Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek: „Ich freue mich darauf, zu nerven“
Das Comeback der Linkspartei ist auch verbunden mit dem Namen Heidi Reichinneks. Was verbindet die 36-Jährige mit Rosa Luxemburg und Nofretete?

taz: Frau Reichinnek, noch vor kurzer Zeit galt Ihre Partei als ein Fall für den Insolvenzverwalter, jetzt hat sie so viele Mitglieder wie noch nie und sitzt mit 8,8 Prozent wieder in Fraktionsstärke im Bundestag. Können Sie Ihr Glück eigentlich fassen?
Heidi Reichninnek: Was da passiert ist, kann ich immer noch nicht richtig glauben. Als wir unsere erste Fraktionssitzung hatten, saßen da mehr als 60 Abgeordnete. Das ist ein Riesenunterschied zu unserer kleinen Gruppe vorher. Wir werden ganz anders wahrgenommen. Einfach zu wissen, wir sind jetzt wirklich wieder eine politische Größe, mit der man rechnen muss, ist richtig klasse. Wir werden Union und SPD mit Themen nerven, die sie gern beiseiteschieben. Darauf freue ich mich.
taz: Es gibt einen regelrechten Personenkult um Sie. Im Bundestagswahlkampf standen junge Leute Schlange, um ein Autogramm von Ihnen zu bekommen. Wie fühlt sich das an?
Reichinnek: Irgendwie falsch, denn ich mag keinen Personenkult und will gar nicht ins Rampenlicht, sondern meine Arbeit machen. Auch wenn es mir keiner glauben mag: Ich bin durchaus schüchtern. Ich freue mich natürlich, dass ich es geschafft habe, gerade jungen Menschen eine Stimme zu geben und deren Themen anzusprechen. Aber ich möchte, dass die Menschen selbst aktiv werden, wenn sie die Möglichkeiten haben. Dazu will ich ermutigen.
Heidi Reichinnek
geboren 1988, gehört seit 2021 dem Bundestag an und ist gemeinsam mit Sören Pellmann Vorsitzende der Linksfraktion. Ihr Studium an den Universitäten in Halle-Wittenberg und Marburg hat sie mit dem Master of Arts in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens abgeschlossen. Vor ihrem Parlamentseinzug arbeitete sie als pädagogische Mitarbeiterin bei der Jugendhilfe Osnbrück.
taz: Befürchten Sie nicht, irgendwann abzuheben?
Reichinnek: Meine Partei sorgt schon dafür, dass das nicht passiert. Sie können auch sicher sein, dass ich auch künftig nicht die Flugbereitschaft nutzen werde. Ich habe ja eine Bahncard. Die Basis unserer Arbeit sind außerdem Haustürgespräche, unsere Sozialberatung, die Mietwucherapp, der Check zur Heizkostenabrechnung, also all diese konkreten Alltagshilfen und Begegnungen vor Ort. Dass wir die Themen ansprechen, die sonst unter den Tisch fallen, darum geht es mir. Und dass wir klare Kante gegen Rechts zeigen.
taz: Bei den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD sind inzwischen die Arbeitsgruppenpapiere durchgesickert. Ist Ihnen dabei etwas besonders aufgestoßen?
Reichinnek: Schwangerschaftsabbrüche bleiben eine Straftat, das Ehegattensplitting bleibt, die Freistellung für das zweite Elternteil nach der Geburt kommt nicht – eine gleichstellungspolitische Katastrophe. Es gibt interessanterweise vernünftige Vorschläge für Kinder, Jugend und Familien, die Frage ist – was bleibt am Ende, wenn die angedrohten Kürzungen im Haushalt kommen?
taz: Als Fraktionsvorsitzende müssen Sie Generalistin sein und zu jedem Thema sprechfähig. Wie schwer fällt Ihnen das?
Reichinnek: Ich habe mich eh immer für vieles interessiert, daher funktioniert das schon ganz gut. Es ist klar, dass ich mich mit einigen Themen besser auskenne als mit anderen. Aber ich habe so viele tolle Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen in der Fraktion, deren Expertise ich wertzuschätzen weiß, dass ich das gut hinkriege.
taz: Als Sie 2021 erstmalig in den Bundestag eingezogen sind, war die Linksfraktion untereinander völlig zerstritten. Wie wollen Sie verhindern, dass sowas nochmal passiert?
Reichinnek: Die Leute, die jetzt reingekommen sind, tun das mit einem ganz anderen Verständnis von Zusammenarbeit. Sie haben gar kein Interesse daran, diesen destruktiven Stil von damals fortzusetzen. Der Fraktionsaufbau ist eine Riesenaufgabe. Wir sind ja eine bunte Mischung, die vom Kfz-Mechaniker über mehrere Pflegekräfte bis zum Forstwirt reicht. Als Fraktionsführung versuchen wir, kooperativ und maximal transparent zu sein sowie alle Schritte zu erklären. Ich bin noch mit den Kennenlerngesprächen mit den neuen Abgeordneten beschäftigt, aber bisher habe ich nur positive Rückmeldungen bekommen.
taz: Und wie steht es um das Verhältnis zur Parteiführung, das in der Vergangenheit ebenfalls desolat war?
Reichinnek: Mir ist wichtig, wie wir zwischen Partei und Fraktion zusammenarbeiten: Jan van Aken, Ines Schwerdtner, Sören Pellmann und ich sprechen mit einer Stimme. Das war bei unseren Vorgänger:innen früher leider nicht so. Das handhaben wir anders und so soll es auch bleiben.
taz: Welche Rolle werden die drei „Silberlocken“ in der neuen Fraktion spielen?
Reichinnek: Wenn ich dazu mal Dietmar Bartsch zitieren darf: „Ich bin ein Arbeiter im Weinberg des Sozialismus.“ So ähnlich haben es auch Gregor Gysi und Bodo Ramelow formuliert, und das unterstütze ich sehr. Bodo Ramelow ist jetzt Bundestagsvize, die anderen beiden werden sich in den Ausschüssen einbringen. Dass alle drei „älteren Herren“ eine etwas größere Öffentlichkeit haben, freut mich sehr. Dadurch verschaffen sie auch Mitgliedern der Fraktion Zeit, um erstmal anzukommen. Wir haben so viel zu tun, dass jeder seinen Arbeits- und Aufgabenbereich finden wird, da mache ich mir gar keine Sorgen.
taz: Seit dem Wahlkampf hatten Sie noch keine Pause, sondern hetzen von einem Termin zum nächsten. Müssen Sie sich nicht fragen, wie lange Sie das noch durchhalten?
Reichinnek: Naja, noch stehe ich! Durch die Grundgesetztricksereien mit dem alten Bundestag hatten wir natürlich viel mehr zu tun als geplant. Ich hätte mir gewünscht, dass der neue Bundestag früher konstituiert worden wäre. Aber ab Mai – also wenn die Strukturen stehen und die Aufgabenbereiche verteilt sind – nimmt das Leben wieder normalere Bahnen an. Meine Hoffnung ist, über Ostern in paar Tage freimachen zu können, da möchte ich zu meiner Familie fahren.
taz: Ihre Eltern leben in Sachsen-Anhalt, wo Sie auch geboren wurden. Wie wichtig ist Ihnen Ihre ostdeutsche Herkunft?
Reichinnek: Dass ich in Sachsen-Anhalt aufgewachsen bin, hat mich sehr geprägt. Von der DDR an sich habe ich nicht mehr viel mitbekommen, ich bin ja erst 1988 geboren worden. Aber es gibt Unterschiede zwischen Ost und West, die nachwirken, wie ein anderer Blick auf Geschlechterverhältnisse. Der kam vor allem daher, dass die Arbeitskraft der Frau gebraucht wurde – wir dürfen uns die DDR nicht als feministische Utopie schönreden. Mein Vater war Elektriker, meine Mutter Chemiefacharbeiterin. Meine Eltern haben sowohl beide gearbeitet, als sich auch den Haushalt geteilt. Das war natürlich nicht überall so, aber bei uns zu Hause schon.
taz: Sehen Sie heute noch einen Unterschied zwischen West- und Ostlinken?
Reichinnek: Ich glaube, der verschwimmt immer mehr, auch wegen der ganzen neuen jungen Mitglieder. Und der Erfolg, den wir jetzt haben, ist unser gemeinsamer Erfolg. Fest steht aber auch: Wir wollen einen Fokus auf den Osten behalten. Wir möchten, dass anerkannt wird, was in den Wendezeiten passiert ist: der Ausverkauf des Ostens, die Zerstörung von öffentlicher Daseinsvorsorge, von Infrastruktur, die Massenentlassungen. Ich weiß, was das mit Menschen macht, wenn man ihre Lebensleistung abwertet. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.
taz: Ihre Partei hat in den vergangenen Wochen einen enormen Zulauf erlebt. Auf ein solches Hoch folgt jedoch meist ein Tief. Wie wollen Sie das verhindern?
Reichinnek: Wir wollen die neuen Mitglieder vor Ort einbinden. Die sollen ja nicht nur Mitgliedsbeiträge zahlen, sondern auch bei uns aktiv sein. Es gibt sehr vieles, was man auch jenseits eines Wahlkampfs machen kann: Mieter:innenstammtische, Nachbarschaftscafés oder auch politische Kampagnen zum Beispiel für einen bundesweiten Mietendeckel. An Wahlkämpfen fehlt es übrigens auch nicht: viele unserer neuen Mitglieder haben sich schon verabredet, um bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen im September zu unterstützen. Nächstes Jahr stehen gleich vier Landtagswahlen im Terminkalender. Auf die in Sachsen-Anhalt freue ich mich natürlich besonders.
taz: Das Konzept lautet also Aktivismus?
Reichinnek: Es geht auch um ganz viel politische Bildung und Schulungsarbeit. Wir werden vieles erklären müssen: Wie funktioniert diese Partei eigentlich mit den ganzen unterschiedlichen Ebenen und Gremien? Es wird natürlich auch programmatische Auseinandersetzungen geben, die moderiert werden müssen. Wir befinden uns in einem Umbauprozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein wird.
taz: Er dürfte nicht leicht werden. Das Durchschnittsalter der neuen Parteimitglieder liegt bei 28. Deren Ansprüche dürften andere sein, als die vieler älterer Mitglieder, die sich in den eingefahrenen Strukturen eingerichtet haben.
Reichinnek: Richtig, aber im Wahlkampf habe ich auch erlebt, wie viele Rentner:innen, die uns in den düstersten Zeiten die Treue gehalten haben, richtig froh sind, dass jetzt Neue gekommen sind. Die Älteren haben Infostände angemeldet, die Orga gemacht oder den Kuchen gebacken, die Jüngeren sind an die Haustüren gegangen. Das hat sich toll ergänzt. Es wäre vollkommen vermessen zu glauben, dass jetzt alles nur super laufen wird. Aber wenn wir es schaffen, sehr viele Leute einzubinden in die Partei und Erfolge gemeinsam zu feiern, ist schon viel gewonnen.
taz: Eine Partei feiert aber nicht nur Erfolge.
Reichinnek: Das stimmt leider. Ja, es kann anstrengend sein, wir sind auch manchmal genervt voneinander. Und natürlich werden Leute auch mal enttäuscht sein. Aber die Frage ist doch, wie man mit dieser Enttäuschung umgeht. Wie kann sie aufgefangen werden? Da sind wir jetzt an einem ganz anderen Punkt als noch vor einem Jahr, weil die Grundstimmung eine andere geworden ist.
taz: Haben Sie ein politisches Vorbild?
Reichinnek: Wie auf meinen Arm zu sehen ist, hat Rosa Luxemburg für mich eine große Bedeutung. In politisch harten Zeiten hat sie immer für ihre Überzeugung gekämpft, gegen alle Widerstände. Gleichzeitig behielt sie immer das Menschsein im Fokus, konnte Lebensfreude empfinden, trotz alledem. Das finde ich total beeindruckend. Die Politik ist ein Machtbetrieb, aber eigentlich geht es nicht um Macht und Status und Aufmerksamkeit, sondern darum, etwas für die Menschen zu erreichen. Dafür steht für mich Rosa Luxemburg. Deswegen auch das Tattoo.
taz: Wann haben Sie es sich stechen lassen?
Reichinnek: Das war Anfang 2021, also noch bevor ich in den Bundestag gewählt wurde. Ich fand, dass es perfekt unter mein Nofretete-Tattoo passt, das ich ja schon vorher hatte.
taz: Wieso Nofretete?
Reichinnek: Nach meinem Bachelor war ich von September 2010 bis Juni 2011 in Kairo. Ich habe da studiert und als Au-pair gearbeitet. Das war genau in der Zeit des Arabischen Frühlings, der dann traurigerweise sehr schnell zum Winter wurde. Auf dem Tahrir-Platz habe ich erlebt, wie die Menschen mit großen Hoffnungen feierten. Alle waren glücklich und dachten, hier bewegt sich was. Einen Tag später ging das alte Regime mit allergrößter Brutalität gegen die Demonstrant:innen vor. Auch das habe ich miterlebt, und das lässt einen so schnell nicht mehr los. Es gab damals einen linken Graffiti-Künstler, der das Bild der Nofretete mit Gasmaske an die Wände gesprayt hatte, als Protest gegen das massenhaft eingesetzte Tränengas, aber auch als Symbol für die bedeutende Rolle der Frauen in dieser leider gescheiterten Revolution. Wegen dieser Symbolkraft trage ich es auf meinem Arm.
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