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Neue russische Offensive in der UkraineSchaut auf Charkiw, nicht auf Malmö

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Wir interessieren uns zu sehr für den Nahostkonflikt und zu wenig für die Ukraine. Putin schafft derweil Fakten.

Ukrainische Feuerwehrleute versuchen nach russischem Bombardment, die Flammen unter Kontrolle zu bringen Foto: dpa

E uropa fiedelt, während Europa brennt. Die Augen weiter Teile der europäischen Öffentlichkeit haben sich jüngst auf die Proteste gegen Israels Teilnahme am Euro­vision Song Contest in Malmö gerichtet. Währenddessen hat Russland in der Ukraine eine blutige, neue Kriegsfront eröffnet.

Bodentruppen sind auf dem Vormarsch in Richtung der Millionenstadt Charkiw, die ohnehin seit Wochen täglich Ziel russischen Bombenterrors ist. Grenznahe Dörfer und Gehöfte stehen in Flammen, Tausende verzweifelte Menschen sind auf der Flucht, die erschöpften ukrainischen Verteidiger sind am Limit.

Russlands Präsident Putin beginnt seine dritte Amtszeit so, wie er es angekündigt hat – mit Warnungen vor einem neuen Weltkrieg, Drohungen mit einem Atomschlag und der Verkündung, Russland werde immer siegen.

Der Angriff auf Charkiw ist da nur der erste Schritt. Der Westen hat dem momentan nichts entgegenzusetzen und will davon auch nichts wissen. Die EU, die USA und Großbritannien sind sämtlich mit Wahlkampf beschäftigt, also mit sich selbst. Wenn etwas die politische Öffentlichkeit bewegt, ist es Streit über Israel.

Narzistische Überidentifikation mit Israel

Debatten über Gaza spalten Deutschland und andere Länder verlässlicher, als es die plumpe russische Ukrainepropaganda sich je hätte träumen lassen. Der notwendige Kampf gegen Antisemitismus wird von der europäischen Rechten für Fremdenfeindlichkeit und autoritäres Staatsverständnis instrumentalisiert.

Deutschland droht sich durch seine narzisstische Überidentifikation mit Israel aus der Weltpolitik zu verabschieden, ohne es zu merken. In den USA steht Biden massiv unter dem Druck der eigenen Basis, und damit steigen Trumps Siegeschancen im November, womit Putins Durchmarsch gesichert wäre.

Für die Ukraine demonstriert derweil niemand. Dabei ist die Lage so brenzlig wie seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren nicht mehr.

Russlands Krieg nicht hinnehmen

Die Toten von Charkiw sind auch Europas Tote. Rechtzeitige Lieferungen von Abwehrwaffen in ausreichender Menge hätten es der Ukraine ermöglicht, alle großen Städte zu schützen, nicht nur Kyjiw.

Während Trumps Marionetten in den USA monatelang die Militärhilfe für die Ukraine blockierten, verschwendeten Europäer kostbare Zeit mit Dauerdebatten etwa darüber, ob die Ukraine die Ausgangspunkte russischer Angriffe zerstören darf.

Egal was Putin anrichtet – immer warnt irgendjemand in Berlin vor einer drohenden Eskalation, sobald jemand die reale Eskalation aufzuhalten versucht. Man kann aber nicht im Europawahlkampf mit „Frieden“ werben und zugleich Russlands Krieg hinnehmen. Jetzt entscheidet sich Europas Zukunft. In der Ukraine.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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43 Kommentare

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  • Ein weiterer flammender Appell von Herrn Johnson, dem ich nur beipflichten kann. Die Parallelisierung mit Nahost halte ich allerdings für unnötig, eine "narzisstische Überidentifikation mit Israel" sehe ich nicht, eher eine narzisstische Überidentifikation bestimmter Milieus mit "den Palästinensern". Die Gründe für das "mangelnde" Engagement für die Ukraine, in der gerade - unter grauenhaften Blutopfern der Menschen dort - die Entscheidung über unsere unmittelbare Zukunft fällt, sehe ich - neben dem unausrottbaren antiwestlichen Ressentiment - in einem schlafmützenichigen Nichtwahrhabenwollen. Befördert natürlich durch Wahlkampf.

  • Man kann es auch unsentimental sehen. Im Gegensatz zu Macron. der zumindest eine bewaffnete Garantie bis zum Dnjpr abgeben will, nimmt Deutschland lieber noch einmal 1 bis 2 Mio. Flüchtlinge als sich auf so etwas einzulassen. Ein AFD verbot würde Eddie innere Front dafür begradigen.

    • @Eckhard Hanseat52:

      Ach ja. Flüchtlinge, die nach D kommen könnten, sind natürlich das größte Problem am Krieg. Zumindest für Leute, die Angst vor "Überfremdung" haben...

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Wäre trotzdem Bekämpfung von Fluchtursachen in sehr engagierter Form.

        Nur Flüchtlinge aufzunehmen, ist politisch wohl schon einfacher.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Ich finde die Instrumentalisierung von Flüchtlingen auch sehr befremdlich. Vor allen Dingen, da es vermutlich auch bei einem "erfolgreichen" Ausgang für die Urkaine viele Flüchtlinge geben würde aus wirtschaftlichen Gründen.

        • @Alexander Schulz:

          Vor einiger Zeit meinten sie noch zu mir es werde keine Massenflucht geben selbst unter russischer Besatzung, wegen Lokalpatriotismus, jetzt meinen sie sei eh egal wer gewinnt Massenflucht gibt es so oder so. Was den jetzt?

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Ich glaube nicht dass Eckhard grundsätzlich ein Problem mit Geflüchteten und deren Aufnahme in Deutschland hat, ihm geht es wohl eher darum dass damit der Ukraine im Kampf gegen die russische Invasion nicht wirklich geholfen ist.

  • Ich würde die beiden Konflikte nicht so gegeneinander stellen.

    Wenn es im Nahen Osten brennt, steht das immer automatisch im Fokus nicht nur der europäischen, sondern der Weltöffentlichkeit.

    Vielleicht wird der Krieg in der Ukraine aus wahltaktischen Gründen beschwiegen.

    Dann muss man sich auch nicht mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass Europa die Ukraine am ausgestreckten Arm verhungern lässt und Waffen so liefert, dass die Katastrophe immer gerade noch so verhindert werden kann.

    Hätte man von Anfang konsequent und ohne groß mit der Wimper zu zucken anders gehandelt, der Verlauf des Krieges wäre wohl ein anderer gewesen.

    Die Ukraine blutet langsam aus und Europa schaut weg.

    Und schneidet sich damit ins eigene Fleisch.

  • Ich denke, wir interessieren uns eher zu wenig für den Nahostkonflikt, für die Verbrechen, die dort aktuell begangen werden.

    • @Michael Drager:

      Was bringt Sie zu dieser Sichtweise?

      Was ist Ihr Maßstab für "ausreichendes" Interesse?

      Wie groß ist im Vergleich das Interesse an anderen Konflikten?

      Haben Sie den Eindruck, die aktuellen Verbrechen, beispielsweise im Sudan, interessieren mehr?

  • Esc = escape



    Wo habe ich diese schlaue Bemerkung nur gelesen?



    Danach gibt's nur noch eins



    RESET

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Jetzt habe ich's.



      Es war das 🌚🐑 beim Software/KI Artikel

  • Aber was ist zu tun? Drei Raketenwerfer und genügend Munition von Deutschland an die Ukraine zu liefern, wenn die Front zu wanken beginnt, wird kaum ausreichen. Schutz des westlichen Luftraums der Ulraine durch die Nato? Angesichts des Zivilisationsbruchs von Russland mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung der Ukraine nötig? Von der Leyen sollte in die Ukraine reisen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Aber auch sie ist wohl auch nur mit ihrer Wiederwahl beschäftigt.

  • " Jetzt entscheidet sich Europas Zukunft. In der Ukraine."

    Nein. Die Zukunft der EU entscheidet sich IN der EU.

    Die Ukraine ist nicht der Nabel der Welt.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Natürlich entscheidet sich die Zukunft Europas in der Ukraine. Entweder wird Europa wieder friedlich und bleibt frei und demokratisch, oder Russland walzt Europa Stück für Stück nieder.

      Sie sollten sich mal damit beschäftigen, was die Ziele Putins und seiner Verbrecherregierung sind. Er und die seinen sagen es immer wieder, aber anscheinend hört hier in Europa niemand zu.

      • @Gnutellabrot Merz:

        Putin möchte das Zarenreich wieder.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      "" Jetzt entscheidet sich Europas Zukunft. In der Ukraine."



      Nein. Die Zukunft der EU entscheidet sich IN der EU."



      Es sei ein Hinweis gestattet: die EU ist nicht Europa. Insofern geht die Anmerkung am Thema vorbei.

      • @Encantado:

        "Europa" wird meist für die EU verwendet. So habe ich auch den Artikel verstanden. Ich habe EU geschrieben, um präziser zu sein.

        • @warum_denkt_keiner_nach?:

          Ich vermute, Sie unterschätzen Herrn Johnson.

          Ihm wird bewusst sein, dass die Staaten, die die Folgen einer Niederlage der Ukraine als erstes zu spüren bekommen, Moldawien und Weißrussland sein werden.

          Das sind keine EU-Staaten.

  • Das musste (endlich!) mal wieder (deutlich!) gesagt werden (Gut so! Danke!) und wird doch (leider) wenig bewirken.

  • Ich glaube dass der Nahe Osten es im Fokus auch deshalb leichter hat, weil es so polarisiert. Das ist die eig. Nummer Nabelschau, gilt für Europa und die Vereinigten Staaten noch mehr. Salopp gesagt kann die Ukraine da nicht mithalten, weil die Rollen einfach zu klar verteilt sind. Da muss man für divergente Narrative also schon an die äussersten Ränder des Spektrums - selbst dort nur von einigen geteilt - das ist insofern uninteressant, da ist nichts "drin", was Geister scheidet. Während die Gräben im Hinblick auf Nahost eben wirklich durch die Mitte der Gesellschaft verlaufen und damit wie so oft die verlockende Möglichkeit bieten, eigentlich ganz andere Konflikte anzufachen, auszufechten, oder auch erst zu provozieren, das ist m.E. sehr offensichtlich. Ein möglicher zweiter Aspekt, der zumindest in Europa eine Rolle spielen könnte, liegt für mich scheinbar paradox darin, dass man etwas weiter weg ist. Und wenn überhaupt anders involviert. Der alte Westen ist dort eben nicht direkt, nicht unmittelbar herausgefordert, bzw. nur als ne Art Arbiter, Schiedsrichter und das ist genau diese alte, starke, vertraute Rolle. Etwas über den Dingen zu schweben. Die uns im Hinblick auf Osteuropa völlig entglitten ist. Ich glaube das viele das nicht sehen und damit konfrontiert sein wollen, wenn es nicht schon Angst macht. Und was macht das so schwache Russland denn so stark? Einzig aus der Bemerkung zu Israel werd ich nicht ganz klug. Ich möchte festhalten, dass die Lage der Ukraine garantiert nicht die Schuld Israels ist, und dass die sich heute wesentlich anders darstellte, wäre es nicht auch noch zu dem Krieg in Nahost gekommen, wird mich nicht überzeugen. Es können nicht immer andere Schuld sein. Die Müdigkeit ist auch Folge einer gewissen Monotonie, und die wiederum auch davon, diesen Krieg via "Lieferando" bloss fern zu versorgen, auszuschreiben und ewig vor sich herzuschieben. Jetzt rächt sich auch die Lebenslüge "man" sei ja nicht im Krieg gegen Russland.

    • @Tanz in den Mai:

      " Jetzt rächt sich auch die Lebenslüge "man" sei ja nicht im Krieg gegen Russland."



      Im Grunde ist es ja keine Lüge. Wir führen keinen Krieg gegen Russland. Russland führt einen hybriden geheimen Krieg gegen uns.

  • Zweifellos herrscht Krieg in der Ukraine. Dass Russland die derzeitige Schwäche der Ukraine nutzen wird, war so vorher gesagt. Das hat nichts mit Windschatten des Gazskrieges zu tun. Und überhaupt nichts mit Malmö.



    Es ist auch richtig, jeden Tag auf die unerträgliche Situation im Gazastreifen hinzuweisen.

  • Grundsätzlich richtig (obwohl gerade die TAZ mit dem ESC nicht gespart hat). Nur mit dem Schauen wird es nicht getan sein.



    Die Ukraine kann sich nicht ewig auf dem eigenen Boden gegen das deutlich größere Russland verteidigen. Es könnte also nur damit gehen, dass auch das zivile Russland merkt, dass eine Gegenspezialoperation läuft. Aber wer möchte das aus dem Westen? Ist das Eskalation oder berechtigter Gegenschlag? Was, wenn die Truppen wirklich müde sind? Hat Macron recht? Soll die F oder D Freiheit wirklich im Donbass verteidigt werden?

    • @fly:

      Die Vorstellung, dass man einen Agressor, der dich (in den Falle die Ukraine) militärisch vernichten will, damit provoziert und zur Eskalation beiträgt, dass man sich (erfolgreich) verteidigt, finde ich schon ziemlich absurd. Natürlich würde Russland seine militärischen Anstrengungen verstärken, wenn es sieht, dass es mit dem bisherigen nicht weiterkommt. Soll man die Verteidigung deshalb unterlassen? Das kann nicht ernsthaft die Antwort sein.



      Und damit die ukrainischen Truppen nicht müde werden, ist es notwendig (oder nicht?) ihnen jede (!!!) Art von Waffensystemen - so viel und so schnell wie irgendmöglich - zu liefern, von denen die Militärexperten meinen, dass sie notwendig seien, um die russischen Angriffe abzuwehren. Ob es dann noch notwendig sein wird, eine Art Flugverbotszone im Westen des Landes zu etablieren (durchgesetzt durch Systeme auf Natogebiet) oder gar den Einsatz von Nato-Truppen in der Ukraine, wird man sehen. Nur eins ist klar: je zögerlicher die Waffenlieferungen an die Ukraine ist, desto eher kommt genau der Moment, wo man dies entscheiden muss - oder eben dem russischen Imperialismus nachgibt.

  • Europa wird seine Zukunft in der Ukraine verlieren.

    Seit über zwei Jahren wissen alle, dass Putin nicht aufhören wird bevor er an der Grenze zu Polen steht und das Baltikum besetzt hat.

    Warum setzt Europa dieser grenzenlosen Aggression nicht alles entgegen?

    Auf was warten die europäischen Länder eigentlich? Dass Putin aufhört andere Länder zu überfallen und zu zerstören? Das wird nicht passieren, außer Europa zeigt endlich die Zähne und unterstützt die Ukraine so, wie es nötig wäre.

    • @Gnutellabrot Merz:

      "Auf was warten die europäischen Länder eigentlich? Dass Putin aufhört andere Länder zu überfallen und zu zerstören? "



      Sie warten darauf, dass Putin ein Einsehen hat. In gewisser Weise ist das nachzuvollziehen. Wenn man sich aus dem unmittelbaren Geschehen mal etwas rauszoomt und aufs Gesamtbild schaut, und sich fragt, was wird man (in Russland und dem Rest der Welt) in 10, 20, 50 Jahren über diesen Krieg denken - die Bilanz für Russland wird in jeder Hinsicht absolut verheerend sein, das steht schon jetzt fest. Geostrategisch, ökonomisch, demografisch, moralisch.



      Dieser Krieg ist so etwas wie der erweiterte Selbstmord eines politischen Systems, also etwas, was sich für abwählbare Politiker in Demokratien außerhalb des Denkhorizonts ereignet. Und übrigens auch außerhalb des Denkbaren für "normale" autoritäre Regime, in denen so etwas wie Staatsräson existiert, die der Einhegung der jeweils konkreten politischen Anführer dient. Russland hat keine Staatsinteressen mehr, Putin hat die politischen Institutionen zerstört, den Staat also schon längst abgeschafft.



      Dass unsere Politiker auf diese voluntaristische Selbstzerstörung auch nach über zwei Jahren mit Fassungslosigkeit schauen, spricht eigentlich für sie. Sie können nicht raus aus ihrer eigenen politischen Rationalität. Nur dass sie sich von ihrer Fassungslosigkeit lähmen lassen, das ist schlecht.

      • @Barbara Falk:

        "... was wird man (in Russland und dem Rest der Welt) in 10, 20, 50 Jahren über diesen Krieg denken - die Bilanz für Russland wird in jeder Hinsicht absolut verheerend sein, das steht schon jetzt fest."

        Das hängt vom Ausgang des Krieges und der weltweiten Entwicklung ab. Kann auch sein, dass sich die Staatsoberhäupter der Welt in 50 Jahren in Kiew am Putindenkmal treffen, um im zu huldigen...

    • @Gnutellabrot Merz:

      Nein, es "wissen nicht alle". Eigentlich WISSEN wir nur, dass Putin die Ostukraine erobern will. Und auch hier SPEKULIEREN wir nur, was er vorhat, abgesehen von den vier Oblasten, die er SICHER erobern will.



      Wir wissen NICHT, ob er weitermacht. Wir wissen NICHT, ob er überhaupt die gesamte Ukraine will. Wir wissen NICHT, ob er das Baltikum will oder warum er das wollen sollte. Er könnte genauso nach Hause gehen, wenn er eine neutrale Ukraine hat (das WISSEN wir, dass das in Istanbul verhandelt wurde), er könnte Kasachstan annektieren versuchen oder die Mongolei oder gar nichts.



      WISSEN tun wir NICHTS, weil KEINER von uns Putin in den Kopf schauen kann.

      • @Kartöfellchen:

        Ich stimme Ihnen vollkommen zu und deswegen wäre es auch fatal auf Grund irgendwelcher Spekulationen einen dritten Weltkrieg zu riskieren.



        Zum Glück scheinen das auch bisher die entscheiden westlichen Politiker so zu sehen.

      • @Kartöfellchen:

        Tja, wissen letztlich nicht. Aber inzwischen ist Russland zum Inbegriff eines imperialistischen Landes geworden, das ja nicht nur in der Ukraine Land zu erobern sucht. Da ist die Annahme mehr als berechtigt, dass das so weitergehen wird. Natürlich muss sich die freie Welt dagegen wehren!

        • @Manuel Bonik:

          Nein, Imperialismus bezeichnet eben gerade nicht die Besetzung eines anderen (Teil-)Landes, sondern die Behrrschung anderer Länder durch regime change und Marionettenregierungen oder aber die Zerstörung anderer Länder durch Wirtschaftsblockaden.

          Im Unterschied dazu würde man eine Besetzung des Donbass als Neokolonialismus bezeichnen können. Denn Besatzungen sind die Methode des Kolonialismus.

          Imperialistisch sind dagegen die dominierenden westlichen Staaten. Diese besetzen nicht, aber sie tauschen Regierungen aus und/oder hungern andere Länder gezielt aus (mit dem Fernziel wiederum eines regime changes).

          Russland hat allerdings auch imperialistische Züge, ist allerdings für einen globalen Imperialismus zu schwach, anders als die dominierenden westlichen Staaten.

  • Auf den Punkt der Artikel. Danke!

  • Israel ist ein von Shoah-Überlebenden mitbegründeter Staat, der keine räumliche "strategische Tiefe" hat und der prinzipiell immer bedroht ist. 50 Kilometer entscheiden dort über Gedeih und Verderb des Staates der Überlebenden.

    Russland und die Ukraine sind zwei große Flächenstaaten, Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In dem postsowjetischen Territorialkrieg entscheiden 50 Kilometer dort nichts, schon gar nicht die Zukunft Europas.

    Diesen Unterschied sollte man sehen können.

  • Danke an Dominic Johnson.

  • “Der notwendige Kampf gegen Antisemitismus wird von der europäischen Rechten für Fremdenfeindlichkeit und autoritäres Staatsverständnis instrumentalisiert.”



    “Deutschland droht dich durch seine narzisstische Überidentifikation mit Israel aus der Weltpolitik zu verabschieden, ohne es zu merken.”



    Zwei Sätze von Dominic Johnson, die es in sich haben, aber denen ich im Großen und Ganzen zustimmen kann. Nur die Behauptung einer “narzisstischen Überidentifikation” Deutschlands mit Israel finde ich einigermaßen problematisch. Auch wenn es heutzutage nicht mehr en vogue erscheint, so meine ich doch, dass immer noch die aus der Shoa erwachsene historische Verantwortung Antriebsfeder für die deutsche Solidarität mit Israel sein sollte - aber es soll eben keine UNKRITISCHE Solidarität sein! Und Waffenlieferungen wie außenpolitisches Duckmäusertum gehen in diesem Kontext so gar nicht.



    Johnson beklagt auch das mangelnde europäische Interesse für das Schicksal der Ukraine angesichts der wieder wachsenden russischen Bedrohung. Ebenfalls Zustimmung, ABER: die im Kommentar zum Ausdruck kommende Tendenz des Gegeneinanderausspielens wird beiden Anliegen nicht gerecht. Mehr europäisches Engagement für eine politische Lösung des Nahostkonflikts UND eine stärkere, auch militärische Unterstützung der Ukraine - das ist jetzt leider notwendiger denn je - schließen sich nicht aus, müssen zusammen gebracht werden.



    Das einzufordern, wäre m.E. Aufgabe linker Politik - und leider versagt die Linke hier in beiderlei Hinsicht, das muss auch gesagt sein.

  • Auf so einen Aufruf habe ich seit Ende Februar gewartet. Es ist schon erstaunlich wie schnell das Wesentliche in Europa aus dem Fokus gerät und Medien und Bevölkerung ganz in ESC und Campus Kontroversen oder Übergriffe auf Politiker aufgehen. Nahost ist natürlich ein polarisierender Konflikt, dem zurecht Aufmerksamkeit gezollt wird, aber direkt, nicht indirekt, entscheidend für Europa ist das was gerade in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert. Und dazu passt die Aussage:

    "Egal was Putin anrichtet – immer warnt irgendjemand in Berlin vor einer drohenden Eskalation, sobald jemand die reale Eskalation aufzuhalten versucht"

    Hat von politischer Seite schon einen Hauch von "sich ins Schicksal ergeben". Nicht nur in Deutschland!

  • Treffend zusammengefasst, Herr Johnson.



    Es bräuchte wirklich jemand, der Putin effektiv ausbremst...

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Putin wird ausgebremst - der Preis den er bereits zahlen muss ist so hoch, dass er sich nicht nochmal auf ähnliche "Abenteurer " einlassen wird - außer er wird aus wirtschaftlichen Gründen dazu gezwungen werden um sein Regime am Leben halten zu können.

      • @Alexander Schulz:

        "der Preis den er bereits zahlen muss ist so hoch, dass er sich nicht nochmal auf ähnliche "Abenteurer " einlassen wird - außer er wird aus wirtschaftlichen Gründen dazu gezwungen werden um sein Regime am Leben halten zu können."



        Ich kann Ihnen mal wieder nicht folgen: Putin wird (durch den Widerstand der Ukrainer) ausgebremst und fängt deshalb keinen weiteren Krieg an, wenn er aber wirtschaftlich stark unter Druck gerät, wird er noch einen Krieg anfangen, um seine Herrschaft zu festigen?



        Mit dieser These dürften Sie ziemlich allein dastehen.



        Und was die "gigantische Unterstützung" der Ukraine durch den Westen angeht, auf die Sie gern verweisen: Es ist völlig unerheblich, ob diese Unterstützung größer, gleich oder kleiner der Unterstützung Südkoreas im Koreakrieg ist (oder in sonst einem historischen Konflikt). Das Ergebnis zählt.



        Der russische Ökonom und aktive Kriegsgegner Sergej Gurijew hat es, schon in den ersten Kriegsmonaten, auf eine kurze Formel gebracht, die man gar nicht oft genug wiederholen kann. Weil sie immer noch stimmt: "Wenn Putin weiter jeden Tag Ukrainerinnen und Ukrainer ermordet, bedeutet das, dass der Westen nicht genug tut." (Das bezieht sich nicht nur auf Militär- und Finanzhilfen, sondern auch auf das Sanktionsregime).

        • @Barbara Falk:

          "Mit dieser These dürften Sie ziemlich allein dastehen."

          Nein, ich erkläre Ihnen gerne den Hintergrund. Kriegswirtschaft sorgt durchaus für hohes Wachstum, auch wenn es nicht nachhaltig ist. Das ist inzwischen leider ein weiteres Hindernis für Friedensverhandlungen.

          Doch es ist erwähnsensert, dass der Westen die Ukraine gigantisch unterstützt und dafür viele westliche Länder sogar Ihre Entwicklungshilfen zurückfahren.



          Ich finde Solidarität mit der Ukraine wichtig, jedoch finde ich Solidarität mit Menschen, die an Hunger sterben nicht weniger wichtig. Die sehr einseitige Fokussierung auf die Ukraine finde ich zumindestens unter moralischen Aspekten fragwürdig.



          Russland darf nicht gewinnen - diese Strategie geht bisher auf, jedoch hätte man dafür vermutlich spätestens im Herbst 22 auch eine diplomatische Lösung finden können.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Das können letztlich nur die Russen selbst tun … alles andere würde in einem militärisches Fiasko für den Westen enden oder in einem Weltenbrand. Und da wird außerhalb der NATO (und wahrscheinlich auch innerhalb des Bündnisses) niemand mitmachen.



      Militärische Erfolge der Ukraine bzw. schmerzliche Niederlagen Russlands könnten jedoch den Einsichtsprozess in der russischen Bevölkerung befördern, dass es Putin und seiner Clique auch mit ihnen nicht gut meinen. Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg (und ich weiß nicht, ob der Ukraine und ihren Unterstützern nicht vorher die Puste ausgeht).



      Andererseits könnte auch genau das Gegenteil eintreffen, dass der „Große-Vaterländische-Kriegs“-Mythos erneut beschworen wird und die Russen so noch enger mit ihrer Führung verschmelzen.



      Ein „Spiel“ mit ungewissem Ausgang.

      • @Abdurchdiemitte:

        Stimmt, jemand aus Russland würde sich empfehlen.



        Leider stimmt dieses auch:



        "Ein „Spiel“ mit ungewissem Ausgang."