100 Tage Atomausstieg: Deutschlands Bilanz kippt
Deutschland importiert derzeit mehr Strom, als es exportiert. Doch das liegt nicht allein an der Abschaltung der letzten AKWs.
Mit einem Saldo von 3,0 beziehungsweise 3,7 TWh waren der Mai und der Juni sogar die importstärksten Monate überhaupt in den Energy-Charts, die vom Fraunhofer ISE in Freiburg bereitgestellt werden. In der bisherigen Gesamtbilanz des laufenden Jahres gleichen Importe und Exporte sich noch aus.
In der Stromhandelsbilanz spiegelt sich einerseits die Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke wider, denn dadurch reduzierte sich die hiesige Stromerzeugung um zwei bis drei TWh pro Monat. Andererseits ist die Entwicklung auch vom typischen jahreszeitlichen Verlauf geprägt. Denn das Winterhalbjahr ist für Deutschland traditionell sehr exportstark, während es im Sommer auch in der Vergangenheit schon Monate mit Importüberschuss gab.
Da die sommerlichen Importe aber nun deutlich gestiegen sind, könnte Deutschland erstmals seit 2002 am Ende des Jahres unterm Strich wieder ein Importland sein. Gleichwohl heißt das nicht, dass hierzulande die Kraftwerke fehlen. Die grenzüberschreitenden Stromflüsse ergeben sich nämlich in der Regel nicht aufgrund eines Mangels an Erzeugungskapazitäten, sondern aus der ökonomischen Logik heraus.
Wenn Strom im Ausland billiger ist, wird importiert
Wenn der Strom im Großhandel in Nachbarländern billiger ist und die Netzkapazitäten es erlauben, dann werden Kraftwerke im eigenen Land gedrosselt und es wird Strom importiert. Konkret hieß das im vergangenen Quartal, dass Deutschland vor allem in Dänemark, Norwegen, Frankreich und den Niederlanden Strom einkaufte, weil dort die Preise oft niedriger waren als hierzulande.
Dass Deutschland seine Kapazitäten in den letzten Monaten längst nicht ausnutzte, zeigt sich daran, dass die Stromerzeugung der fossilen Kraftwerke im zweiten Quartal auf den zweitniedrigsten Stand bisher fiel. Lediglich im zweiten Quartal 2020, das durch den Corona-Lockdown geprägt war, produzierten sie weniger.
Aus Sicht des Klimaschutzes kann man die Importe sogar positiv sehen. Denn mit Ausnahme der Niederlande verfügen jene Länder, die Deutschland zuletzt vor allem belieferten, über einen deutlich CO2-ärmeren Strommix: Dänemark durch seine Windkraft und Norwegen durch seine Wasserkraft und Frankreich durch seinen Atomstrom.
Mit welchem Vorzeichen die deutsche Strombilanz für 2023 enden wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, denn auch in diesem Herbst dürften die Exporte wieder zunehmen. Ob am Ende ein Plus oder Minus steht, wird dann vor allem in einer Hinsicht relevant sein: Die jeweiligen Akteure werden die Bilanz als Symbol werten – im Jahr des Atomausstiegs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies