Anschlag in Magdeburg: Bis Freitag war er einer von uns
Auch wenn er aus Saudi-Arabien stammt, ist der Attentäter ein radikaler Islamhasser. Viele wollen das nicht wahrhaben – denn er ist damit nicht allein.
D er furchtbare Anschlag in Magdeburg wirkte aufgrund des Ziels zunächst wie die Tat eines Islamisten. Er erinnerte an den Anschlag von Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2016. Doch seit die Identität des 50-jährigen Attentäters von Magdeburg bekannt ist, weiß man: Er war ein Fan von Geert Wilders, Elon Musk, der AfD. Und er hasste Angela Merkel, Muslime und den Islam. Sein Online-Profil auf X ist ideologisch eindeutig. Weil er fand, Deutschland treibe die „Islamisierung“ Europas voran, wollte er das Land bestrafen und möglichst viele Menschen töten.
Bei solchen Tätern fragt man sich immer: Wie haben sie sich radikalisiert? Welche Hassprediger haben sie beeinflusst, wer hat sie ideologisch geprägt, in welchem Umfeld haben sie sich bewegt? In diesem Fall findet man die entsprechende Literatur leider in jedem deutschen Buchladen. Radikalere Varianten dieses Denkens finden sich im Netz, bei Bewegungen wie Pegida und in den Parlamenten bei der AfD, die in Sachsen-Anhalt zuletzt 20 Prozent erzielte. Dort gehen sie in Verschwörungsideologien vom „Großen Austausch“ der Bevölkerung und einer Unterwanderung des Landes durch radikale Muslime über, wie sie der Attentäter von Magdeburg offenbar teilte.
Es wäre ein Euphemismus, den Täter zum „Islamkritiker“ zu adeln, wie es manche Medien tun. Er handelte offenbar aus paranoidem Islamhass. Mit seine Anschlag knüpft er an jene Rechtsterroristen an, die 2011 in Norwegen, 2017 im kanadischen Quebec und 2019 in Neuseeland Terroranschläge verübt haben. Diese richteten sich im Fall von Breivik gegen Behörden und ein sozialdemokratisches Jugendcamp, in den anderen beiden Fällen gegen friedliche Moscheegemeinden. Auch der Attentäter von Hanau handelte aus antimuslimisch-rassistischen Motiven, als er im Februar 2020 in zwei Shisha-Bars neun Menschen erschoss.
Rechtsextreme leugnen die Ideologie
Weil der Täter von Magdeburg ursprünglich aus Saudi-Arabien stammt und sein Ziel ein Weihnachtsmarkt war, wollen viele nicht glauben, dass er möglicherweise ein radikaler Islamhasser war. Doch auch Menschen, die aus muslimisch geprägten Ländern stammen oder früher selbst Muslime waren, können für solches Denken anfällig sein. Der Attentäter von München, David Sonboly, der 2016 aus Hass auf Muslime neun überwiegend junge Menschen tötete, war iranischer Herkunft. Der Schriftsteller Akif Pirinçci, der bei den antimuslimischen Pegida-Demonstrationen auftrat und gegen Muslime hetzte, stammt aus der Türkei. Es gibt einen simplen Grund, warum ehemalige Muslime in Europa zu rechtsextremen Einstellungen neigen können: Sie erhalten dafür Applaus und Bestätigung, und das bestärkt sie in ihrem Wahn. Eine Prise Selbsthass ist womöglich auch dabei.
Den Rechtsextremisten von AfD bis Nius, von Martin Sellner bis Elon Musk, ist ihre ideologische Nähe zum Attentäter von Magdeburg natürlich unangenehm. Einige von ihnen behaupten, er habe lediglich „psychische Probleme“ gehabt und deshalb einen „Amoklauf“ begangen, keinen Terroranschlag. Oder sie leugnen, dass der Täter ein Ex-Muslim und AfD-Anhänger gewesen sein könnte, und unterstellen ihm, er habe sich bloß verstellt.
Sie mutmaßen, der Täter müsse schon immer ein islamistischer Schläfer gewesen sein. Für sie gilt: einmal Muslim, immer Muslim. Dass der Attentäter einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübte, reicht ihnen als Indiz, dass er aus anderen Motiven gehandelt haben könnte, als er vorgibt. Dass er aus Saudi-Arabien stammt, reicht ihnen, um mal wieder eine „falsche Migrationspolitik“ anzuprangern. Mit anderen Worten: Rechtsextreme nutzen die Tat eines Rechtsextremisten, um weiter ihren Hass zu verbreiten.
Der Attentäter war eine öffentliche Person
Die wichtigste Frage ist aber, warum der Anschlag nicht verhindert werden konnte. Denn der Attentäter war eine öffentliche Person. Er hatte allein auf X über 46.000 Follower und viele Kontakte in die radikal antimuslimische Szene weltweit. Auch Journalisten folgten ihm, und er gab mehreren Medien in den vergangenen Jahren Interviews. Er war mehreren Behörden bekannt, sein Profilbild zeigt ein Maschinengewehr und er hat mehrmals angekündigt, eine spektakuläre Tat zu begehen und sogar Gewalt anwenden zu wollen. Es gab Warnungen, aber sie verhallten ungehört.
Die Behörden und sein Umfeld haben seine Radikalisierung unterschätzt. Die Frage ist: warum? Eine mögliche, unangenehme Antwort darauf lautet: der Täter stand mit seinem Hass auf Muslime nicht alleine. Sein Denken ist in Deutschland so verbreitet, dass er damit nicht sonderlich auffiel. Er war einer von uns – bis er am Freitagabend mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt fuhr.
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