte Langzeitstudie mit wechselndem Titel; derzeit heißt sie „Mobilität in Deutschland“.
Zwar ist seit den 1970er Jahren unser Durchschnittstempo auf der Straße, dem Gleis und in der Luft um 43 Prozent gestiegen, aber die täglich zurückgelegten Kilometer haben sogar um 68 Prozent zugenommen. Also sind wir länger unterwegs, und das trotz der höheren Geschwindigkeit. Wir machen mehr Wege per Auto und nicht zu Fuß, mit der S-Bahn statt dem Bus, im Billigflieger statt im Nachtzug, aber wir kommen immer später an.
Gestiegen ist der Aufwand an Zeit, Geld, Energie und Nerven, sind Flächenfraß und Treibhausgas – aber nicht gestiegen ist verrückterweise der Ertrag. Laut der ersten Studie von 1976 erreichten die Menschen im Schnitt 3,1 Ziele pro Tag. Und nach der Explosion von Tempo und Kilometern waren es 2017 – seufz – genauso viele. Mit mehr Tempo kommen wir nicht öfter irgendwo an, sondern fahren wir bloß weiter weg.
lebt in Berlin, ist gelernter Stadt- und Regionalplaner und arbeitet als Journalist. Zuletzt erschien von ihm „Wer langsam macht, kommt eher an“.
Den Aufwand gigantisch erhöht, den Ertrag nicht im Geringsten gesteigert. Deutschlands Verkehrsminister mit ihren Multi-Milliarden-Etats sind nicht erst seit Andreas Scheuer (CSU) die miserabelsten Manager im Land.
Aber natürlich liegt es nicht nur an ihnen. Fast alle haben wir die fatale Neigung, mehr Tempo nicht in kürzere Fahrzeit umzumünzen, sondern in längere Wege. Von der Stadtwohnung ins Eigenheim im Grünen – auch weil die Straße vor der Wohnung so laut geworden ist. Als Berliner mit einem Job bei VW zweimal täglich 180 ICE-Kilometer, damit man nicht in Wolfsburg wohnen muss. Der VW-Konzern wirbt dafür auf einer eigenen Website „Pendeln zum Arbeitsplatz“.
Man könnte ja sagen: Tempo ist halb so schlimm, wenn nur die Verkehrsmittel stimmen. Aber jährlich zwei Erdumrundungen per VW-ICE haben mit Klimaschutz auch nichts mehr zu tun. Und es gibt tückische Rückwirkungen: Wird eine Stadtbahn unter die Straße verlegt und dabei beschleunigt, füllen oben zusätzliche Autos den gewonnenen Raum gleich wieder.
Und da die Leute vom Stadtrand jetzt unten fahren, gibt es oben mehr Raum für Autofahrer vom Dorf, die Trips in die Stadt machen. Alle sind schneller – und auf der Straße fahren sie längere Strecken.
Selbst gut gemeinte Radwege können zusätzlichen Autoverkehr provozieren. In den viel gelobten Niederlanden wurden sie konsequent abseits der Fahrbahnen gebaut; auch Mopeds mussten hier fahren. Die breiten Straßen wurden Zweirad-frei, das Autofahren damit attraktiver. Seit den 1990er Jahren stieg in den Niederlanden die Zahl der jährlichen Autokilometer dreißigmal mehr als die Zahl der Radkilometer – ein ökologisches Desaster.
Doch Deutschland lernt nicht daraus: Berlins Radplaner bei der Senatsfirma Infravelo propagieren breite Schnellpisten im Grünen und durch Parks, auf Kosten von Natur und Erholung – aber zur „Entlastung des Straßenverkehrs für die Kraftfahrzeug-Fahrenden“.
Tempo bringt uns nicht an mehr Orte, ist klimaschädlich, raumfressend, gefährlich und wegen seiner Kosten unsozial. Es kann und muss runter. Aber auf welches Niveau? Die Frage drängt vor allem in den Städten, wo Verkehr besonders dicht und bunt ist. Gesucht wird die optimale Geschwindigkeit auf Straßen fürs Gehen, Rad- und Autofahren.
Dieses bestmögliche Tempo soll uns mit wenig Zeitaufwand, sicher, angenehm und für die übrige Welt schonend ans Ziel bringen. Dazu soll es den Verkehr möglichst effizient, gleichmäßig und hemmungsfrei laufen lassen.
Fangen wir mit der Sicherheit auf Fahrbahnen an, die zu Fuß überquert oder per Rad befahren werden. Dummy-Tests und Studien zeigen: Werden Menschen frontal von Fahrzeugen gerammt, dann wird es schon bei Tempo 30 lebensgefährlich; ein Zehntel der Angefahrenen stirbt. Die Kurve geht danach steil hoch: Bei Fahrzeugtempo 50 kommen viermal so viele Gerammte um, bei 70 sterben fast alle.
Ein guter Kompromiss zwischen Sicherheit und Beweglichkeit liegt also irgendwo unter 30 Stundenkilometern. Zumal bei dieser niedrigen Geschwindigkeit der Bremsweg nur wenige Meter lang ist, also viele Unfälle gar nicht mehr passieren.
Dies rettet und bewahrt viel Lebenszeit. Die vom Unfall Verschonten bleiben gesund und glücklich, ihre Liebsten werden nicht zu Hinterbliebenen, und auch all jene Menschen, die den Unfällen hinterherräumen müssten, sparen viel Zeit – in Krankenhäusern und Gerichten, bei Versicherungen und Bestattern, in Werkstätten und Reha-Zentren.
Autobahnen sind alles andere als leistungsstark
Effizienter ist eine niedrige Geschwindigkeit auch. Ein gängiges Vorurteil heißt: Unter 30 Stundenkilometern schleicht alles und staut sich, auf der Autobahn brausen gleichzeitig Tausende zum Ziel. Aber das täuscht – die Autobahnen sind alles andere als leistungsstark. Denn je schneller gefahren wird, desto mehr muss der Sicherheitsabstand wachsen. Die Autoschlange besteht zum größten Teil aus schlechter Luft und braucht nicht weniger, sondern mehr Straßenraum.
Bei welchem Tempo und angemessenem Abstand am meisten Fahrzeuge in einer Stunde durchkommen, lässt sich genau berechnen. Von 0 bis 22,5 Stundenkilometer können umso mehr Autos passieren, je schneller sie sind.
Doch danach ist es genau anders herum: Je schneller die FahrerInnen sein wollen, umso langsamer geht es voran. Denn je höher die Geschwindigkeit wird, desto größer muss der Sicherheitsabstand sein, um im Notfall bremsen zu können. Das Ergebnis ist paradox: Ab Tempo 22,5 wird mehr Sicherheitsabstand nötig, als schnelleres Durchfahren Raum frei macht.
Kreuzungen werden erst recht verstopft, wenn alle Autos mit möglichst hoher Geschwindigkeit passieren wollen. Auch dies zeigen Berechnungen: Bei Tempo 50 kommen pro Stunde etwa 1.500 Auto-Insassen über eine Kreuzung. Bei Fahrrädern mit Tempo 20 wären es 5.300 Menschen, und bei Fußgängern in ihrem Tempo etwa 7.000.
Raserei ist teuer
Effizienter, sicherer und entspannter wird Verkehr auch, wenn im gleichen Raum alle etwa gleich schnell unterwegs sind. Auf der Fahrbahn müssen sich also die theoretisch schnelleren Auto- und Lkw-Fahrer den langsameren Radlern anpassen – umgekehrt geht es ja nicht. Auch das läuft auf ein Tempo-Optimum von etwa 20 km/h hinaus.
Auch fürs Konto ist Raserei teuer. Mit der Geschwindigkeit steigen die Kosten für Verkehr. Die Motoren werden stärker und fressen mehr Sprit, die Sicherheitsvorkehrungen werden aufwendiger, die Gesellschaft zahlt für mehr Raum und mehr Schäden.
Zufußgehen und Radfahren kostet gleich wenig, aber das Auto ist so teuer, dass viele Pkw-Besitzer fürs Fahren zusätzlich mehr Arbeitszeit brauchen, als sie an Verkehrszeit auf der Straße einsparen. Auch hier liegt das optimale Tempo für Menschen mit einem Durchschnittseinkommen zwischen 20 und 30 Stundenkilometern.
Das Ergebnis des Ganzen: Ob Sicherheit, Effizienz oder Kosten – im Stadtverkehr ist ein Tempo zwischen 20 und 30 Stundenkilometern optimal. Tempo 30, bisher gern als „Schleichtempo“ verspottet, wäre eigentlich schon zu schnell. Wir sollten es trotzdem jetzt politisch fordern – denn mehr wäre nicht durchsetzbar und der Fortschritt trotzdem immens.
Langsamkeit bringt Zeitersparnis
Es braucht natürlich zwei Ausnahmen. Auf dem Gehweg sollte weiterhin nur Gehtempo gestattet sein – trau keinem über sechs. Umgekehrt müssten Busse und Bahnen deutlich schneller als 30 Stundenkilometer fahren dürfen. Weil sie in relativ wenigen Fahrzeugen sehr viele Leute kompakt befördern, verursachen sie die meisten Tempoprobleme nicht.
Langsamkeit bringt auch indirekt und auf längere Sicht Zeitersparnis. Sie verkürzt viele Wege. Wo Tempo dominiert, entstehen Einkaufszentren am Stadtrand, Spaßparks an Autobahnkreuzen und Schulzentren für zwölf Dörfer, weil sie schnell erreichbar sind. Langsamkeit zwingt zur Dezentralisierung – mehr mittelgroße Supermärkte, Spielplätze und Turnhallen vor Ort, eine Schule für nur vier Dörfer.
Wir brauchen die Verkehrswende rasch – und zwar als Wende zur Langsamkeit. Wer mit dem jeweils geringeren Tempo unterwegs ist, soll in der Regel Vorrang genießen, wo sich die Wege mit den Schnelleren kreuzen. Wer eine kürzere Strecke zurücklegen will, muss gegenüber jenen bevorzugt werden, die sich für fernere Ziele entschieden haben. Die Weichen, Verletzlichen brauchen Vorrang vor den Harten, von Fahrzeugen Gepanzerten. Die Qualität des Orts muss wichtiger genommen werden als der Drang, schnell durchzufahren.
Charmant daran ist auch, dass der Zweck allen Verkehrs dabei nicht gestört wird: das Ankommen. Wenn wir mit viel höherem Tempo als vor 40 Jahren genau wie damals 3,1 Ziele am Tag erreichen, dann können wir die Geschwindigkeit so senken, wie wir sie bisher erhöht haben. Wir würden nicht weniger Ziele erreichen, sondern nur andere, nähere. Aber wir hätten weniger Stress, wären weniger Gefahren ausgesetzt und müssten weniger Zeit und Geld aufwenden.
„Der Langsame hat auf den Schnelleren Rücksicht zu nehmen“, donnerte ein Kommentar zur Reichs-Straßenverkehrsordnung von 1937. Drehen wir das endlich um, denken und entwickeln wir Verkehr immer von den jeweils Langsameren her, mit Ausnahme von Bahn und Bus. Stellen wir die Hierarchie im Verkehr auf den Kopf, oder genauer: von breiten Reifen auf schlanke Füße.
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