Identitätspolitik an Unis in UK: Weiße Arbeiterkinder unerwünscht

Was ist in Großbritannien an den Universitäten los? Zwischen Wokeness und der Sicherung alter Pfründen. Notizen aus Academia.

Stundent*innen stehen vor der Elite-Universität St Andrews in Schottland

Prinz William und Herzogin Kate lernten sich an der Elite-Uni St. Andrews kennen Foto: Roland Marske/imago

Ein unerquickliches, kompliziertes Thema, diese wokeness. Ben Hutchinson, Professor für Europäische Literatur an der University of Kent, befragt zu einem Artikel in der Times, der unlängst in Großbritannien für Diskussionen sorgte, kommentiert in Abwandlung eines bekannten Zitats von Karl Kraus lapidar: „Zur Zensur fällt mir nichts ein.“ Andere britische senior academics schweigen lieber – die Sache löst, wie auch anders, Misstrauen, Frustration oder Resignation aus. Und Angst, durch eine anstößige Wortmeldung die Karriere zu riskieren.

Doch worum geht es? In einer großangelegten Aktion hatten Journalisten des rechten Murdoch-Blattes Times britische Universitäten mit einer Welle von „Freedom of Information“-Anfragen überschüttet. Man wollte herausfinden, inwieweit die an US-Universitäten erbittert ausgefochtenen wokeness wars im Vereinigten Königreich angekommen sind.

Wie zu erwarten, förderte die Kampagne, die darauf gerichtet war, eine „linke Diskursdiktatur“ zu entlarven, das gewünschte Ergebnis zutage: Mehr als zehn Universitäten, darunter drei der Topliga, hatten Bücher aus den Leselisten verbannt sowie mehr als tausend Werke mit trigger warnings versehen.

Uwe Schütte hat in England studiert und von 1999 bis zum Brexit an einer britischen Universität gelehrt

Zensierte Literaturtitel

Unter den vorsorglich zensierten Literaturtiteln befanden sich etwa Colson Whiteheads Erfolgsroman „The Underground Railroad“ (wegen der Darstellung der Grausamkeiten gegen Sklaven) oder Strindbergs Drama „Miss Julie“ (aufgrund der Suizidthematik). Die Liste von Werken, deren Lektüre die Studierenden vermeiden sollten, da sie „emotional herausfordernde“ Stellen enthalten, reichte von mittelalterlichen Pilgergeschichten des Geoffrey Chaucer bis zu Thomas Meineckes Theorieroman „Tomboy“.

An US-Verhältnisse reicht dergleichen kaum heran, lieferte der prospektiven konservativen Premierministerin Liz Truss aber dennoch die Steilvorlage. „Bildung gelingt nur in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt und Redefreiheit,“ so Truss, „linker Gruppenzwang schadet dem nur. Unser Alltag wird durch Warnhinweise doch nicht erleichtert, wir können Studierende darum auch nicht vor kompliziertem Gedankengut schützen und sollten das unterlassen.“

Die Krux an solchen kalkulierten Sätzen aus der Rhetorik des Rechtspopulismus ist freilich, dass an ihnen leider auch etwas dran ist. Mehr noch: Was eine eminent anti-intellektuelle Politikerin wie Truss hier ausdrückt, betrifft den Kern des Akademischen, zumal in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.

Es betrifft den Kern des Akademischen

Kritisches Denken erfordert die Hinterfragung verfestigter Ansichten, selbstkritische Überprüfung des eigenen Denkens und nicht zuletzt die Bereitschaft, eigenen Überzeugungen zuwiderlaufende Sichtweisen anzuhören und zu prüfen. Denn nur durch einen offenen Diskurs kann überhaupt so etwas wie die (ohnehin nur in Näherungswerten erreichbare) „Wahrheit“ etabliert werden.

Keine Ambiguitätstoleranz

Dass die unter dem Vorzeichen der Identitätspolitik derzeit erfolgende Revision der universitären Kultur den Kern des Akademischen auf lange Sicht aushöhlt, kann kaum bezweifelt werden. Was eines der zentralen Ziele jedes Studiums sein sollte, – das Erlernen von Ambiguitätstoleranz –, wird zum erklärten Feindbild.

Nichts darf sich der Eindeutigkeit entziehen. Alles muss Farbe bekennen. Schwarz oder weiß; keine Graustufen erlaubt. Denn an die Stelle des Zweifels am eigenen Standpunkt tritt die Gewissheit des Rechthabens. Diese Apodiktik haben Wokeness-Jünger*innen durchaus mit den rechten Kulturkämpfern gemeinsam.

Es ist jedenfalls sinnig, dass der neue Überlegenheitsdiskurs im Hochschulwesen des Vereinigten Königreichs insbesondere an den Eliteuniversitäten von Oxford, Cambridge und London effektiv Fuß fassen konnte. Der moralische Besserwissergestus der woken verlängert passgenau den früheren intellektuellen Herrschaftsanspruch der alteingesessenen Männerbrigade.

Ist die politische Korrektheit in Deutschland eher eine der Strategien der Selbstgerechten aus dem linksliberalen akademischen Milieu, um ihre sozialen Privilegien vor der Unterschicht zu schützen, so ist im britischen System auffällig, dass insbesondere Privatschulzöglinge und Oberschichttöchter sich als vehemente Streiter für sexuelle und ethnische Minderheiten erweisen.

Wokeness dient mithin zur politischen Neutralisierung wie moralischen Befestigung eigener sozialer Privilegien. Ihre emanzipative Stoßrichtung wird damit ins Gegenteil pervertiert.

„Weiße“ Arbeiterkinder need not apply!

Exemplarisch ablesen lässt sich dies an der Jobanzeige, mit der man in Oxford im Frühjahr 2021 die Leuchtturm-Position in der britischen Germanistik, nämlich die Schwarz-Taylor-Professur für Deutsche Sprache und Deutsche Literatur, zu besetzen suchte: „Applications are particularly welcome from women and black and minority ethnic candidates, who are under-represented in academic posts in Oxford.“ Was deutlich genug sagt: „weiße“ Arbeiterkinder need not apply!

Ein anderer Aspekt der Wokeness-Problematik an britischen Universitäten ist die im Vergleich zu Deutschland grundlegend andere Universitätskultur. Die britischen Hochschulen agieren als Dienstleister, die ihre horrende Studiengebühren zahlenden Studierenden als Kunden betrachten, die – einer Marketingweisheit zufolge – als Könige zu behandeln sind.

Zu welchem Absturz akademischer Qualität dies geführt hat, habe ich mehr als zwei Jahrzehnte lang an meiner Birminghamer Institution beobachten können. Dort wurden die intellektuellen Anforderungen beständig heruntergeschraubt, damit Noten, und also die student satisfaction, nach oben geht.

Wer bei einer Klausur oder gleich im ganzen Studienjahr durchfällt, darf alles dreimal oder mehr wiederholen, weil die Abbrecherquote um keinen Preis steigen darf. Offenkundige Plagiate, die sich aber nicht wasserdicht nachweisen lassen, werden toleriert. Und so weiter.

Verfall der intellektuellen Qualität

Dies alles unter dem Diktat der league tables, bestimmt doch Auf- oder Abstieg auf den diversen Ranglisten das Schicksal jeder Fakultät. Vor dem Hintergrund solch akademischer nanny culture ist der Verfall der intellektuellen Qualität des Studiums zu verstehen. Was ich als universitärer Lehrer auf Seiten der Studierenden zu vermeiden hatte, waren Erfahrungen der Überforderung, des Nichtverstehens, der Verunsicherung.

Die Kunst der Wiener Aktionisten beispielsweise triggerte 2012 im Unterricht noch Irritationen, die interessante Diskussionen auslöste, was „Kunst“ alles sein kann (oder nicht). Die letzten paar Jahre hingegen führten Schwarzkogler, Brus, Nitsch et al. nur noch zu reaktionären Urteilen bzw. kategorischer Ablehnung als Abjektes, mit dem man lieber nicht konfrontiert werden möchte.

Durch die Neoliberalisierung der higher education verfielen nicht nur intellektuelle Neugier oder kritisches Denken, sondern etablierte sich seitens des academic managements zunehmend ein Regime, das dem Kunden, in der Furcht vor potentiellen Beschwerden, vor allem Inkommensurablen zu bewahren trachtet. Die Selbstzensur der Lektürelisten und die Proliferation von trigger warnings sind wesentlich vor diesem Hintergrund zu verstehen, selbst wenn sie in vielen Fällen durchaus berechtigte Anlässe haben können.

Stressfreier Weg zu besseren Noten

Von einer „linken Meinungsdiktatur“, wie sie die Konservativen und rechte Gesinnungsgenossen als Schreckgespenst an die Wand malen, kann allein schon deshalb keine Rede sein, weil die allermeisten Dozierenden längst schon ihre akademische Freiheit zu selbstbestimmter Lehre weitgehend verloren haben in dem aufgenötigten Endzweck, den Studierenden einen glatten, möglichst stressfreien Weg zu einem Abschluss mit besserer Note als eigentlich verdient zu bahnen, sprich: dem Kunden value for money zu bieten.

Der intellektuelle Niedergang des britischen Hochschulwesens ist folglich nur ganz zu verstehen, wenn man begreift, wie das bestehende neoliberale Regime aus student experience management und Profitmaximierung eine passgenaue Allianz mit der wokeness eingeht, die sich im spezifischen Milieu der Universität so erst recht zunehmend als Herrschaftsdiskurs installiert.

Bildung wird zu einem (teuer erkauften) Service, Dozenten zu willfährigen Dienstleistern, die Spaltung zwischen Exzellenzunis und dem traurigen Rest verstärkt sowie soziale Privilegien gegenüber den Ausgeschlossenen gesichert.

Der verbliebene Rest an widerständigem Denken, an zeitgeistresistentem Nonkonformismus, academic eccentricity – all das, was zumal britische Universitäten einst auszeichnete – wird nun mit der gesinnungspolizeilichen Keule der wokeness ausgetrieben. Die Hochschule, nicht nur in Großbritannien, so befürchte ich, wird bald schon kein Ort der Emanzipation mehr sein, sondern der ideologischen Konformität.

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