Russische Propaganda: Purer Hohn für den Journalismus
Marina Owsjannikowa hatte im russischen Fernsehen protestiert. Nun arbeitet sie für die Zeitung „Welt“ und stellt damit den unabhängigen Journalismus in Frage.
U nser Bundeskanzler wird nicht müde zu betonen, dass das, was in der Ukraine passiert, allein Putins Krieg sei. Mindestens wenn es um die russische Propagandamaschinerie geht, sollte klar sein, dass Menschen, die Teil dessen sind oder waren, ebenfalls Verantwortung tragen: Für die Lügen, die seit vielen Jahren über die Ukraine verbreitet wurden und somit auch für diesen Krieg.
Marina Owsjannikowa war bis vor Kurzem Teil dieser Lügenwelt. Seit 2003 arbeitete sie als Redakteurin für einen der landesweit wichtigsten Fernsehsender, den Ersten Kanal. Ein Sender, der für seine Propaganda berüchtigt ist. Owsjannikowa war zuständig für Auslandsnachrichten. Sie recherchierte, führte Interviews mit Politikern, produzierte Beiträge für den Sender. Sie lebte ein gutes Leben in der Moskauer Mittelschicht, sagte sie im März in einem Interview.
Einen Tag bevor sie dieses Interview gegeben hatte, war sie mit einem Protestschild in die Abendnachrichten des Ersten Kanals gestürmt. „Glaubt der Propaganda nicht“, stand darauf. Sie rief „Nein zum Krieg“, ein Ausruf, der da schon in Russland unter Strafe stand. Nur wenige Sekunden sah man sie, während die Moderatorin im Vordergrund ihren Nachrichtentext weiter vortrug, als wäre sie eine Maschine. Dass Owsjannikowa diese Aktion mindestens ihren Job kosten würde, war klar. Sie wurde verhaftet und zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (ca. 250 Euro) verurteilt.
International wurde sie als Heldin gefeiert. Für ihren Mut belohnte man sie nun sogar mit einem Job. Die Ex-Mitarbeiterin eines Propagandasenders wird ab sofort als freie Korrespondentin für die Welt unter anderem aus der Ukraine und Russland berichten, das teilte der Springer Verlag am Montag mit. Owsjannikowa habe die Zuschauer in Russland mit einem ungeschönten Bild der Wirklichkeit konfrontiert, wird Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt in der Mitteilung zitiert. Damit habe sie die wichtigsten journalistischen Tugenden verteidigt.
Politischer Druck und staatliche Repressionen
Zeichnen sich Journalist:innen nicht durch ihr Handwerk aus? Eine Berichterstattung, die der Wahrheit verpflichtet ist? Owsjannikowa hat mit ihrer Arbeit jahrelang ein System von Lügen mitgetragen und mitgestaltet. Sie störte sich nicht an der Propaganda. Es waren stattdessen Kolleg:innen unabhängiger russischer Medien, die trotz politischen Drucks und staatlicher Repressionen ihr Leben riskierten, um ehrlichen Journalismus zu machen. Viele von ihnen mussten bereits aus Russland fliehen. Diese Journalist:innen wären einer Korrespondent:innenstelle würdig. Unverständlich ist auch, wie man mit dieser Personalentscheidung unzählige ukrainische Journalist:innen übergehen konnte. Owsjannikowa über die Ukraine berichten zu lassen, wirkt wie ein Hohn.
Wie wenig qualifiziert sie für diesen Job ist, bewies sie in ihrem ersten Text, Überschrift: „Die Russen haben Angst“. Eine klassische Opfergeschichte, in der sie das Bild vermittelt von einer Mehrheit in Russland, die gegen den Krieg sei, nur eben zu ängstlich sei, das laut zu sagen. Interessant ist auch eine Stelle, in der sie berichtet, humanitäre Hilfe für ukrainische Flüchtlinge zu organisieren, die in der Region Kaluga „in örtlichen Sanatorien untergebracht“ worden seien. Kein zweifelndes Wort daran, ob diese Ukrainer:innen freiwillig nach Russland geflohen sind. Kein Wort über die Verschleppungen und Zwangsumsiedlungen nach Russland. Ist das aufrichtiger Journalismus?
Im Krieg gibt es eine Sehnsucht nach Helden. Owsjannikowas Plakataktion wird zur Heldenerzählung stilisiert. Ein Beweis eben, dass nicht alle Putins System unterstützen. Das gefällt sicher auch dem Bundeskanzler.
Vielleicht wird man sich am Ende ja wieder geirrt haben – wie einst unser Bundespräsident mit Putin.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott