Arbeitskräftemangel in Deutschland: Wer packt mal mit an, bitte?
Allerorts fehlt Personal. Wirtschaft und Politik müssen gegen den demografischen Wandel flexibler auf Arbeitslose und Zugewanderte zugehen.
I n einer Bäckerei in Berlin gibt es an manchen Morgen keine belegten Brötchen mehr: Personalmangel! Eine Kleinfamilie in einem Vorort von Berlin sucht einen Kitaplatz, aber es gibt keinen: Personalmangel! Dabei würde die Mutter, examinierte Krankenpflegerin, gern wieder in ihrem Krankenhaus arbeiten. Denn auch dort herrscht: Personalmangel!
Fehlende Kitaplätze, mangelndes Lehrpersonal, nicht verfügbare Handwerker:innen, geschlossene Gaststätten, nicht vorhandene Pflegekräfte und lange Warteschlangen in den Flughäfen, weil Gepäckabfertiger:innen fehlen: Mancherorts hat man den Eindruck, Arbeitskräfte seien wie von Zauberhand verschwunden.
Wer in einer Zeitmaschine aus der Jahrtausendwende in die Jetztzeit gebeamt würde, der dürfte sich vor Verwunderung die Augen reiben. Vor zwei Jahrzehnten galt noch das Narrativ: Wir haben Massenarbeitslosigkeit. Jobs werden durch Roboter ersetzt oder wandern ab nach China. Wer keine Berufsausbildung hat, ist komplett verloren. Es droht Lohndumping-Konkurrenz der Zugewanderten. Tja, Pustekuchen aus heutiger Sicht.
Niemand weiß zwar, was eine mögliche Rezession demnächst für den Arbeitsmarkt bedeuten könnte. Aber in der Gegenwart ist derzeit eine Art internationale Fahndung nach Arbeitskräften ausgerufen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigt an, dass Ausländer:innen aus Nicht-EU-Staaten, etwa aus der Türkei, demnächst als Gepäckabfertiger an hiesigen Flughäfen arbeiten werden. Der Hotel- und Gaststättenverband fordert, dass Mitarbeiter:innen aus Drittstaaten, unabhängig von ihrer Qualifikation, ebenfalls demnächst in der hiesigen Gastronomie tätig werden können. Bisher ist das Ausländerrecht nur für Bürger:innen aus den Westbalkanstaaten entsprechend gelockert.
Der Arbeitskräftemangel ist eine Folge der Geburtenrückgänge und der Alterung, des Trends zu höheren Schulabschlüssen, der Landflucht, der Abwanderungen durch die Corona-Pandemie. Man hat diese Entwicklungen unterschätzt. Der Personalmangel erfordert nun ein Umdenken: Politik und Wirtschaft müssen sich auf die Möglichkeiten der vorhandenen und der potenziellen Arbeitsnehmer:innen einstellen. Die Wirtschaft muss sich an den Menschen orientieren und nicht umgekehrt. Das erfordert Kompromissbereitschaft. Und wir müssen uns von drei Irrtümern trennen.
Es war ein Irrtum, zu glauben, dass die „niedrigqualifizierten“ Jobs verschwinden. Die Erwerbstätigkeit ist im Bereich der Helferberufe fast doppelt so stark gewachsen wie bei den Fachkräften, sagte unlängst der Migrationsexperte Herbert Brücker vom Nürnberger IAB-Institut. Der Begriff „niedrigqualifiziert“ ist eh irreführend. Wer als Helfer:in in der Paketzustellung, in der Gastronomie, in der Pflege eine 40-Stunden-Woche stemmt, bringt eine körperliche und mentale Belastbarkeit mit, vor der man den Hut ziehen sollte, auch wenn die Leute keine dreijährige Fachausbildung absolviert haben. Deswegen ist der Gedanke absurd, dass man Langzeitarbeitslose zu Hunderttausenden in Helfertätigkeiten zwingen könnte. 40 Prozent der Menschen im Hartz-IV-Bezug berichten in Erhebungen von schweren gesundheitlichen Einschränkungen, sagte IAB-Arbeitsmarktexperte Mark Trappmann der taz.
Der zweite Irrtum besteht darin, die Zuwanderung entweder als mögliche Dumping-Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt misstrauisch zu beäugen oder sich darauf zu verlassen, dass qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland dringend nach Deutschland kommen wollen. Deutschlands Standortnachteil ist eine schwere Sprache, die zu erlernen mühsam ist und die sonst nur in sehr wenigen Ländern gesprochen wird. Wer es sich aussuchen kann als Akademiker:in aus dem Ausland, geht samt Familie lieber in ein Land, in dem man mit Englisch weitgehend auskommt.
Der dritte Irrtum besteht darin, dass unser viel gelobtes duales Ausbildungssystem das Nonplusultra sein soll in einer Wirtschaft, in der wir mehr Zuwanderung brauchen. Ausländische Berufsabschlüsse müssen leichter anerkannt werden. Eine dreijährige duale Berufsausbildung hierzulande besteht aus der Arbeit im Betrieb und dem Besuch des Berufsschulunterrichts mit Lehrbüchern und Prüfungen, und das alles bei geringer Bezahlung. Von Geflüchteten weiß man, dass sie oft an diesem schulischen Teil scheitern, weil die Lehrbücher sehr gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift verlangen. Es wäre leichter, wenn die Leute erst mal auch mit weniger Vorbildung in eine voll bezahlte Arbeit einsteigen und dann Sprachkenntnisse und berufliches Wissen nach und nach verbessern könnten. Auch in Deutschland geborene Langzeitarbeitslose schaffen oft keine lange Ausbildung.
Auf dem Bildungsmarkt haben sich viele kürzere „Teilqualifikationen“ entwickelt, etwa Pflege-Basiskurse, Kurse zur Erzieher-Assistentin, zur sogenannten Elektrofachkraft, zur Verkäuferin mit Computerkassenschein. Diese Kurse können ein Einstieg sein, dürfen aber nicht zur Sackgasse werden. Und man muss die Gefahr der Verdrängung im Auge behalten. In einem Stadtteilprojekt in Berlin wurden Menschen zu „Integrationsassistent:innen“ weitergebildet. Deren Bezahlung ist niedriger als die der sonst eingesetzten Sozialarbeiter:innen.
Dennoch: Es führt kein Weg an Flexibilisierungen und Bildungsalternativen vorbei. Es ist richtig, dass laut Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung berufsbegleitende Weiterbildungen und Teilzeitausbildungen gefördert werden sollen. Personalengpässe wird es allerdings weiter geben, sagen die Prognosen. Das wird Kompromissbereitschaft bei Kund:innen erfordern, die mehr bezahlen und länger auf Dienstleistungen warten müssen. Welche Dienstleistungen unverzichtbar sind und gefördert werden müssen und welche nicht, das könnte sich sogar zu einer hochpolitischen Frage entwickeln.
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