Initiative Deutsche Wohnen enteignen: Ansage an Politik und Wirtschaft

Je­de*r zehnte Ber­li­ne­r*in hat für die Enteignung großer Immobilienkonzerne unterschrieben. Das wird den politischen Diskurs verändern, auch im Bund.

Ein Demonstrant trägt ein Enteignungsplakat auf dem Rücken

Das Thema Enteignen beherrscht den politischen Diskurs in Berlin, hier am 1. Mai Foto: dpa

Diese Zahl ist eine klare Ansage an Politik und Wirtschaft. Fast 350.000 Ber­li­ne­r*in­nen haben in der zweiten Stufe des Volksbegehrens „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ unterschrieben und damit einen entsprechenden Volksentscheid möglich gemacht. Selbst wenn ein Drittel der Stimmen ungültig sein sollte, unterstützt rund je­de*r zehnte Wahlberechtigte in Berlin das Anliegen – trotz aller Einschränkungen durch die Pandemie, die zum Beispiel große Werbeveranstaltungen unmöglich machte.

Das ist zuallererst ein Sieg für die Initiative, die sich top organisiert und mit Unterstützung von mehr als 1.000 Menschen in die viermonatige Sammlungsphase gestürzt hat. Es ist außerdem ein Erfolg für die Linkspartei, die in Berlin mit an der Regierung ist. Sie hat das Begehren inhaltlich und personell massiv unterstützt und kann im anstehenden Wahlkampf anders als etwa die Berliner Grünen – ebenfalls Teil von Rot-Rot-Grün – mit einer klaren Position in Sachen Vergesellschaftung punkten.

Die Kampagne war klug formuliert: Zwar sorgt eine Vergesellschaftung, wie von der Initiative auf ihren vielen Plakaten versprochen, nicht unmittelbar für „bezahlbaren Wohnraum“. Aber sie erhöht die Chance dafür, wenn die Ver­mie­te­r*in­nen vom Staat oder Land kontrolliert werden.

Noch wichtiger: Der Satz drückte den drängenden Wunsch vieler Mie­te­r*in­nen in der Stadt nach dem Scheitern des Mietendeckels vor dem Bundesverfassungsgericht aus. Die Angst, die Miete nicht mehr bezahlen zu können und angesichts des absurd überhitzten Mietmarktes nicht einmal mehr in den Plattenbausiedlungen am Stadtrand abseits des alten Kiezes notgedrungen unterzukommen, hat längst die Mittelschicht erreicht.

Die letzten Abstimmungen haben gezeigt, dass die Bür­ge­r*in­nen oft progressiver als die Parteien sind.

Wenn es noch eine Zahl brauchte, um Po­li­ti­ke­r*in­nen und auch Immobilienunternehmen klar zu machen, dass der anstehende Wahlkampf für das Berliner Abgeordnetenhaus und den Bundestag maßgeblich von der Frage nach Wohnraum bestimmt wird, dann steht sie nun im Raum. Die Politik muss darauf reagieren und nicht nur banale Slogans, sondern möglichst konkrete Ideen formulieren, wie der Wohnungsnot begegnet werden kann. Eine Öffnungsklausel auf Bundesebene, damit Länder einen Mietendeckel einführen können, ist eine Option.

Der Erfolg der Initiative hilft auch der Politik

Der Erfolg der Initiative hilft auch den Politiker*innen. Sie haben ein weiteres Argument in die Hand bekommen für eigene Vorschläge und auch, um Druck auszuüben auf jene renditeorientierten Vermieter*innen, damit diese ihre Taktik ändern. Vor wenigen Jahren noch war ein Begriff wie Enteignen ein Tabuwort, bestenfalls salonfähig in orthodox-kommunistischen Kreisen. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik besteht nun die Chance, den Grundgesetzartikel 15 – „Grund und Boden [..] können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz [..] in Gemeineigentum [..] überführt werden“ – wirklich anzuwenden. Es dürfte auch im Interesse der Wirtschaft sein, dass dies nicht oder nur verhalten passiert.

Noch ist es nicht so weit. Aber viele Gutachten legen nahe, dass es einen rechtssicheren Weg für die von der Initiative geforderte Vergesellschaftung von Immobilienfirmen mit mehr als 3.000 Wohnungen gibt. Das wiederum erhöht die gar nicht so geringe Wahrscheinlichkeit, dass am 26. September tatsächlich auch eine Mehrheit der Ber­li­ne­r*in­nen an der Wahlurne dafür stimmt – gegen die Position der meisten Parteien von CDU bis SPD.

Die direktdemokratischen Abstimmungen in Berlin in den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass die Bür­ge­r*in­nen oft progressiver als die relevanten Parteien sind und gesellschaftlich drängende Themen vorantreiben. Sie verhinderten zum Beispiel gegen alle Erwartungen eine unkontrollierte Bebauung des ehemaligen innerstädtischen Flughafens Tempelhof, der heute ein viel genutzter und benötigter Park in der dicht bebauten City ist.

Sie sprachen sich früh für Transparenz in der Politik und für Rekommunalisierung zentraler Infrastruktur aus. Sie trieben im Wahlkampf 2016 so erfolgreich die Verkehrswende für Rad­le­r*in­nen voran, dass der folgende rot-rot-grüne Senat die Ziele eins zu eins übernehmen musste und nun nach und nach umsetzt.

Die Enteignungs-Initiative dürfte in den nächsten Monaten eine ähnliche Rolle spielen. Und selbst wenn sie knapp am 26. September scheitern sollte, kann man schon jetzt behaupten: Sie wird die Wohnungspolitik der nächsten Legislatur verändern. Im Bund und in Berlin.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.