Rechtsextremismus in Ostdeutschland: Die Jungen radikalisieren sich
Der Rechtsextremismus im Osten wächst, vor allem ist es die jüngere Generation, die sich laut einer Studie radikalisiert. Das hat viele Gründe.
Es gibt Dinge, die man lieber nicht hören möchte. Wahrheiten, von denen man sich wünschte, sie wären nur Klischees. Die Ergebnisse der jüngst veröffentlichten Autoritarismus-Studie sind so eine Wahrheit, die ein mittlerweile verpöntes Klischee zu bestätigen scheinen. Der Osten ist rechter als der Westen.
Wobei es nun vor allem die Jungen sind, die sich zunehmend radikalisieren, die 14- bis 30-Jährigen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden. Diejenigen, auf denen die Hoffnung lag, dass sie nicht mehr von den autoritären Strukturen der Diktatur und den Härten der Transformation geprägt wären.
Sie, so hatte man lange geglaubt, würden im vereinten Deutschland aufwachsen, in einem Europa mit offenen Grenzen und all das wäre ihnen selbstverständlich. So selbstverständlich, dass sie sich auch in ihrer Weltanschauung kaum von ihren Altersgenossen im Westen unterscheiden würden. Diese Annahme stellt sich nun als gefährlicher Irrtum heraus. Die Zahlen der Untersuchung markieren die politischen Unterschiede im Land, um die es kein Herumreden mehr geben kann.
Als die Sozialpsychologen Oliver Decker und Elmar Brähler Mitte November die Ergebnisse der zehnten Leipziger Autoritarismus-Studie vorstellen, herrscht zunächst Erleichterung. Die rechtsextremen Einstellungen im Land sind insgesamt rückläufig, die Zustimmung zur Demokratie ist groß. Das belegen die Befragungen der Langzeitstudie, die seit 2002 (bis 2016 Mitte-Studien genannt) alle zwei Jahre durchgeführt werden.
geboren 1986 in Wismar, ist Schriftstellerin
So nimmt der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild unter den gut 2.500 Befragten kontinuierlich ab. Während 2002 noch fast jeder Zehnte ein solches Weltbild vertrat, hat sich der Anteil 2020 auf 4,3 Prozent mehr als halbiert. Auch die Ausländerfeindlichkeit ist stark zurückgegangen. 2002 hatte mehr als jeder Vierte der Befragten eine manifeste ausländerfeindliche Einstellung. Dieses Jahr sind es noch 16,5 Prozent, ein Rückgang von 10 Prozentpunkten.
Ein genauer Blick in die Zahlen zeigt jedoch, dass die Ergebnisse der Forscher von der Universität Leipzig keinesfalls beruhigen können. Die Werte von Ost- und Westdeutschland liegen oft so weit auseinander, dass sich die Frage stellt, ob es überhaupt Sinn ergibt, diese in einem Graphen zusammenzufassen. Während in Westen mit 1,8 Prozent der Befragten nur eine verschwindend geringe Minderheit eine rechtsautoritäre Diktatur befürwortet, sind es im Osten 8,8 Prozent (gesamt: 3,2 Prozent). Und es ist nicht so, dass sich dieser Unterschied in den anderen Teilen der Befragung relativieren würde.
Alarmsignal für Ost und West
Tatsächlich sind die Antworten der Studienteilnehmer in Ostdeutschland durchgängig rechter und demokratiefeindlicher als im Westen. So stimmen in Ostdeutschland 43,9 Prozent der Teilnehmer der Aussage „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ vollständig zu, während es im Westen 24,5 Prozent sind. Und 29 Prozent der Befragten im Osten glauben, Deutschland „brauche eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Im Westen ist die Zustimmung hier mit 14 Prozent zwar auch erschreckend hoch, erreicht aber nicht einmal die Hälfte des Werts aus dem Osten.
Ergänzt man die Zahl im Osten um diejenigen, die der Aussage latent zustimmen, kommt man auf einen Zustimmungswert von 51,6 Prozent der Befragten (West: 34,9 Prozent). Gut jeder Zweite im Osten also wäre grundsätzlich bereit, eine solche autoritäre Einheitspartei zu wählen. Diese Zahlen müssen ein Alarmsignal in Ost wie West sein. Zeigen sie doch in beiden Teilen das Potenzial, auf das sich die aktuelle und gut organisierte rechte Bewegung stützt.
Die Annahme der letzten Jahre, dass sich das rechte Problem irgendwann auf natürlichem Weg auswachsen würde, gilt insbesondere für den Osten nicht. 15,6 Prozent der Befragten zwischen 14 und 30 Jahren, also mehr als jeder sechste junge Ostdeutsche, sehnt sich nach einer rechtsautoritären Diktatur (West: 2,2 Prozent). Diese Menschen bilden das Fundament für die Zukunft der AfD.
Das zeigt auch ein Blick in die Wahlanalysen der letzten Jahre. So wurde die AfD 2016 bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt nur deshalb Zweite, weil die jüngeren Wähler im „Land der Frühaufsteher“ aufgrund von demografischem Wandel und Abwanderung deutlich in der Minderheit sind. Bei den Wählern unter 30 kam die AfD auf satte 29 Prozent, weit vor der CDU mit 18 Prozent. Ähnlich sah es bei den Landtagswahlen im letzten Jahr in Thüringen, Sachsen und Brandenburg aus.
„Generation Mauer“ wählt AfD
Auch die Eltern der Erst- und Zweitwähler, die Vertreter der sogenannten „Generation Mauer“, wählen mehrheitlich AfD. Angesichts der Möglichkeiten, die diesen Generationen durch den Fall der Mauer offenstanden, ein erschreckender Befund. Die Verfasser der Studie bescheinigen dem Osten folglich „dringenden Handlungsbedarf in der politischen Bildungsarbeit im Jungend- und Erwachsenenalter“.
Die These der Wissenschaftler, dass dies bei den Jüngeren auf Grund der Geburt nach dem Ende der DDR kein Erbe der SED-Diktatur mehr sein könne, ist jedoch fraglich. Die Transformationsgeschichte mit all ihren sozialen und ökonomischen Härten hat die politische Landschaft des Ostens geprägt, in der die Nachwendegenerationen aufgewachsen sind. Doch speist sich die Skepsis gegenüber der bundesrepublikanischen Demokratie auch aus den Diktaturerfahrungen der Elterngenerationen.
Die Nachwendekinder wurden größtenteils von Erwachsenen erzogen, die sich vor 1989 mit dem System arrangiert und dieses gestützt hatten. War es bis 1989 noch Aufgabe der Lehrer, die Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen, sollten sie nach der Wiedervereinigung die Werte des vormaligen Klassenfeinds unterrichten. In dieser Schizophrenie eine glaubwürdige Stabilität zu vermitteln, war ein Akt der Unmöglichkeit.
Dazu kommt das große Schweigen, das Johannes Nichelmann in seinem Buch „Nachwendekinder“ beschrieben hat – über die Verbrechen der Diktatur, das bloß anekdotenhafte Erzählen scheinbar unpolitischer Alltagsgeschichten bis hin zur Ostalgie, in welcher der Unrechtsstaat nachträglich zum Hort sozialer Wärme und Sicherheit wird. Laut Nichelmann fühlen sich auch die Nachwendekinder deshalb der DDR solidarisch zugehörig.
Wagenburgmentalität im Osten
Gerade wenn es darum geht, die offensichtlichen Probleme mit Rechtsradikalismus und antidemokratischen Tendenzen des Ostens zu benennen, flüchten sie sich nicht selten in eine Wagenburgmentalität, welche die Erzählungen der Eltern nicht kritisch hinterfragt, sondern sie bestätigt und reproduziert. Infrage gestellt werden viel mehr die Demokratie und ihre Institutionen, in denen immer irgendetwas nicht zu funktionieren scheint. Diese Mentalität konnte nicht, wie erhofft, durch ökonomischen Erfolg und die zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse gebrochen werden.
Was bedeutet dies für das Superwahljahr 2021? Auch wenn die AfD in Umfragen im Vergleich zu den letzten Wahlergebnissen im Moment verliert, wurde auf ihrem Bundesparteitag in Kalkar der Machtanspruch des „sozial-nationalistischen“ Flügels einmal mehr sichtbar. Bestärkt wird das durch einen Trend, der sich schon bei den letzten Europawahlen abzeichnete.
Höckes extremistischer Flügel hat die wirtschaftsliberalen AfD-Wähler der Lucke-Ära auf Abstand gehen lassen, sodass die Partei in den westdeutschen Länderparlamenten voraussichtlich um den Sprung über die Fünfprozenthürde kämpfen muss. Im Osten hingegen hat gerade die nationalistische Ausrichtung der AfD für kontinuierlichen Wählerzuwachs gesorgt. Hier wird die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremen Spitzenleute gewählt.
Die Politik hat dieses Problem offenbar endlich erkannt und beschlossen, in den nächsten Jahren mehr Geld in den Kampf gegen Extremismus und Rassismus zu stecken. Die Frage bleibt, ob das ausreichend sein wird, wenn rechtsextreme Einstellungen von Generation zu Generation weitergegeben werden und so auch besonders bei den jungen Wählern im Osten fest verankert sind. Wenn also das Bild einer diktatorischen, rechten Gesellschaft kein Schrecken, sondern viel mehr ein Sehnsuchtsraum ist.
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