Frei von Smartphone: Mein Leben ohne Äppärät
Unsere Autorin surft das Web wie ein Profi. Aber eine Welle reitet sie nicht mit – die des Smartphones. Damit ist sie nicht allein.
N eulich, in einer lauen Spätsommernacht, empfing ich ein Signal aus der Zukunft. Ich sah ein Schild, mitten in Berlin, an der Torstraße, wo App-Entwickler ihre Spesen mit ApplePay bezahlen, während Uber-, Bolt- und Lieferando-Fahrer wie ausgehungerte Wespen um den Block kreisen, allzeit bereit, über ein Samsung Galaxy, ein Sony Xperia oder ein Xiaomi für einen Auftrag angepingt zu werden; wo formschöne Influencer, rummelplatzlustige Tik-Toker und Insta-Touris ihre Storys drehen: Ich, wie ich wieder einmal sehr viel Fun habe und mega cute wirke dabei, und Tinder-Opfer auf ihre Wisch-und-weg-Dates warten. Dort, zwischen all den elektrisch blau beleuchteten Gesichtern, sah ich also das Schild, und das Schild sah mich, und wir beide wussten: Etwas kippt gerade. Etwas wird sich ändern.
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Das Schild flimmerte nicht und machte keinerlei Geräusch, man konnte sich nicht mit ihm unterhalten. Es befand sich auch kein QR-Code darauf. Es handelte sich um eine schlichte Schiefertafel, sie stand vor einem Lokal, jemand hatte mit Kreide drauf geschrieben: „Wir haben kein WLAN! Redet miteinander! Tut so, als wäre es 1995!“
Vor Rührung blieb ich kurz stehen. Dieses Schild war wie ein Trost. Nein, es war viel mehr, es war wie eine lang ersehnte Bestätigung: Ich hatte recht gehabt, die ganze Zeit, all die updatehysterischen Jahre über.
Die Sache ist die: Ich lebe ohne Smartphone. Stur, stolz und schon immer.
Eigentlich dürfte es jemanden wie mich gar nicht mehr geben. Deshalb reagieren viele Menschen irritiert auf diese Information, und aus diesem Grund schicke ich drei Punkte lieber gleich mal voraus.
Erstens: Ich habe nichts gegen das Internet, im Gegenteil. Junge Leute, die zwischen 1995 und 2012 zur Welt kamen, werden in den Medien jetzt als „iGen“ bezeichnet, als „iGeneration“ – „i“ wie iPhone. Menschen wie ich, zwischen 1965 und 1980 geboren, gelten als „Generation X“, wobei das X symbolisch auf Restspuren von Punk, auf eine „Indie-Kultur“ verweisen soll. Fakt ist: Wir sind die Pionier:innen des Internets, diejenigen, die es überhaupt erst zum Laufen gebracht haben, damals, in den Tiefen der Neunziger. Meine Altersgruppe war es, die Wikipedia oder Youtube mit ersten Inhalten füllte, und auch heute schalte ich „das Netz“ noch beinahe täglich ein und mache mich bei Instagram interessanter, als ich bin, wie Millionen andere auch.
Zweitens: Ich bin von progressivem Temperament, halte etwa das Elektroauto, die neuartigen mRNA-Impfstoffe und die digitale Steuererklärung für wertvolle zivilisatorische Errungenschaften.
Drittens: Ich bin in keinster Weise religiös, und das Wort „Achtsamkeit“ löst einen unangenehmen Juckreiz bei mir aus. Weder will ich predigen noch irgendwen zu meiner Lebensweise bekehren. Vernünftigerweise müsste ich sogar davon abraten, denn der Alltag ohne Smartphone ist über die Jahre immer beschwerlicher geworden.
Wovon ich hier erzählen will, das ist eben dieses Kreideschild vor dem Lokal in Berlin-Mitte. Vielmehr das, was vorne drauf steht: „Redet miteinander! Tut so, als wäre es 1995!“
Ich warf einen Blick in das Lokal und sah dort ausschließlich junge Leute, viele waren 1995 vermutlich noch nicht mal geboren. Während ich 1995 schon 25 war und gerade meinen ersten „Home PC“ hochfuhr, mit einem klobigen „Tower“, einem Bildschirm mit grüner Schrift auf schwarzem Grund, einem mal röchelnden, mal kreischenden Modem und einer 12-stelligen Compuserve.com-E-Mail-Adresse. Ich war, im Tech-Jargon gesprochen, ein „early adopter“.
Heute bin ich in den Augen der 25-Jährigen eine alte Frau. Das nehme ich ihnen nicht übel, etwas anderes erscheint mir viel wichtiger: Qua Alter könnte ich ihre Mutter sein, aber über tausend Umwege auf der „Datenautobahn“ (*LOL*) werden wir womöglich gerade zu Geschwistern im Geiste.
Das Schild ist nämlich nur ein Indiz von vielen. Es mehren sich die Hinweise, dass sich gerade eine kleine Welle formiert: eine Anti-Smartphone-Bewegung. Das Erstaunliche ist: Die meisten sind noch keine 30, manche, von denen ich noch erzählen werde, haben gerade erst den 17. Geburtstag hinter sich, sind im rosigen Snapchat-Alter.
Von einer sich ausbreitenden „Ernüchterung gegenüber allgegenwärtigen digitalen Seinsformen“ spricht etwa das Wirtschaftswissenschaftsduo Mariam Humayun und Russell Belk. Die Kanadierin und der Amerikaner glauben, den Anbruch einer „postdigitalen Ära“ festgestellt zu haben, und sammeln seit 2020 Anzeichen für einen „subtilen Widerstand gegen die ständige Beschleunigung des Lebens“.
Von einem „No-Smart-No-Surf-Movement“ reden andere, und auch der Informatikprofessor und Internetphilosoph Cal Newport konstatiert einen lebendigen „Aufmerksamkeitswiderstand“.
Vom Digitalen Minimalismus und Neo-Ludditen
Newport ist der bekannteste Vertreter des „Digitalen Minimalismus“. Er rät, die angeblich so smarten Phones öfter mal links liegen zu lassen oder sie, noch besser, zu entsorgen und durch ein altmodisches Tastenhandy zu ersetzen – der seelischen Gesundheit wegen. Besonders beliebt hat er sich mit dieser Idee nicht gemacht. „Aber mein ganzes Leben steckt da drin!“, habe ich Smartphone-Besitzer:innen schon jaulen hören. Niemand will sich sagen lassen, dass er eventuell in einer toxischen Beziehung steckt, in einer einseitigen Love Affair mit einem Gebrauchsgegenstand. Niemand will sich belehren lassen, dass es – theoretisch – auch anders ginge.
Etliche Jungerwachsene probieren nun genau das aus: ein Leben ohne Smartphone. Manche nennen sich „Unplugger“, „Abschalter:innen“. Andere bezeichnen sich als „Neo-Ludditen“, moderne „Maschinenstürmer“. Diesen Namen haben sie von einer Arbeiter:innenbewegung aus dem 19. Jahrhundert geborgt, von den „Ludditen“, die, angeführt von dem Briten Ned Ludd, ihre Proletarierrechte gegen die Konkurrenz von Industriemaschinen verteidigen wollten.
Die „Neo-Ludditen“ verabschieden sich nun von ihren Smartphones und besorgen sich tatsächlich einfache Tastenhandys, in Amerika „Flipphones“ genannt. Manche löschen gleich auch noch ihre Social-Media-Konten aus ihren Laptop-Browsern, einige versuchen sogar, gänzlich offline zu gehen. Nicht nur in Berlin und Brooklyn, auch in Linz, London oder Lissabon treffen sie sich in WLAN-freien Parks, Cafés oder Bars, um sich über ihre Erfahrungen mit dem Abgeschaltetsein in einer rund um die Uhr angeschalteten Welt auszutauschen. In Zeitungsartikeln erzählen sie von ihrer Überforderung und Abneigung gegen das ständige Angepieptwerden, in nachdenklichen Essays machen sie „Werbung für die Realität“, wie die 1991 geborene Autorin Birthe Mühlhoff.
Gerade eben ist nun auch der erste deutschsprachige Anti-Smartphone-Roman erschienen: „Zeiten der Langeweile“ heißt er, geschrieben hat ihn die Kulturwissenschaftlerin Jenifer Becker, Jahrgang 1991. Die angeblich so sozialen Medien sind für die Romanheldin zu einem Geschwulst, zu einem „Teratom mit Zähnen und Haaren“ geworden, „das mich von innen aufzufressen drohte“. Sie ist es leid, sich über ihr iPhone „Inhalte in den Kopf zu gießen, die ich mittlerweile als Müll bezeichnete“. Also trennt sie sich von dem Gerät. „Auf einmal erstreckte sich der Tag vor mir wie eine fünfte Dimension, die ich eigentlich irgendwann in meiner Kindheit verlassen hatte“, sagt die Romanfigur, bevor sie merkt, wie unbeliebt sie sich damit bei vielen macht – und dann wiederum von ihrem Außenseiterinnentum überfordert ist.
Die jungen Smartphone-Skeptiker:innen führen einleuchtende Argumente an, warum sie sich von ihren immer wachen Geräten trennen: Weil sie nicht von früh bis spät mit Skandalen, Stars und Sonderangeboten belästigt werden wollen. Weil sie längst nicht mehr an den Zauber des Social-Media-Märchens glauben. Weil sie sehr genau wahrnehmen, wie künstliche Intelligenz sich immer weiter ins Spiel drängelt, Bots, Deep-Fakes und Ähnliches, und wie autoritäre Tendenzen sich weltweit verstärken, weshalb sie nicht jeden ihrer Schritte auf irgendeinem Server – wer weiß schon wo und von wem und zu welchem Zweck – gespeichert wissen wollen.
Zugegeben: Sie mögen nur eine winzige Mikrosubkultur sein, sehr süß – und komplett machtlos. Doch sie betrachten die Welt aus einem ähnlichen Blickwinkel wie ich, und das tut mir gut.
In meinem beruflichen und privaten Umfeld bin ich der Freak. Dieses eine lästige Huhn, das partout keine Whatsapp-Sprechblasen empfangen kann. Die anstrengende Tante, die nur per SMS erreichbar ist, der man E-Mails schreiben oder die man umständlicherweise sogar anrufen muss, wenn man etwas von ihr will. Ob ich zum Schlafen einen Aluhut aufsetze, wurde ich schon gefragt. Ob ich meinen Weltuntergangsbunker mit Kunstrasen ausgelegt hätte. „Sorry, aber diese Technikskepsis ist strukturell rechts“, sagte einmal ein Freund zu mir, und seine Unterlippe bebte, ob vor Ungeduld oder aus Zorn, vermag ich nicht zu sagen.
Seit auch mein Vater, ein schlauer Mann von gesunden 76 Jahren, sich ein Smartphone zugelegt hat und die Gifs und Sprachnachrichten zwischen ihm und meinem Bruder nur so hin- und herfliegen, frage ich mich in zunehmender Häufigkeit, woher mein Starrsinn rührt. Vielleicht ist es gar kein Trotz? Vielleicht bin ich moderat verrückt?
Beim „Unplugging“ handele es sich keineswegs nur um eine Teenagerlaune, sagt die prominenteste amerikanische „Maschinenstürmerin“, eine 17-jährige Highschoolschülerin namens Logan Lane, in einem Podcast der New York Times. Mit einem Dutzend Gleichaltriger hat sie in Brooklyn einen „Ludditen-Club“ gegründet: Alle haben ihre Smartphones abgeschafft, wenn sie sich treffen, sprechen sie über Bücher, zeichnen, hören Musik. Lane geht davon aus, dass es andernorts ähnliche Cliquen gibt, sie prognostiziert: „Da ist etwas Größeres im Gange.“
Und ich, ich bin dabei! – jubelte ich innerlich, als ich erstmals davon las. Endlich bin ich wieder einmal ganz vorn dabei!
Wenn ich die vergangenen 15, 16 Jahre auf meinem inneren Flatscreen Revue passieren lasse, kommen sie mir vor wie ein schriller Film – mit mir als supersympathischer Indie-Heldin, wie aus einem Jim-Jarmusch-Movie.
Am 9. Januar 2007 stellte Steve Jobs in San Francisco das erste iPhone vor. Rasch legten sich die Ersten in meinem Umfeld so ein Teil zu, und fast alle der Schnelleinsteiger:innen waren in den Medien tätig, viele im Segment „Lifestyle-Journalismus“, wo sich in den Nullerjahren noch obszön viel Kohle für unfassbar heiße Luft verdienen ließ. Zunächst diente das iPhone vor allem als Distinktionsmerkmal, als Statussymbol für Menschen, die damit prahlten, ab und an „beruflich in New York“ zu tun zu haben. „Typisch“, dachte ich, „verzapfen ihre hohlen, Trend-Newsletter' und nehmen sich selbst viel zu wichtig.“
2007 war auch das Jahr, in dem die Große Koalition in Berlin die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent und das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 anhob. Während die Unternehmensteuern erstmals seit Jahrzehnten gesenkt wurden, und das nicht zu knapp. Derweil wurde bekannt, dass die zwei reichsten Menschen der Welt, Bill Gates und Warren Buffett, mehr Geld besaßen, als die 45 ärmsten Länder der Welt in einem Jahr erwirtschafteten. Im Juni kam es beim G8-Gipfel in Heiligendamm zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei, im August platzte eine irre Immobilienblase, die globale Finanzkrise begann, was den Dow-Jones-Index nicht daran hinderte, zügig einen neuen Höchststand zu erklimmen.
„Neoliberalismus“ wurde das alles genannt. Das iPhone war das coole Maschinchen zur eiskalten Zeit. Und dementsprechend teuer. Selbst wenn ich es sexy gefunden hätte, hätte ich es mir nicht leisten können, und wahrscheinlich wurzelt hier meine Verachtung für das Smartphone an und für sich: Es war das metallisch schimmernde Sinnbild meines Klassenneids.
Mein Tasten-Nokia aus den frühen 2000ern und ich, wir kamen weiterhin gut miteinander klar, an meinem Heim-PC startete ich eine vielversprechende Myspace-Karriere mit fünf Fantasieprofilen auf einmal. 2008 büffelte ich HTML-Codes und meldete meine eigene Webseite an, was allerdings kaum jemanden interessierte, denn zur gleichen Zeit platzte Twitter in die Welt. 2009 besaßen dann schon fast alle in meinem näheren und weiteren Umfeld eines der nagelneuen Phones, ein Blackberry, ein Samsung Omnia, was weiß ich. Erinnert sich noch jemand daran, wie die Leute ihre schicken Telefone damals streichelten, mit verzücktem Blick, wie frisch verliebt? Das hielt ein paar grauenerregende Jahre an, mindestens bis 2011.
„Und du – zögerst? Ausgerechnet du, die immer bei allem mitreden will?“, wurde ich von da an öfters gefragt. „Immer schön mit der Ruhe“, antwortete ich, „man weiß doch, dass neue Erfindungen so ihre Macken haben, ich mache mich doch nicht zur unbezahlten Beta-Testerin fürs Silicon Valley.“ Ich weiß noch genau, wie die anderen belustigt ihre Köpfe schüttelten. Vielleicht schwang schon damals Mitleid mit, Mitleid mit mir, die sich zum Hinterherhinken entschlossen hatte.
Inzwischen weiß ich, dass 2009 erstmals der „Day of Unplugging“, der„Tag des Aussteckens“ ausgerufen wurde, dass sich schon damals Widerstand regte gegen das, was schlaue Leute bis heute „Die kalifornische Ideologie“ nennen – die Macht des Metaversums und von Google/Alphabet, die Datenfresserei in Palo Alto und Mountain View. Mein PC gab den Geist auf, ich organisierte mir ein Laptop und legte mir ein Facebook-Konto zu. Wie Twitter, nur weniger hektisch, so stellte ich es mir vor und schrieb „My phone is smarter than yours“ in mein Profil.
Derweil tat sich in Bonn und München Spannendes: Drei deutsche Netzintellektuelle, Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler und Sabria David, schalteten sich zusammen und schrieben am Neujahrstag 2010 einen Text, der binnen weniger Tage um die Welt ging: das „Slow Media Manifest“. Technische Errungenschaften werden darin ausdrücklich begrüßt – aber nicht wahllos: „Gerade durch die Beschleunigung in zahlreichen Lebensbereichen werden Inseln der bewussten Langsamkeit möglich, aber auch überlebenswichtig. Slow Media sind kein Gegensatz zur Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit von Twitter, Blogs und Social Networks, sondern eine Haltung und Art, sie zu nutzen.“ Die Mit-Autorin Sabria David trug als eine der Ersten den Begriff „digitale Resilienz“ in die deutsche Öffentlichkeit. Gemeint ist das Prinzip „weniger ist mehr“.
Anders als viele Smartphone People bekam ich damals aber nichts davon mit. Eigentlich absurd: Sie, denen nichts schnell genug gehen konnte, schickten sich das „Slow Media Manifest“ auf ihren flotten Scheibchen hin und her, während ich an meinen schwerfälligen Apparaten weitgehend ahnungslos zur Expertin für gepflegte Langsamkeit reifte.
Ich sah und sehe überhaupt keinen Reiz darin, ständig das ganze Internet mit mir herumzutragen – was für eine Last! Ich wollte und will nicht twentyfourseven auf x Kanälen erreichbar sein – was für eine Qual!
Lifehacks für „Digital Detox“
Ich hatte auch nie das Gefühl, etwas zu verpassen, keine Spur von FOMO bei mir. Der digitale „Müll“, von dem Jenifer Becker in ihrem Roman schreibt: Ich glaube, ich weiß, was sie damit meint. Manchmal kam ich am Laptop ins Driften und erschrak, dass ich mir drei Stunden am Stück kotzende Katzen und missglückte Brust-OPs angesehen hatte. Das war wie eine Tüte Schaumzucker essen, danach ist einem etwas schlecht, man ist irgendwie voll, aber zugleich auch ganz leer.
Cal Newport spricht von „sozialem Fast Food“: Konzerne wie Meta errichten Algorithmen-gesteuerte Aufmerksamkeitsfallen, die die User möglichst lange bei der Stange halten sollen, so wie Burgerketten ihre Kundschaft mit Geschmacksverstärkern fesseln wollen. Newports Recherchen zufolge konnte Facebook seine Umsätze durch die mobile Nutzung gehörig steigern. Über Apps bleiben die User sehr viel länger hängen als im Browser, belegen internationale Studien.
Push-News schubsten weltweit Menschen aus ihrem bitter nötigen Schlaf – mich nicht. Applikationen wurden downgeloadet, verhakten sich mit anderen Applikationen, wurden wieder gelöscht oder löschten ihrerseits ganze Kontaktdatenbanken – ich schnappte die Dramen bloß vom Hörensagen auf.
2011 wurde das Smartphone plötzlich für eine Menge Menschen überlebenswichtig: Im Arabischen Frühling nutzten Hunderttausende ihre Phones, um sich für Aufstände gegen ungeliebte Machthaber zu vernetzen. Erstmals sah ich einen überzeugenden Sinn in diesem Gerät.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Gleichzeitig nahmen in meiner vergleichsweise heilen Welt die Probleme zu – bei den anderen, nicht bei mir. Erste „Digital Detox“-Programme wurden angeboten, Lifehacks zur „digitalen Entgiftung“. Je mehr Apps die Leute sich herunterluden, desto trauriger und schlapper schienen sie zu werden. Als Außenseiterin konnte ich das Elend gut beobachten, in der U-Bahn, in den Mittagspausen: Wie sie auf ihren Maschinchen rauf- und runterscrollen, jede und jeder für sich, mit hängenden Köpfen. Welke Tulpen sah ich – während die Tulpen mich nicht sahen. So wie sie auch sonst kaum etwas wahrzunehmen schienen in ihrer dreidimensionalen Umgebung.
Leute schienen plötzlich massenhaft Selbstgespräche zu führen – ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das die neue Art des Telefonierens war: Man hat Stöpsel im Ohr, die Hände frei und plappert umso freier frei von der Leber weg auf das elektrische Scheibchen ein. Der Handelsvertreter, der im ICE-Abteil ungehemmt in sein Phone blökt, wurde zur Witzfigur, und Gary Shteyngart veröffentlichte den genialen Roman „Super Sad True Love Story“, in dem er das Smartphone als „Äppärät“ karikiert, an dem die User hängen wie Crystal-Junkies an ihren Pfeifchen.
Das Wort „Alienation“ ist mein liebstes englisches Wort, es bedeutet „Entfremdung“, und es gefällt mir, weil das Wort „Alien“ drinsteckt. Immer wenn ich in einem Magazin oder Podcast auf einen Report der Sorte „Wie ich einen ganzen Monat ohne Smartphone verbrachte und es unverletzt überlebte“ stieß, wirkte es auf mich wie Satire; wie eine der Social-Science-Fiction-Storys, die Autor:innen wie Margaret Atwood, William Gibson und Ray Bradbury sich im 20. Jahrhundert ausgedacht hatten: grell überzeichnete Szenen aus einer maschinengesteuerten Massenpsychose.
2014 startete #metoo, eine weitere digitale politische Bewegung, und ich las, wie schon beim Arabischen Frühling, am Laptop mit. Derweil versuchten manche Menschen, Tracking-Apps auf die Phones ihrer Liebsten zu schmuggeln, um deren Wege zu kontrollieren, andere steigerten sich in eine Häkchen-Hysterie, wenn ihr Schwarm ihre Whatsapp-Nachricht zwar gelesen, aber noch nicht beantwortet hatte. „Digitale Eifersucht“, „Digitaler Burnout“, „Shit Storms“, „Hatespeech“: All diese Psycho-Phänomene tauchten erst mit dem Smartphone auf, und die Leute kamen bald kaum noch hinterher mit den Worterfindungen für all den Ärger, den sie sich in ihre Hosentaschen gesteckt hatten.
Und so ging es weiter und weiter, und immer musste ein neues Update her. „Länger als der Umfang des Äquators und fünf Mal so schwer wie der Berliner Fernsehturm“: So beschrieb der Branchenverband Bitkom jüngst die Masse des Elektroschrotts. 210 Millionen Phones haben die Deutschen in den vergangenen Jahren verschlissen, zweieinhalb pro Bürger:in.
Neun von zehn Deutschen besitzen laut Statistischem Bundesamt heute ein oder mehrere Smartphones. In der Einkommensklasse ab 5.000 netto im Monat sind es 97 Prozent, bei denen, die weniger als 1.250 Euro heimbringen, nur 70. Am stärksten ist die Smartphonedichte bei den als besonders „leistungsfähig“ geltenden 25- bis 34-Jährigen (99 Prozent), am dünnsten bei den tendenziell nicht mehr ganz so fitten über 80-Jährigen (52 Prozent). Grob zusammengefasst: Wer’s bringt – oder so tun will, als ob –, trägt so ein silbrig oder Darth-Vader-schwarz schimmerndes Ding mit sich herum. Der Alien bin eindeutig ich.
Von wegen Dumbphone
Mit der Zeit hat mein Nokia ein paar Schrammen abbekommen, auf dem Display sitzen schwarze Pixelspratzer, ansonsten läuft es seit rund 20 Jahren tadellos, mit Prepaid-Karte. Von Tech-Insidern wird so ein Gerät abfällig Dumbphone genannt, „dumb“ wie „dumm“, im Gegensatz zu „smart“ wie „clever“. Ich aber denke – immer noch –, dass Leute, die so sprechen, dümmer sind als mein Dumbphone und ich zusammen.
Gleichzeitig ahne ich, dass ich eines Tages wahrscheinlich meinen Frieden schließen muss mit der Gegenwart, wie sie nun mal ist. Es vergeht kaum noch ein Tag, an dem ich es nicht spüre: Die QR-Code-Schlinge zieht sich immer enger zu. Beim Fahrrad- oder Carsharing zum Beispiel: schöne Idee – ohne Smartphone keine Chance fürs Mitmachen. Beim Onlinebanking geht es in die gleiche Richtung. Viele Banken haben das SMS-Tan-Verfahren schon abgeschafft, es läuft nur noch über Apps. So wie auch die Kommunikation mit der Bundesagentur für Arbeit ohne Installation der „BA-Mobil“-App nur noch mühsam möglich ist.
Fast ist es nun schon eine Staatsbürger:innenpflicht, sich einen Äppärät zu besorgen. Das 49-Euro-Ticket gibt es bekanntlich nur in digitaler Version, und wer im Alarmfall vom Katastrophenschutz gewarnt werden will, braucht ein möglichst aktuelles Smartphone, keinesfalls darf es älter als fünf Jahre sein.
Und dann ist da natürlich die Covid-App. Vielerorts genügte es nicht, die Impfungen mit dem fledderigen Büchlein aus gelbem Papier nachzuweisen, das digitale Zertifikat war ein Muss.
Digitaler Mischkonsum im stationären Modus
Und nun ja – an diesem Punkt ist es in diesem Text Zeit für eine kleinlaute Beichte: Ich bin längst eingeknickt. Ich besitze ebenfalls ein Smartphone. Sogar schon seit 2017. Aber ich schwöre: Ich benutze es nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Es hat keine Sim-Karte, ist praktisch tot, und es befinden sich exakt zwei Apps darauf: zum einen die Covid-App, um keine Probleme zu bekommen, wenn ich meine Mutter im Pflegeheim besuche.
Zum anderen die taz-App. 2017 hatte ich mich bei dieser Zeitung um eine Stelle beworben. Die taz war, wie alle Medienhäuser, dabei, ihre Digitalkanäle auszubauen. Den Job würde ich nicht kriegen, wenn herauskäme, dass ich eine Smartphone-Feindin bin, fürchtete ich. Also schloss ich hektisch einen einjährigen Providervertrag ab – nur um als Prämie ein veraltetes iPhone-Modell zu erhalten, dessen Sim-Karte ich niemals aktivieren würde, das ich beim Bewerbungsgespräch aber demonstrativ auf den Tisch legen konnte, direkt vor die Nasen der Chefredaktion. Ich habe gefaket – und den Job bekommen.
Danach rührte ich das Ding monatelang nicht mehr an und verachtete nicht nur den Neoliberalismus noch ein bisschen mehr als ohnehin schon, sondern schimpfte auch mich selbst – fürs Kleinbeigeben. Ich war nicht mehr jung und brauchte das Geld: Damit habe ich mich dann zu besänftigen versucht.
Als eines Tages mein kleiner digitaler Fotoapparat abschmierte, knickte ich ein weiteres Mal ein. Seither nutze ich das Smartdings für meine Selfies und Urlaubsfotos, bin dabei aber so langsam wie eh und je: Um die Bilder ins Internet zu hieven, überspiele ich sie per USB-Kabel aufs Laptop und lade sie von dort aus hoch, meist ein bis acht Tage nachdem sie entstanden sind.
„Digitaler Mischkonsum im stationären Modus“: So könnte man meine Methode vielleicht bezeichnen – und mein nur selten berührtes Smartdings als „System-Kompromiss-Apparat“.
Wenn ich sehe, wie die digitale Menschenkontrolle in China mittlerweile läuft, wenn ich lese, wie der Paypal-Gründer Peter Thiel das Donald-Trump-Lager sponsert oder wenn ich den neuesten Weltbeherrschungstraum von Elon Musk aufschnappe, wird mir angst und bang.
Andererseits will ich nicht so klingen wie eine „Anti-Globalistin“, wie eine der neuen (alten) Rechten, die gegen alles hetzen, was ihre Hutschnur übersteigt. Schon gar nicht will ich klingen wie Ted Kaczynski, der glühende Selbstversorger und Anti-Zivilisations-Anarchist, der in den 1990ern als Una-Bomber bekannt wurde, nachdem er 16 Paketbomben quer durch die USA geschickt, 23 Menschen verletzt und drei getötet hatte – aus Hass auf den technischen Fortschritt. Gelegentlich komme ich mir selbst schon verdächtig vor. Sind es nicht immer Terroristen, immer die fiesesten Gangster aus „Aktenzeichen XY“, die sich über einfache Wegwerfhandys verabreden – mit Prepaid-Karten?
Stalking und Bevormundung
Aber: Ich hänge an meinem Nokia. Ohne Navigationsapp verlaufe ich mich gelegentlich, doch dabei erfahre ich sehr viel von der Welt, wenn ich mal nach dem Weg fragen muss, komme ich mit Fremden ins Gespräch. Ich will nicht immer schon vorher wissen, „was andere User von x oder y halten“, will mich überraschen lassen und verschwinden können. Will nicht, dass Algorithmen mir ständig einflüstern, was „gut für mich“ ist. Das wirkt auf mich wie eine Mischung aus Stalking und Bevormundung. In der Psychologie gibt es den Begriff der „Nachbeelterung“. So heißt eine Therapieform für Menschen, die in der Beziehung zu ihren Eltern zu kurz gekommen sind – und genau so wirken manche Smartphone People auf mich: als ob sie rund um die Uhr nach Betreuung hungern. Und nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, alles wollen sie immer instantly haben. Ich weiß, dass die Smartphone People mich für kindisch halten. Dabei sind sie doch die ewigen Kinder. Das denke ich tatsächlich.
Logan Lane, die 17-jährige „Neo-Ludditin“, sagt: „Keine Ahnung, wie die Welt in sechs Jahren aussieht. Ich hoffe, dass ich dann auch ohne Smartphone noch einen Job finden werde. Ehrlich gesagt, bin ich da aber ziemlich pessimistisch.“
Für Sabria David, die Autorin des „Slow Media Manifests“, liegt die junge Amerikanerin mit ihrer Einschätzung richtig. Für breiten Widerstand gegen „smarte“ Technik sei es zu spät, sagt David, als ich sie via Zoom kontaktiere, „die unreflektierte Nutzung ist einfach sehr verbreitet“. Eines dürfe man nicht übersehen: „Das ist schon auch ein kleiner Kreis – das sind selbstbewusste Jugendliche aus medienkritischen Elternhäusern oder Schulen, die gelernt haben, die Dinge zu hinterfragen.“ Ähnliches betonen auch Humayun und Belk, die zur „postdigitalen Ära“ forschen: Viele Menschen seien beruflich auf digitale Geräte angewiesen, vor allem in der Gig Economy, wo schlecht bezahlte Jobs auf Zuruf verteilt werden. Das Sich-ausklinken-Können gerate mehr und mehr „zu einem Luxus“, schreiben sie.
Dennoch hält Sabria David die Anti-Smartphone-Bewegung für ein spannendes Phänomen: „Es ist schon interessant, dass es mehr als zehn Jahre brauchte, bis solche Stimmen laut werden.“ Aus ihrer Sicht lohnt es sich, über „ein Korrekturpendel“ für die schnellen digitalen Entwicklungen nachzudenken. Es sei wie bei der Eisenbahn: „Was hilft der stärkste Antrieb, wenn der Zug mit Tempo 300 ohne Halt durch den Bahnhof rast? Bremsen sind genauso wichtig wie der Motor – sonst entgleist das ganze Ding.“
Gleich nach unserem Zoom-Gespräch googele ich noch einmal „Digital Detox“ und stoße auf 37.800.000 Einträge.
Am Abend treffe ich eine ehemalige Kollegin in einer Bar. Während ich auf sie warte, schreibe ich eine SMS an einen Freund, als die Kollegin auftaucht, liegt mein Nokia neben meinem Glas. „Ach“, sagt die Kollegin, „du hast jetzt also auch eins dieser neumodischen Hipster-Handys?“
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