Entscheidung des Verfassungsgerichts: Karlsruhe pusht die Enteignung
Der Mietendeckel ist verfassungswidrig, sagt Karlsruhe. Ein Urteil mit Folgen für Rot-Rot-Grün und für hunderttausende Mieter*innen.

D ie Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Donnerstagmorgen, den Mietendeckel für verfassungswidrig zu erklären, ist ein Schlag für die Berliner Linkspartei. Sie hat das Gesetz federführend durch- und umgesetzt. Das Urteil trifft aber Rot-Rot-Grün insgesamt. Denn der Deckel war das zentrale politische Projekt dieser Koalition, um in der wichtigsten sozialen Frage der Gegenwart für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Der Mietendeckel galt seit Februar 2020. Er sah vor, die Mieten von rund 1,5 Millionen Wohnungen für fünf Jahre einzufrieren. Zudem ist seit mehreren Monaten in einer zweiten Stufe die Absenkung überhöhter Mieten möglich. Das alles wird nun rückgängig gemacht, mit finanziellen Folgen für Land und Mieter*innen, die sich noch nicht abschätzen lassen.
Der Deckel war eigentlich ein ursozialdemokratisches Projekt mit klarem Blick in die Zukunft. Die SPD hat ihn erfunden, auch Regierungschef Michael Müller hat sich vehement dafür eingesetzt: Es gehe darum, ob die Politik gegen einen wild gewordenen privaten Wohnungsmarkt handlungsfähig bleiben könne. Die Entwicklung der Einkommen der meisten Menschen hielten, so Müller, nicht Schritt mit den rasant steigenden Mietkosten. Der Mietendeckel verschaffe Mieter*innen eine „Atempause“ und der Politik die Zeit, auch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Diese Analyse bleibt richtig – schließlich hat insbesondere Müller als damaliger Stadtentwicklungssenator mit vielen anderen Maßnahmen versucht, die Kostensteigerungen auf dem Wohnungsmarkt zu begrenzen. Ohne Erfolg. Der Deckel war das bisher letzte Mittel. Dass er nun wegen der fehlenden Kompetenz des Landes am Verfassungsgericht scheitert, ändert nichts am Auftrag für die Politik in Bund und auch in Berlin, auf den Mietmarkt, wo es geht, regulierend einzugreifen. Wie Innenstädte sonst in wenigen Jahren aussehen, lässt sich in Paris oder London beobachten, wo sich nicht mal mehr ein Mensch der Mittelschicht eine Stadtwohnung noch leisten kann.
Die Mieter*innen in Berlin werden an diesem gebrochenen Versprechen der rot-rot-grünen Regierung zu knabbern haben. Sie werden frustriert sein. Doch was wären die Konsequenzen? Stattdessen CDU, FDP oder – noch schlimmer – AfD wählen, die mit ihrem Einsatz gegen den Mietendeckel eigentlich gegen die Interessen des überwiegenden Teils ihrer Wählerschaft handeln? Die sich jetzt über einen vermeintlichen Coup freuen, aber dennoch im Wahlkampf vor der Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl erklären müssen, was sie eigentlich für Mieter*innen tun?
Für Rot-Rot-Grün gilt der alte Spontispruch: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Sie haben es versucht, sie haben Neuland betreten.
Den Wähler*innen in Berlin steht derzeit glücklicherweise noch eine andere Option offen: die Unterstützung des Volksbegehrens Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Auch darüber wird, so wie es derzeit aussieht, am 26. September abgestimmt. Und auch wenn die juristische Umsetzung einer Vergesellschaftung wohl genauso kompliziert ist wie der Mietendeckel: Allein das Zeichen, dass sich die Menschen nicht mit der Situation auf dem Wohnungsmarkt, nicht mit Verdrängung, nicht mit Wahnsinnsrenditen für Aktienanleger und Immobilienspekulanten abfinden wollen, wäre ein Zeichen.
Am Ende könnte es sogar sein, dass vom 15. April einmal als dem Tag gesprochen wird, an dem das Verfassungsgericht dem Volksbegehren zum Sieg verholfen hat. Karlsruhe pusht die Enteignung – was für eine Pointe!
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart