Debatte um Asyl und Migration: Moralischer Kontrollverlust

Union und Ampel bilden eine Antimigrations-Einheitsfront. Damit machen sie rechtsextreme Positionen anschlussfähig.

Ein schwarz-rot-gelber Grenzpfahl an einem Wegesrand

Noch ziemlich freie Sicht: An der deutsch-polnischen Grenze bei Lebus Foto: Markus Schreiber/ap

Wer glaubte, es gebe beim Thema Mi­gra­tion noch so etwas wie eine freiwillige moralische Selbstkontrolle, sah sich in den vergangenen Tagen getäuscht. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will „keine Denkverbote“ mehr in der Migrationspolitik. Sahra Wagenknecht fordert, bis auf eine „verschwindende Minderheit“ alle Ankommenden von Leistungen und Asylverfahren auszuschließen.

Die Ampel will die Leistungen für Flüchtlinge, die in andere EU-Staaten zurück sollen – anders als vielfach berichtet – nicht auf „Bett, Brot, Seife“ drücken, sondern streichen – das Gesetz dazu wird derzeit beraten. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) verspricht „massive Zurückweisungen“ an den deutschen Grenzen, durchgesetzt mit grenznahen Schnellverfahren. CDU-Chef Friedrich Merz knallte die Tür beim „Migrationsgipfel“ zu. Und sein Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei bekräftigte bei Markus Lanz, „alle“ Mi­gra­tion müsse reduziert werden, nicht nur die irreguläre.

Bisher hieß es, die „geordnete“ Mi­gra­tion sei im Land willkommen. Aber das war gestern. Heute gilt: Es kann nicht mehr scharf genug sein. Die AfD konnte da nur noch den Aufbau einer privatwirtschaftlichen „Abschiebeindustrie“ fordern. Dass die anderen Parteien dies aufgreifen, ist womöglich nur eine Frage der Zeit.

Es ist eine mächtige Eruption des migrationsfeindlichen Grundrauschens in der deutschen Gesellschaft, das zyklen­haft an die Oberfläche tritt und erkennbar an Kraft gewinnt. Protagonisten der Pogrome der frühen 1990er bauten in den folgenden Jahrzehnten rechtsextreme Strukturen im Osten auf. 2010 gab Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ dem neurechten Bürgertum einen Wachstumsschub. Die Pegida-Mobilisierungen und später die von rechts vereinnahmten Coronaproteste ließen elitenfeindliche Milieus anschwellen.

Die AfD kanalisierte und radikalisierte all dies, vor allem dank eines Ökosystems reichweitenstarker rechter Social-Media-Kanäle. So kann die AfD heute Konservative und Ampel-Parteien in eine Antimigrations-Einheitsfront drängen.

Aufweichung rechtsstaatlich-moralischer Standards

Deren Taktgeber im bürgerlichen Lager ist eine Union, die zunehmend Tea-Party-hafte, populistische Züge zeigt und deren bisherige rechtsstaatlich-moralische Standards aufweichen. Die Union verliert dabei aus dem Blick, dass Konservative Rechtsextreme nicht rechts schlagen können. Die Forschung hat klar belegt, dass viele Menschen heute aus Überzeugung rechtsextrem wählen und mit mehr Härte gegen Zuwanderung nicht zurückzuholen sind.

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Wer permanent Migration als Pro­blem benennt, macht rechtsextreme Positionen weiter anschlussfähig und vergrößert das AfD-Wählerpotenzial – wie in Frankreich, den Niederlanden oder Österreich zu sehen ist. In Dänemark, das als Vorzeigemodell harter Migrationspolitik gepriesen wird, ging die Schwächung der rechts­ex­tre­men Dänischen Volkspartei mit der Entstehung der heute größeren Rechtspartei Danmarksdemokraterne (Dänemark-Demokraten) einher.

Hierzulande ziehen die progressiven Ampel-Parteien vollständig aus der Defensive heraus beim Migrationsstopp mit. Blockiert durch die FDP können sie in der Ökonomie, bei Umverteilungsfragen, nichts gewinnen. Für strahlkräftige neue Projekte fehlt ohne eine Lockerung der Schuldenbremse oder eine effektive Erbschaftssteuer das Geld. Erfolge auf anderen Feldern, etwa bei der Energiewende, werden überdeckt vom desolaten Bild der Ampelregierung in der Öffentlichkeit. Für den sich anstauenden Frust soll die Migrationsfrage als Ventil dienen und Handlungsbereitschaft suggerieren.

Es ist eine mächtige Eruption des migrations­feindlichen Grund­rauschens

Da zählt wenig, dass die atemlos, teils im Halbtagestakt herausgedroschenen Ideen zum Ausländerstopp oft unausgegoren und rechtlich fragwürdig sind. Schon Horst Seehofer (CSU) ist mit seiner Idee von „Transitzonen“ für die direkte Zurückweisung gescheitert. Die Gewerkschaft der Polizei ist nicht von ungefähr gegen die dafür nötigen ständigen Binnengrenzkontrollen – sie sieht den Überstundenberg wachsen.

Einschneidende Folgen

Am Ende werden die Schnellverfahren wahrscheinlich nur ein neues Label für Dublin-Prüfungen in bestehenden Sammelunterkünften. Aber wo medial-politische Erregungszyklen immer sogkräftiger werden, erscheint Ampel und Union die Simulation von Härte offenbar schon ausreichend, um gegen die mächtige Konkurrenz der AfD bestehen zu können. Aus vielen der scharfen Ideen dieser Tage dürfte noch so einiges an Luft entweichen. Ein schwacher Trost.

Denn die Folgen sind gleichwohl einschneidend. In Österreich wird die Aussicht, auf den von Deutschland abgewiesenen Flüchtlingen sitzenzubleiben, dem EU-Feind Herbert Kickl bei der Wahl am 29. September zugute kommen. Spätestens unter einer FPÖ-Regierung wird auch Österreich seine Grenzen schließen. Der eigentlich wohlmeinende polnische Regierungschef Donald Tusk hat die deutschen Pläne wütend kritisiert.

Dass letztlich überall in Europa die Schotten dichtgemacht werden, liegt nahe. In Außengrenzen-Staaten wie Italien oder Griechenland wird dann die Wut auf Deutschland weiter wachsen. Wie will eine so zerstrittene EU gemeinsam handeln, wenn sich der Krieg im Osten noch ausweitet – schlimmstenfalls nach einem Wahlsieg Donald Trumps?

Die Zahl der Sudanes:innen, die Richtung des zentralen Mittelmeers vor Krieg und Hunger fliehen, wächst schon jetzt. Und bereits ein russischer Teilsieg in der Ukraine könnte Millionen weitere Ukrai­ne­r:in­nen in die Flucht treiben. Die nun angedachten Grenzverfahren wären dann praktisch nicht durchzuhalten. 2022 nahm die EU ukrainische Geflüchtete unbürokratisch, ohne aufwändige Asylverfahren auf. Doch die Solidarität für die Ukrai­ner:innen wird brüchiger, vielerorts wird ihr Bleiberecht infrage gestellt. Auch die Klimakrise wird langfristig weitere Fluchtbewegungen auslösen. Wie soll Europa einen tragfähigen, menschenrechtskonformen Umgang mit weiteren Ankünften finden, wenn schon jetzt, da die Antragszahlen sinken, ein populistisch getriebenes Chaos ausbricht?

Konservative wie Söder, Spahn und Merz

Die Migrationspolitik hat sich seit den 1990er Jahren europäisiert. Der deutsche „Asylkompromiss“ von 1992/93 war der letzte Versuch, die nationale Hoheit über Asylverfahren und Abschiebungen zu reklamieren. Nicht ohne Grund fordern Hardliner heute wieder einen parteiübergreifenden Kompromiss. Dessen Wirkung auf das Migrationsrecht aber wäre eng begrenzt.

Die juristischen Macht­zen­tren der Migrationspolitik liegen heute beim EuGH in Luxemburg und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Luxemburger Rich­te­r:in­nen haben jüngst die Rechte etwa palästinensischer Flüchtlinge, unbegleiteter Minderjähriger und geflüchteter Frauen gestärkt. Auch bei Zurückweisungen und Überstellungen innerhalb Europas gibt das Europarecht Asylsuchenden einklagbare Rechte – eine Folge der Kämpfe Geflüchteter, NGOs, An­wäl­t:in­nen und sozialen Bewegungen.

Konservative stellen deshalb nun grundlegende Normen infrage. 2023 nannte Jens Spahn (CDU) die Genfer Flüchtlingskonvention und die Euro­päi­sche Menschenrechtskonvention nicht mehr „zeitgemäß“. Markus Söder (CSU) will das europäisch garantierte individuelle Asylrecht abschaffen. Und Friedrich Merz will eine „nationale Notlage“ ausrufen, um Zurückweisungen zu ermöglichen.

Ju­ris­t:in­nen machen bei diesen Versuchen, die Bindung der Nationalstaaten an das europäische Recht zurückzudrehen, mit. In der Debatte um Zurückweisungen haben die konservativen Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Peter M. Huber, die schon immer die Macht des EuGH begrenzen wollten, auf den Asylkompromiss von 1992 verwiesen – und entgegen einer absolut gefestigten Rechtslage behauptet, man könne einfach wieder das europäische Recht mit nationalen Regeln übertrumpfen.

Angstgetriebene Übernahme der rechtsextremen Agenda

Der Europarechtler Daniel Thym fordert in der FAZ ein „reformatorisches Zurück zu den Ursprüngen“: Die Rechte von Asylsuchenden sollen gestutzt werden, europäische Gerichte weniger mitentscheiden und Nationalstaaten mehr Freiheit bei der Mi­gra­tions­kon­trolle erhalten. Am Ende könnte laut Thym auch eine „Fundamentalrevision der EU-Gesetzgebung“ stehen – eben jene Abschaffung der Asyl-Einzelfallprüfung, die auch die Union will und bei der europapolitische Kollateralschäden billigend in Kauf genommen werden.

Die Rechtsextremen brauchen der angstgetriebenen Übernahme ihrer Agenda nur zuzuschauen. Sie können in aller Ruhe überlegen, wie sie als Nächstes die Klimapolitik der Mitte-Parteien attackieren wollen.

Ihr eigenes Programm ist dabei offensichtlich untauglich, um die gravierenden Herausforderungen der Gegenwart anzugehen. Ihre Slogans wie „Make Europe Great Again“ – das Motto der laufenden EU-Ratspräsidentschaft Ungarns – oder der Brexit-Slogan „Take Back Control“ setzen auf ein Retrotopia, die Glorifizierung der Vergangenheit vor 1989, als der Nationalstaat angeblich noch intakte Souveränität und gesellschaftlichen Zusammenhalt bot. Es ist ein Zerrbild, das aber angesichts der gegenwärtigen Krisen Anziehungskraft hat.

Doch an einem positiven Fortschrittsbegriff fehlt es in allen politischen Lagern, auch bei den Progressiven. Linke sind in Abwehrkämpfen gefangen oder apathisch angesichts der „antilinken Konjunktur“, die die So­zial­wis­sen­schaftler Moritz Ege und Alexander Gallas beschreiben. Dieser vermögen sie kaum Zukunftsentwürfe für die Bewältigung der globalen Herausforderungen entgegenzusetzen.

Spanien zeigt, es geht anders

Einen Ansatzpunkt dazu könnte jüngst ausgerechnet der neoliberale Ex-EZB-Chef Mario Draghi geliefert haben. In seinem neuen Bericht zur ökonomischen Situation Europas fordert er Investitionen von bis zu 800 ­Milliarden Euro jährlich (!), um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben. Das Geld will Draghi vor allem durch gemeinsame Schulden auftreiben – ein Wink an Christian Lindner.

Klar ist, dass künftig mehr in öffentliche Infrastruktur und Klimaschutz investiert und Armut staatlich besser bekämpft werden muss. Linke fordern dazu schon lange mehr Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften. Aber warum ist Tiktok voll von AfD-Videos – und nicht von solchen, die in 60 Sekunden erklären, wieso Reiche mehr abgeben müssen?

Ein Allheilmittel ist das aber nicht. US-Präsident Joe Biden hat mit seinem „Inflation Reduction Act“ ein Investi­tions­programm aufgelegt, ohne die Unzufriedenheit in den von rechts verhetzten Teilen der Bevölkerung befrieden zu können. Die Linke muss Wege finden, auch jenseits der ökonomischen Sphäre, gesellschaftspolitisch-emotional wieder in die Offensive zu kommen.

Dass dies noch möglich ist, zeigt etwa Spanien: Durch gesellschaftlichen Druck von unten verweigert sich die Regierung der Dämonisierung der Migration und will, wie bereits in der Vergangenheit, Hunderttausenden Papierlosen ein Aufenthaltsrecht geben. So lautet die Aufgabe, die privilegierten Zonen, in denen wir in Europa leben, offenzuhalten, Bewegungsfreiheit wieder als lohnendes gesellschaftliches Ziel erscheinen zu lassen – und die so erfolgreich geschürte Angst davor zu lösen.

Christian Jakob ist taz-Redakteur, Maximilian Pichl ist Professor für Soziales Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden

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