Krieg in der Ukraine: Putins Feind ist die Nato

Die Außenpolitik des Westens verlässt sich auf die magische Funktion von Worten: etwas zu sagen ersetzt die Notwendigkeit, etwas zu tun.

Norwegische Soldaten mit angelegtem Gewehr im Schnee während einer Militärübung der NATO

Norwegische Soldaten beim Nato-Mannöver „Cold Response 2022“ am Nördlichen Polarkreis am 24. März Foto: Yves Herman/reuters

August 2013. Die Assad-Diktatur in Syrien beschießt die eigene Bevölkerung mit chemischen Waffen. Über 2000 Menschen sterben. US-Präsident Barack Obama hat zuvor einen C-Waffen-Einsatz in Syrien als „rote Linie“ bezeichnet. Und doch gibt es keine Konsequenzen.

Sechs Monate später überfällt Russland die Ukraine und annektiert die Krim.

August 2021. Afghanistans Taliban stoßen auf Kabul vor. Die USA, vertragliche Schutzmacht der Regierung, ziehen hastig ab und überlassen ihre Verbündeten sich selbst. Die Taliban übernehmen kampflos die Macht.

Sechs Monate später überfällt Russland die Ukraine und bombardiert Kiew.

Zwei Dinge lassen sich daraus schließen: Erstens: Der Westen hält sich nicht an das, was er sagt. Zweitens: Putin nutzt das aus, um seinen Ukraine-Komplex zu befriedigen.

Versprechen blieben unerfüllt

Westliche Außenpolitik trägt gern Werte vor in der Hoffnung, dass dies Handlungen ersetzt. Man sagt etwas, statt es zu tun. Man schreibt Worten eine abschreckende, ja magische Funktion zu: die verbale Drohung genügt, um sie nicht umsetzen zu müssen.

Putin hat das längst durchschaut. Schon 2008 sollten die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden. Deutschland und Frankreich waren dagegen. Also gab es nur die theoretische Zusage, aber keinen Beitrittsprozess. Vier Monate später verleibte sich Russland Teile von Georgien ein.

Wäre die Nato-Osterweiterung 2008 vollendet worden, wäre Assad 2013 in die Schranken gewiesen worden, wäre Kabul 2021 verteidigt worden – die Welt wäre heute eine friedlichere. Das verbrannte Trümmerfeld namens Mariupol wird in die Geschichte als Putins Vermächtnis eingehen, aber auch als Mahnmal für ein westliches Politikverständnis, das nicht begriffen hat, wie viele Menschenleben es kostet, markige Worte in Nichtstun münden zu lassen.

Der russische Präsident hat aus seinen Ambitionen, die Ukraine zu zerschlagen, nie einen Hehl gemacht. Aber hier hielt man das für ebenso leere Rhetorik wie die eigene. Natürlich ist auch Putin ein Meister der Lüge. Er lügt nur so offen, dass der Westen auch das wieder nicht ernst nimmt. In den laufenden Friedensgesprächen mit Kiew fordert Moskau eine neutrale, demilitarisierte Ukraine. Das ist Unsinn.

Ein neutraler Staat kann nicht demilitarisiert sein, er hat ja keine Verbündeten. Im realen Leben sind neutrale Staaten hochgradig abwehrbereit. Man blicke auf die Schweiz, auf Finnland, auf Schweden. Auf so eine Neutralität könnte sich Kiew einlassen: eine starke, wehrhafte Ukraine, die Russland in Schach hält und dafür die Nato nicht braucht.

Entweder neutral oder demilitarisiert

Aber das will Russland natürlich nicht. Neutral soll nicht die Ukraine werden, sondern die Nato. Sie soll stillhalten, während die Ukraine vernichtet wird. Wenn Russland Neutralität und Demilitarisierung sagt, meint es nicht die Ukraine, sondern den Westen. In Moskau wird das offen gesagt. Der Ukrainekrieg ist da der Anfang des großen Feldzugs gegen die dekadente westliche Liberalität. Es wird diskutiert, dass man in 30 Sekunden Warschau auslöschen könnte und dass es an der Zeit sei, einen Landkorridor nach Kaliningrad zu schaffen.

Für Putin ist längst die Nato der Kriegsgegner. Ist die Nato bereit, diese Rolle anzunehmen? Was wäre, wenn russische Raketen in Polen einschlagen oder russische Soldaten einen Streifen von Litauen okkupieren? Gilt dann die Nato-Beistandsverpflichtung wirklich ohne Wenn und Aber?

Zweifel sind angebracht. Eine Flugverbotszone über der Ukraine lehnt die Nato ab, weil sie zum Atomkrieg mit Russland führen könnte. Aber wenn die Angst vor dem Atomkrieg eine Flugverbotszone verhindert, verhindert sie im Ernstfall nicht auch den Nato-Beistand an der Ostflanke? Mariupol darf verrecken, aber für Vilnius riskiert man alles? Wirklich? Das ist noch unglaubwürdiger als Obamas „rote Linie“ in Syrien oder die US-Schutzgarantie für Afghanistan.

Wenn Russland mit seinem Krieg auf den Westen zielt, ist die Ukraine der Ernstfall. Dann kann man nicht für Warschau kämpfen wollen, aber Kiew allein lassen. Man kann nicht einen Kriegseinsatz gegen Russland in der Ukraine ausschließen, zu dem man sich im Baltikum verpflichtet. Es ist Zeit für Ehrlichkeit in der Außenpolitik.

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Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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