Fehleranalyse der Grünen nach EU-Wahl: „Geht raus!“
Die Grünenspitze präsentiert ihrer Partei acht Lehren aus dem Absturz bei der Europwahl. Sie wollen mehr zuhören – und nicht zurück in die Nische.
Ricarda Lang und Omid Nouripour, die beiden Vorsitzenden, hatten ihre Parteimitglieder zu einem Webinar zum Ergebnis der Europawahl eingeladen und 1.500 Mitglieder schalteten sich zu. Das Ergebnis der Wahl vor gut fünf Wochen war schlecht, die Partei ist entsprechend verunsichert. 11, 9 Prozent der Stimmen – ein Minus von mehr als acht Prozentpunkten im Vergleich zu 2019 – das war noch weniger, als die Grünen ohnehin befürchtet hatten. Zudem: Die jungen Wähler*innen, derer sich die Grünen so sicher glaubten, haben sich abgewandt. Wo also lagen die Fehler?
Mit Analyse aber halten sich Lang und Nouripour nicht lange auf. Sie wollen acht „Lehren“ aus der Europawahl präsentieren, ebenfalls via Kamera-Ipad und von den Parteivorsitzenden abwechselnd erläutert. Die erste und wohl eine der wichtigsten davon: „Die Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört und werden es zu wenig – auch von uns. Das ändern wir.“
Die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern sei groß, sagt Lang. Man dringe mit vielen Botschaften nicht durch, weil die Menschen nicht das Gefühl hätten, dass man sich für ihre Realität wirklich interessiere. Es ist ein generelles Problem der Parteien und ein alter Vorwurf an die Grünen – nur: Wie kann man ihn abbauen? „Wir wollen möglichst großen Abstand von einer Politik des Imperativs nehmen, die den Menschen sagt, was sie vermeintlich tun und lassen sollten oder müssen“, sagt die Grünenchefin. Das war in den vergangenen Monaten schon häufiger zu hören, spätestens seit den Grünen das Heizungsgesetz um die Ohren geflogen ist.
Neue Dialogformate entwickeln
Jetzt soll es konkreter werden. Man wolle besser zuhören und bei Veranstaltungen mehr auf Dialog setzen, dazu auch neue Formate wie Bürgerforen entwickeln. Und sich so auf dem Weg zum Bundestagswahlprogramm etwa einen „Realitätscheck“ abholen. Später, bei der Fragerunde, empfiehlt Lang noch: „Geht raus! Trefft euch nicht nur mit denen, mit denen ihr euch schon immer getroffen habt.“ Und schlägt dann den Bauernverband vor oder Unternehmen vor Ort, „die gegen uns sind“.
Eins wird hier schnell klar: Die Grünen, die bei der Europawahl „in der Stammwählerschaft verloren und gleichzeitig an anderen Stellen nicht dazugewonnen“ haben, wie die Parteichefin sagt, wollen auf keinen Fall zurück in die Nische. Oder zumindest die Grünen-Spitze will das nicht. Denn in der Partei – besonders im linken Flügel, zu dem auch Lang gehört – wird durchaus diskutiert, ob man nicht wieder stärker die Ansprüche der Kernklientel berücksichtigen müsse. So hatten etwa Berliner Grüne gerade eine Rückbesinnung „auf unsere Rolle als progressive und zukunftsgerichtete Partei“ gefordert. Man könne sich bei der Organisation von Mehrheiten kein Entweder-Oder leisten, heißt es dagegen in einer weiteren „Lehre“ der beiden Parteichef*innen.
„Wir kämpfen um unsere Stammwählerschaft ebenso wie um das erweiterte Potenzial. Dabei sind wir klar in Werten und Zielen und pragmatisch im Weg.“ Nicht nur hier, aber hier besonders klingt Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck durch, mit dem die „Lehren“ natürlich abgesprochen sind. Seit Annalena Baerbock in der vergangenen Woche verkündet hatte, nicht länger um den Job als Kanzlerkandidatin kämpfen zu wollen, ist klar, dass Habeck es wird. Bei der Bundestagswahl 2025, sagt Nouripour, wollen die Grünen ihren Wahlkampf auf eine Person zuspitzen. Habecks Namen nennt er nicht nicht, die offizielle Verkündung steht ja noch aus.
Kontrollverlust-Sorgen ernst nehmen
Nicht nur mit Habeck, mit vielen Minister*innen im Bund und in den Ländern, mit der Bundestagsfraktion, sondern auch mit externen Expert*innen hat sich der grüne Bundesvorstand zur Vorbereitung seiner Lehren ausgetauscht. Auch Parteimitglieder wurden befragt. „Die Menschen haben berechtigte Sorgen – und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden. Wir bieten handfeste Antworten auf die Probleme im Alltag der Menschen“, so lautet eine weitere. „Unser Claim ‚Machen was zählt‘ war richtig als Anspruch, aber wurde uns nicht abgenommen“, sagt Nouripour und betont: Die Grünen wollen nun einen stärkeren Fokus auf die sozialen Fragen legen. Dass die Bundesregierung gerade mit der Kindergrundsicherung ihr zentrales sozialpolitisches Projekt schreddert, erwähnt er nicht.
Und was heißt diese Lehre für das Thema Migration, will jemand später in der Fragerunde wissen. Wie nehme man das Gefühl eines Kontrollverlusts ernst und bewahre gleichzeitig die eigene Position? Man müsse die Sorge annehmen, betont Lang. Wenn man das nicht tue, gingen die Leute „zu den anderen“. Nicht Ängste schüren, sondern zeigen, wie es besser gehe. Der Versuch, intern einen Kompromiss zu finden, dürfe nicht dazu führen, nach außen unklar zu sein. Beides müsse klar werden: „Sowohl, dass es den Wunsch nach Ordnung gibt, aber dass wir auch für Menschenrechte einstehen.“
Die Grünen wollen auch, so eine weitere „Lehre“, ihre Kernthemen Klima- und Naturschutz unterstreichen. „Wir machen sie wieder stärker hörbar“, sagt Nouripour. In der Stammwählerschaft würden die Grünen für ihr ökologisches Profil und dessen Verknüpfung mit verwandten Themenbereichen gewählt. „Hier liegen unsere Kernwerte, hier liegen unsere Kompetenzwerte, wenn auch aktuell geschwächt.“
Die Grünen werden bald sehen können, ob sie die richtigen Schlüsse ziehen. Für sie steht ein Härtetest an: die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September. In allen drei Ländern, besonders aber in Thüringen, müssen sie um den Wiedereinzug in den Landtag hart kämpfen.
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