Postkoloniale Linke und Antisemitismus: Alle auf die Straße, jetzt
Auch die postkoloniale Linke muss gegen den aufflammenden Antisemitismus aufstehen – will sie sich nicht mit Rechtsextremen gemeinmachen.
D as linke Milieu in Deutschland ist in den ersten zwei Wochen nach dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilist*innen auffallend still geblieben. Auf der Handvoll Solidaritätsdemos, die es gab, waren höchstens ein paar Tausend, oft nur einige Hundert Menschen. Von zivilgesellschaftlichen Organisationen und linken Gruppen war nicht viel zu sehen. Das ist angesichts der brutalen Morde an rund 1.400 unschuldigen Männern, Frauen und Kindern erschreckend, aber irgendwie noch zu erklären: Der Nahostkonflikt ist kompliziert, die Linke bei dem Thema traditionell gespalten.
Nicht mehr zu erklären ist die Untätigkeit spätestens seit Mittwoch, als Unbekannte versuchten, eine Synagoge in der Berliner Brunnenstraße anzuzünden. Es war der bisherige Höhepunkt einer ganzen Reihe klar antisemitischer Angriffe auf Jüd*innen in Deutschland und ihre Einrichtungen. Zu der Mahnwache am Abend nach der Tat kamen rund 70 Personen.
Das ist eine Katastrophe. Wenn in Deutschland wieder versucht wird, Synagogen niederzubrennen, darf die deutsche Gesellschaft und vor allem die Linke nicht mehr untätig bleiben. Das gilt auch für die antiimperiale Linke, die traditionell den Palästinser*innen nahesteht. Keine Frage: Es ist legitim, um die unschuldigen Toten in Gaza zu trauern. Es ist auch legitim, gegen die Luftangriffe Israels zu demonstrieren und das Elend der Zivilbevölkerung in Gaza zu beklagen. Auch wenn man darin bisweilen ein merkwürdig einseitiges Mitleid erkennt, sollte klar sein: Für diese Positionen und Gefühle muss es Ausdrucksmöglichkeiten geben.
Aber viel von dem, was sich da derzeit in Deutschland abspielt, hat damit nichts mehr zu tun. Es ist der alte Hass auf Jüd*innen in neuer Form. Hiergegen muss sich die gesamte Linke nicht nur klar abgrenzen, sondern sie muss aktiv dagegen ankämpfen. Und sie muss endlich erkennen, dass unentschuldbarer Antisemitismus nicht erst da anfängt, wo es um tätliche Gewalt gegen Jüd*innen geht.
Kontinuitäten zwischen Nazizeit und Gegenwart
Um sich zu vergegenwärtigen, was für ein Geist da gerade teils durch deutsche Straßen weht, lohnt es, sich genauer anzuschauen, was am Mittwochabend vor dem Auswärtigen Amt geschah. Da kamen etwa 100 junge Leute für eine Sitzblockade zusammen, um gegen die deutsche Unterstützung für Israel zu demonstrieren. „Free Palestine from German guilt“, skandierten sie, wie auf einem Video zu hören ist, auf Deutsch: „Befreit Palästina von der deutschen Schuld.“
Das ist unbestreitbar nah dran an der Forderung vieler Rechtsextremer, den „deutschen Schuldkult“ zu beenden. Mehr oder weniger explizit steckt darin: Sobald es um die aktuelle Lage in Nahost geht, stört die Erinnerung an die deutschen Verbrechen nur noch. Weg damit.
Diese Nähe zu rechtsextremen Positionen ist kein Zufall. Die Kontinuitäten zwischen dem, was Nazideutschland in den 40er Jahren zum Massenmord trieb, und dem, was heute Jüd*innen weltweit und gerade in Nahost entgegenschlägt, sind relativ gut erforscht. Da sind deutsche Radiosender, die während des Zweiten Weltkriegs gezielt auf Arabisch den antisemitischen Wahn im Nahen Osten verbreiteten. Da ist der Mufti von Jerusalem, der mit den Nazis kollaborierte und der SS beitrat. Da sind die deutschen Kriegsverbrecher, die nach dem Sieg der Alliierten in Syrien Aufnahme fanden.
All das sollte endlich aufräumen mit dem Gerede vom „importierten Antisemitismus“, das gerade wieder bevorzugt von solchen Politiker*innen kommt, die vor wenigen Wochen noch zu Hubert Aiwangers Holocaust-Fantasien geschwiegen oder sie als Jugendsünden schöngeredet haben. Studien weisen auch in der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund erschreckend hohe Zustimmungswerte für antisemitische Aussagen nach. Der Hass auf Jüd*innen mag in unterschiedlichen Schattierungen auftreten, er ist und bleibt ein globales und auch gerade ein Problem Deutschlands, das ihn nicht nur mit Auschwitz zu seinem grauenhaften Höhepunkt getrieben, sondern ihn auch gezielt exportiert hat.
Genau deswegen muss die Linke – gerade in Deutschland – Antisemitismus bekämpfen, von wem immer er ausgeht. Und ja: Ein erster Schritt dazu könnte es sein, endlich demonstrieren zu gehen. Gleichzeitig muss gelten: Zusammen mit Antisemit*innen wird nicht demonstriert. Das schließt nicht nur all diejenigen aus, die Jüd*innen angreifen, sondern auch die, die mit antisemitischen Parolen und Forderungen geistige Vorarbeit leisten. Sie haben linke Solidarität nicht verdient.
Das muss unabhängig davon gelten, ob es um Nazis in Sachsen geht, Bayern im Karohemd, Studierende, die sich im postkolonialen Befreiungskampf wähnen, oder eben um Islamisten und ihre Unterstützer*innen in Neukölln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr