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100 Tage Merz-RegierungKein Rezept gegen rechts

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Das Versprechen von Schwarz-Rot war, unaufgeregt zu regieren und ein Schutzschirm gegen die AfD zu sein. Bisher ist beides misslungen.

Pendelt sich da noch was ein? Kanzler Friedrich Merz (CDU), nachdenklich Foto: Kira Hofmann/imago

D ie Welt ist aus den Fugen. Nach Corona kam der Ukrainekrieg, danach Inflation und drei Jahre Rezession. Das Versprechen der Merz-Regierung, die nun 100 Tage amtiert, ist es, diese Krisen handhabbar zu machen und eine Art bundesdeutsche Normalität wiederherzustellen. Das war die Botschaft von Friedrich Merz’ forscher Ansage, dass die Deutschen schon im Sommer die segensreichen Wirkungen seiner Regierung bemerken würden.

Dabei hat Schwarz-Rot in der Tat ein ziemliches Tempo vorgelegt. Die lähmende Schuldenbremse wurde weitgehend gelöst. Der Staat investiert in Verteidigung und Infrastruktur. Merz steht für die kulturkonservative Reinszenierung der Republik ohne Gendersternchen und refugees welcome. CSU-Innenminister Alexander Dobrindt setzt auf eine Abschottungspolitik bis über die Grenzen des Legalen hinaus. Die SPD spielt etwas verhuscht die Rolle als Wächter des Sozialen und des Garanten, dass das konservative Rollback im bundesdeutschen Normalmaß bleibt. Eine selbstgewählte Überschrift für Schwarz-Rot nach 100 Tagen wäre: Sicherheit.

Raison d’être von Schwarz-Rot ist (oder muss man sagen: war?) das Versprechen, professionell und unaufgeregt zu regieren. Da ist die Bilanz eher ernüchternd. Der Kanzler und seine Vertrauten Jens Spahn, Carsten Linnemann und Thorsten Frei verfügen über wenig Regierungserfahrung. Das Versagen des Kanzleramts bei der Stromsteuer, Merz’ erratisch wirkende außenpolitischen Schwenks und Spahns dröhnende Unfähigkeit beim Eklat um die gescheiterte Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt der Verfassungsrichterin waren trotzdem verblüffend.

Das mag Lehrgeld gewesen sein. Regieren ist ja auch ein Handwerk. Schwerer wiegt, dass ein zentraler Grund für Schwarz-Rot bröckelt – nämlich ein Schutzschirm gegen rechts zu sein. Der Fall Brosius-Gersdorf hat gezeigt, wie hilflos die Union auf Angriffe von rechts reagiert. Die AfD will die Union mit Kulturkampf-Kampagnen spalten. Bei Merz und Frei ist diese Gefahr noch gar nicht angekommen – von Gegenstrategien ganz zu schweigen. Die einzige Idee ist bislang das Modell Dobrindt, also der Versuch, die AfD mit harter Anti-Migrations-Politik auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Die SPD feiert sich gern als Bastion des Antifaschismus. Aber solche moralbetonten Selbstinszenierungen verdecken eher, dass die SPD kein Rezept gegen rechts hat.

Ein schneller Zerfall von Schwarz-Rot ist unwahrscheinlich. Die Alternativen sind zu abschreckend, das diszipliniert. In der alten Bundesrepublik war die Mitte Hort des Pragmatischen, Effektiven, Sicheren. Das ist vorbei. Die Mitte wackelt.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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10 Kommentare

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  • Auch Dobrindt wird es den deutschen Fremdenfeinden nicht recht machen, Recht und Gesetz interessieren die nicht . Selbst in Talkshows hab ich erlebt, dass Berufung auf Recht u Gesetz als langweilig ( immer dasselbe) abgetan wurde). Neid auf Unterstützung der Flüchtlinge ( warum tun die Politiker nicht mehr für uns) , selektive Wahrnehmung von schlechtem Benehmen u Straftaten ( was? Deutsche Männer vergewaltigen auch u töten ihre Frauen?) vergiften die Gehirne. Bei schlecht Deutsch redenden Ärzt:innen u Pfleger:innen wird eher über die sprachliche Verständigung gemeckert, statt sich über den Erhalt der Gesundheitsversorgung zu freuen. Unsere Bevölkerung bzw 20-30% der Biodeutschen) sind fremdenfeindlich und missgünstig, protofaschistisch u borniert).



    Kleiner Hinweis: arabische u türkische Menschen habe Achtung vor dem Alter, wertschätzen Pflegearbeit und sind als erstes da, wenn jemand stürzt oder fällt. Nur junge Männer verhalten sich wie Halbstarke, sind laut u frech, wenn sie in Gruppen auftreten. Es gibt aber auch Frauen, deren einzige „ Frechheit“ das Kopftuch ist , die so streng muslimisch sind wie unsere strenge Katholiken, die die Reform des 218 verhindern.

  • Das Denken von Merz und der CDU und das Handeln der SPD widersprechen sich, so wird das mit der Koalition nichts. Am Ende wird der Wähler für den Dauerdisput von CDU und SPD beide abstrafen. Die AfD, jetzt gemäß Umfragen zur stärksten Partei der Wähler geworden, scheint wohl immer noch nicht schlimm genug zu sein.



    Arbeitet endlich im Sinne der Mehrheit, bevor die Mehrheit blau/braun wird.

  • Rot-Schwarze Bundesregierung braucht keine Rezepte nach Goodwill Gutsherrenart, sondern Haltung gegenüber Rechtsaußen, Rezepte braucht der bundessdeutsche Journalismus hierzulande, Bunderegierung an Content zu erinnern, was Haltung aus freien Stücken ohne Schlange K Blick auf Rechts gegenüber Rechts inhaltlich untermauert, in Deutschland grundgesetzlichem Gebot der Gewaltenteilung endlich nachzukommen, wie es Deutscher Richterbund am Tag der Stolperdraht Wahl Friedrich Merz zum Bundeskanzler 6. Mai forderte, das extern politische Weisungsrecht von Ministern in Bund. Ländern gegenüber Staatsanwaltschaften, Verfassungsschutzämtern, Generalbundesanwalt, BKA, BaFin, BND, MAD, Finanzämtern, gemäß Gerichtsverfassungsgetz 1895 § 147, abzuschaffen, wenn nicht, zumindest auf dem Weg dahin Transparenz durch Einführung einer Protokollpflicht herzustellen, wenn, wann durch wen Weisung erteilt wurde als Voraussetzung, diese unter parlamentarische Kontrolle im Bund, Ländern stellen zu können. Gleichzeitig 1977 mitten im bleiern deutschen Herbst abgeschafft richterliche Voruntersuchungen, gemäß Strafprozessordnung, wieder als Mindestmaß Regulativ zum politischen Weisungsrecht einzuführen

  • Dieser Kommentar fasst das allgemeine Unbehagen in Worte, das die deutsche Gesellschaft seit Beginn von Corona prägt. Seit also jetzt seit mehr als fünf Jahren ist dieses Land im Krisenmodus.

    Gesellschaftliche Krisen sind in Deutschland traditionell schlecht für die Demokratie, und die aktuelle Bundesregierung mit Kanzler Merz ist außer Stande, die demokratischen Instititutionen inhaltlich zu verteidigen.

    Die Hoffnung bleibt das starke Engagement der bundesdeutschen und demokratischen Zivilgesellschaft.

  • Jetzt ist die AfD auch noch stärkste Partei.

  • Zu glauben, dass eine rechte Partei einer rechtsextremen Partei tatsächlich das Wasser abgräbt, ist für meine Begriffe eher naiv.



    Ihre Wirtschaftspolitik begünstigt ebenso das Klientel Vermögender, die Schwächsten werden zu Buhmännern und Frauen gemacht und beide zählen auf Rüstung.



    Einen Rechtsruck gibt es nicht, weil alle zu Nazis werden, sondern weil der Sozialstaat immer mehr den Bach runter geht.



    Das sollte man aus der Wirtschaftskrise vor dem 3. Reich gelernt haben.



    Damals brachte die Rüstung einen verblendenden Aufschwung.



    Was sollte bei denselben Vorzeichen heute anders laufen?



    Milliarden für die Waffenlobby und einstellen der Bürger auf Kriegstüchtigkeit.



    Normal in Krisen des Kapitalismus.



    Wäre schön, wir hätten etwas daraus gelernt!

    • @Mark Menke:

      Sie wissen ganz genau, dass die gegenwärtigen Investitionen zur Wiederherstellung unserer Verteidungsfähigkeit ausschließlich dem russischen Angriffskrieg geschuldet sind.

      Ihre Bemühungen eine Parallele zum 3. Reich zu ziehen entbehren daher jeglicher Grundlage.

      Und Schlussendlich: es ist nicht der CDU anzukreiden, dass die AfD Zustimmungswerte von 20 Prozent plus x verzeichnen kann. Diese Entwicklung hat unter der Ampel ihren Lauf genommen, davor kam die AfD nur auf ca. 10 Prozent.

    • @Mark Menke:

      Ist das nicht alles etwas zu kurz oder "unterkomplex" gedacht?



      1) Man kann meines Erachtens eine hist. Situation nicht auf eine heutige 1:1 übertragen werden.



      2) Z.B. die Rüstung: Während in Nazideutschland die Rüstungsindustrie (und damit tatsächlich die Kriegsvorbereitung) das Mittel gegen die Wirtschaftskrise war, ist Rüstung heute lediglich ein Versuch, die BW wieder einsatztauglich zu machen. Die Branche wird kaum etwa zur wirtschaftlichen Gesundung beitragen, was auch bislang niemand ernsthaft behauptet.



      3) Wenn der "Sozialstaat immer mehr den Bach runtergeht", sollte das doch eigentlich für alle Betroffenen (und das ist auf Zukunft gesehen die Mehrheit der Bevölkerung) Grund sein, den Versprechungen aller linksdrehenden Parteien zu folgen. Sie behaupten doch, eine Lösung zu haben. Warum passiert das Gegenteil?



      4) Schauen Sie sich mal die Wahlergebnisse der rechtsextreme AfD seit der BT-Wahl 20213 an. Sie hat immer dann Zulauf, wenn die demokratischen Parteien sich verzetteln oder keine Lösungen für aktuelle Probleme anbieten. Innerhalb der 3 Jahre Ampel (!) verdoppelte sich der Stimmenanteil der AfD. Dass sie jetzt weiter an Zuspruch zu gewinnen scheint, liegt woran?

    • @Mark Menke:

      Einen Rechtsruck gibt es nicht, weil alle plötzlich zu Nazis werden. Das stimmt vermutlich.



      Es gibt ihn aber auch nicht, weil der Sozialstaat den Bach runter geht.



      Es gibt ihn, weil eine ständig wachsende Anzahl von Mitbürgern eine ständig wachsende Unzufriedenheit zeigt mit einer Politik, die trotzdem ständig immer linker wird.



      Linke Parteien insgesamt wurden bei den letzten Wahlen regelrecht abgewatscht.



      Und obwohl sich anhand dessen erkennen lässt, dass die meisten Mitbürger sich eine Politik wünschen, die nicht ständig noch extremer nach links tendiert, lautet die Antwort aus der Politik immer noch: "wir müssen noch viel linker werden".



      Angesichts solcher Entwicklungen muss man sich dann auch nicht wundern, dass einer ständig wachsenden Gruppe die unliebsamen Konsequenzen des Wählens radikal rechter Positionen zunehmend gleichgültig wird.



      Vielleicht macht man ja auch einfach mal das, was sich offensichtlich eine große Mehrheit der Mitbürger wünscht?



      Ich meine - natürlich nur, wenn man von denen gewählt werden will.

    • @Mark Menke:

      "Zu glauben, dass eine rechte Partei einer rechtsextremen Partei tatsächlich das Wasser abgräbt, ist für meine Begriffe eher naiv."

      Wer sollte das denn sonst tun?



      Es geht doch darum, die ehemaligen Unionswähler zurückzuholen, die jetzt die AFD wählen, weil der Linksruck der CDU unter Merkel sie politisch heimatlos gemacht hat.



      Das ist eine der Aufgaben der Union.

      Das ist natürlich nicht alles, aber eine Stellschraube, an der die Union drehen muss. Dass sie dabei keine Unterstützung oder Applaus der taz-Leserschaft bekommt, ist nicht nur in Ordnung, sondern muss sogar ausdrücklich so sein.