Unterstützerin von Gisèle Pelicot: „Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr“
Bei ihrem Vergewaltigungsprozess erhält Gisèle Pelicot Unterstützung von den feministischen „Amazones d’Avignon“. Die Gründerin spricht über den Fall.
taz: Frau Deverlanges, erinnern Sie sich an das erste Mal, als Sie von den „ Vergewaltigungen von Mazan“ gehört haben?
Blandine Deverlanges: Es war bei einem Treffen meines feministischen Chors im Frühling 2021. Eine der Frauen las uns einen Zeitungsartikel darüber aus La Provence vor. Bei dem Treffen haben wir dann nicht mehr gesungen, sondern nur noch darüber gesprochen. Wir wussten, dass es sich um etwas Unsägliches handelte. Aber gleichzeitig war uns das Ausmaß von Dominique Pelicots Verbrechen überhaupt nicht klar.
taz: Er hat seine Frau mit Lorazepam betäubt, sie dann vergewaltigt und anderen zur Vergewaltigung angeboten, und das viele Male. Wurden Sie bei diesem Treffen Ihres Chors zur feministischen Aktivistin?
Deverlanges: Ich bin als Feministin geboren. Ich kann mich an keinen Moment in meinem Leben erinnern, in dem ich keine Feministin war. Allerdings war ich nicht immer Aktivistin. Mit etwa 47 oder 48 Jahren fing ich damit an. 2019 habe ich die „Amazones d’Avignon“ gegründet.
Die Frau
Blandine Deverlanges, 56, ist Lehrerin für Wirtschaft und Soziologie an einem Gymnasium in Avignon. Sie ist seit 30 Jahren verheiratet, ihre drei Kinder sind inzwischen erwachsen. Deverlanges hat im Judo den Schwarzen Gürtel.
Die Gruppe
Ende 2019 gründete Deverlanges mit anderen zusammen die feministische Gruppe „Amazones d'Avignon“. Vom ersten Tag des Prozesses an waren sie im Gerichtssaal anwesend. Derzeit gehören ungefähr dreißig Aktivistinnen zur Gruppe, etwa fünfzehn kleben regelmäßig Plakate, die auf den Prozess verweisen. Auch andere Frauen, die extra für den Prozess nach Avignon kommen, beteiligen sich an den Klebeaktionen.
taz: Was machen die „Amazones d’Avignon“?
Deverlanges: Wir sind eine radikalfeministische Gruppe, die gegen männliche Gewalt kämpft. Am Anfang lag unser Fokus auf Femiziden, nach und nach haben wir unseren Aktionsradius auf alle Formen männlicher Gewalt ausgeweitet. Wir haben gesprüht und Banner im öffentlichen Raum geklebt. Erst waren wir sehr naiv und wurden oft von der Polizei erwischt. Heute lassen sie uns meistens in Ruhe. Vor etwa einem Jahr haben wir dann erfahren, dass der Pelicot-Prozess hier in Avignon stattfinden würde.
taz: Die „Amazonen“ waren vom ersten Tag des Prozesses an im Gerichtssaal anwesend.
Deverlanges: Ja, wir sind immer da. Wir wechseln uns ab und machen Notizen, damit wir darüber, was wir gehört haben, diskutieren können. Wir sind auch oft im Gerichtsfoyer und sprechen mit den Frauen, die erschüttert aus den Anhörungen kommen, denn was dort beschrieben wird, ist äußerst gewalttätig. Wir sind auch da, um Gisèle zu applaudieren. Ich war es, die damit angefangen hat. Seitdem ist es zu einem Ritual geworden. Nachts kleben wir dann unsere Transparente. Und zwischendurch arbeiten wir, denn wir haben natürlich auch Jobs.
taz: Was machen Sie beruflich?
Deverlanges: Ich bin Lehrerin für Wirtschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an einem Gymnasium.
taz: Reden Sie mit den Schüler_innen über den Prozess?
Deverlanges: Natürlich. Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern gehören zu meinem Fach. Außerdem leben die Schüler_innen auch in Avignon: Überall sind Journalist_innen, und auch die Täter laufen ständig in der Öffentlichkeit rum. Hier herrscht eine seltsame Atmosphäre. Für die Schüler_innen ist es wichtig zu verstehen, was passiert ist, also nehme ich mir die Zeit, es ihnen zu erklären.
taz: Sie waren knapp 15 Tage selbst im Gerichtssaal. Was war das für ein Gefühl, diese Masse der Angeklagten zu sehen?
Deverlanges: Es ist beängstigend, es ist ekelhaft, es ist abscheulich. Wenn ich diese Männer sehe, wird mir physisch schlecht. Im ersten Monat des Prozesses musste ich mich zu Hause oft übergeben. Meine Freundinnen berichteten dasselbe. Diese Männer zeigen nicht einmal Reue, außer darüber, dass sie erwischt wurden. Wenn es eine Entschuldigung gibt, ist sie erbärmlich. Sie bereuen auch nicht, Gisèle vergewaltigt zu haben. Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr.
Blandine Deverlanges
taz: Sie haben unvorstellbare Dinge getan. Aber ist es nicht trotzdem falsch, ihnen das Menschsein abzusprechen?
Deverlanges: Ich verstehe, dass dieser Satz schockierend ist. Es kommt darauf an, was man unter einem Menschen versteht. Diese Männer haben eine Frau vergewaltigt, die den Anschein machte, tot zu sein. Und sie zeigen keine Reue. Das entspricht nicht meiner Definition von Menschsein, es tut mir leid.
taz: Unter den Angeklagten befinden sich Feuerwehrmänner, Lkw-Fahrer, Krankenpfleger …
Deverlanges: Und sogar ein Journalist.
taz: In den Medien liest man oft, dass es sich um „ganz normale Männer“ handelt. Was sagt uns diese Beschreibung?
Deverlanges: Dass Vergewaltigung keine Frage des Bildungsniveaus ist, keine Frage des Reichtums, nicht einmal eine Frage sexuellen „Mangels“, denn die meisten von ihnen waren in Beziehungen. Es gibt kein typisches Profil. Wie „normal“ diese Männer sind, erzählt uns eigentlich nur von männlicher Gewalt. Das sind Männer, die durch die Gewalt, die sie Frauen zufügen können, sexuell erregt werden. Was all diese Männer gemeinsam haben, ist, dass sie Pornos konsumiert haben. Viele von ihnen zahlten auch für sexuelle Handlungen, also für Prostitution – in Frankreich ist das im Gegensatz zu Deutschland eine Straftat. Das heißt, es sind die Freier, die eine Straftat begehen, und die Frauen sind die Opfer. Und wir sind sehr stolz auf dieses Gesetz.
taz: Welche Rolle spielen Pornografie und Prostitution?
Deverlanges: Als radikale Feministin sehe ich ganz klar, dass Pornografie und Prostitution ein Kernaspekt des Prozesses sind. Wir haben den Beweis vor Augen, was sie anrichten.
taz: Sehr viele Menschen konsumieren Pornos und werden trotzdem nicht zu Vergewaltigern.
Deverlanges: Man sollte eher fragen: Wie hoch ist der Prozentsatz der Vergewaltiger, die keine Pornografie konsumieren? Verschwindend klein. Ich habe außerdem Überlebende der Pornoindustrie kennengelernt. Für mich bedeuten Pornos, sich zu Vergewaltigungen einen runterzuholen. Die Angeklagten sind nur zur Tat geschritten, das ist alles. Das ist ein blinder Fleck in der feministischen Debatte. Pornos und Prostitution beuten Frauenkörper zur sexuellen Befriedigung von Männern aus.
Blandine Deverlanges
taz: Wobei es auch Prostituierte gibt, die sagen, sie haben diesen Beruf frei gewählt.
Deverlanges: Ich arbeite in einer Organisation, die Prostituierte begleitet. Diese Frauen sagen, dass der einzige Weg, um zu überleben, darin besteht, sich genau das einzureden. Selbst wenn es einige wenige Frauen gibt, die das freiwillig machen, würde ihre Freiheit rechtfertigen, dass die anderen alle unterdrückt sind? Leider gibt es auch in der feministischen Welt eine Reihe von Gruppierungen, die vorgeben, feministisch zu sein, aber Pornos und Prostitution für okay halten. Im Übrigen sind sie zu dem Thema im Pelicot-Prozess auffallend still.
taz: Welche Rolle spielt es, dass der Prozess öffentlich gemacht wurde?
Deverlanges: Es verändert alles. Dass das auf ausdrücklichen Wunsch des Opfers geschah, dient dazu, Dinge sichtbar zu machen, die einige lieber verbergen würden. Was soll verborgen werden? Wem nützt es, etwas zu verbergen? Den Tätern. Sexualstraftäter zum Beispiel, die Kinder missbrauchen, sagen immer den gleichen Satz: „Das bleibt unser Geheimnis.“
taz: Während des Prozesses wurde Gisèle Pelicot zu einer Ikone der feministischen Bewegung. Funktioniert diese Bewegung nur mit einer Ikone?
Deverlanges: Nein, ganz und gar nicht. Zunächst einmal lehne ich den Begriff „Ikone“ ab, weil er eine religiöse Konnotation hat. Eine Ikone verlangt Verehrung. Ich bin Gisèle unendlich dankbar und bewundere sie zutiefst. Das habe ich ihr auch gesagt. Aber ich denke, es ist keine gute Idee, sie zu einer Ikone zu machen.
taz: Warum?
Deverlanges: Es wäre eine weitere Last auf ihren Schultern. Sie hat uns bereits ein Geschenk gemacht, das sehr groß ist, nämlich das ihrer Geschichte. Sie hat es ermöglicht, dass wir uns ihre Geschichten aneignen. Aber wir werden Gisèle nicht anbeten und dann hoffen, dass sich Dinge ändern. Feminismus besteht in Wirklichkeit aus Frauen, die sich horizontal organisieren, um einen Kampf gegen Gewalt zu führen. Wir brauchen dabei keine Anführerin.
taz: Gisèle Pelicot hat sich mit einem Ihrer Transparente fotografieren lassen. Darauf stand: „Seit ich in den Gerichtssaal gekommen bin, fühle ich mich gedemütigt.“
Deverlanges: Ja, ich habe das Foto gemacht. Und das Banner geklebt.
taz: Warum haben Sie dieses Zitat gewählt?
Deverlanges: Wir haben Collagen zu verschiedenen Themen gemacht. Manche gegen die Vergewaltiger. Auf weiteren drücken wir unsere Unterstützung für Gisèle aus. Und dann haben wir eine Reihe mit Sätzen aus der Anhörung gestaltet. Eines Tages ging Gisèle aus dem Gerichtssaal und sagte diesen Satz. Versuchen Sie, sich in ihre Lage zu versetzen: Sie sitzt vier Monate lang mit ihren Vergewaltigern im selben Raum. Ich habe die Angeklagten gesehen: Sie strecken uns die Zunge raus, sie werfen uns Luftküsse zu, sie zeigen uns den Stinkefinger – sie funktionieren wie eine Meute. Und dann gibt es die Anwälte der Täter, die als Verteidigungsstrategie Opfer belästigen und verunglimpfen. Zum Beispiel Strafverteidiger wie Nadia El Bouroumi. Sie schikanierte Gisèle buchstäblich.
taz: Was hat sie gemacht?
Deverlanges: Sie verlangte, dass Fotos im Gerichtssaal gezeigt werden, die die Vergewaltigungen überhaupt nicht betrafen. Fotos aus der Privatsphäre. Sie behauptete, Frau Pelicot sei eine Exhibitionistin. Ich werde diese Argumente nicht weiter ausführen. Aber El Bouroumis Ziel war eindeutig, Gisèle Pelicot zu demütigen.
taz: Eine weitere Aggression …
Deverlanges: Und die funktioniert. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Caroline, Gisèles Tochter, oder David, ihr Sohn, aus dem Gerichtssaal gehen mussten und im Foyer in Tränen ausgebrochen sind. Es ist unerträglich, wenn man Opfer solch schrecklicher Verbrechen ist, den Mut hat, Gerechtigkeit zu fordern, sich seinen Tätern entgegenzustellen, und dann weitere Angriffe ertragen muss. Wir finden das unmenschlich. Und deshalb haben wir den Satz, den Gisèle darüber gesagt hat, auf ein Plakat genommen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Wie ist das Foto entstanden?
Deverlanges: Wir haben für das Banner einen Ort ausgesucht, an dem Gisèle Pelicot oft vorbeigeht. Einen Tag nachdem wir es aufgeklebt hatten, war ich wieder dort. Als ich überprüfte, ob der Klebstoff hält, kam sie vorbei. Sie las den Satz laut vor und sagte: „Aber ja, ich erinnere mich, wann ich das gesagt habe.. Sie bedankte sich bei uns und sagte: „Grâce à vous, je suis debout.“ – „Dank Ihnen stehe ich noch.“ Es sind diese Momente, in denen ich das Gefühl habe, dass die Dinge an ihrem Platz sind, dass sich all das lohnt.
taz: Sie haben die Anfeindungen im Gerichtssaal erwähnt. War Ihre Gruppe auch direkten Angriffen ausgesetzt?
Deverlanges: Einmal habe ich vorm Gerichtsgebäude mit der Presse gesprochen, als die Angeklagten herauskamen. Einer fing an, sich zu beschweren, dass es seiner Mutter wegen der Berichterstattung schlecht gehe. Jemand sagte zu ihm: „Sie hätten doch auch nicht gewollt, dass man Ihrer Mutter so etwas antut.“ Da rastete er aus. Aus zehn Meter Entfernung schrie ich rüber: „La honte!“, also: „Schäm dich!“ Er geriet vollkommen außer sich und rief zu mir: „Du wirst sehen, deine Mutter werde ich auch vergewaltigen.“ Vor der Polizei, vor den Anwälten, vor den Medien.
taz: Wie gehen Sie mit so etwas um?
Deverlanges: Natürlich macht das etwas mit mir. Ich bin autistisch. Das ist vielleicht wichtig zu wissen, auch wenn ich selbst erst seit Kurzem davon weiß. Aber vielleicht erklärt das, warum ich so sensibel für Dissonanzen und Ungerechtigkeiten bin. Ich denke, dass mein Feminismus auch daher kommt.
taz: Avignon ist nicht groß. Kannten Sie einen der Täter schon davor?
Deverlanges: Ich persönlich kenne keinen der Angeklagten, aber es gibt viele Frauen, die einen der Täter schon davor kannten oder sogar selbst Opfer waren. Eine Freundin wurde vom Vater eine der Angeklagten vergewaltigt. Sie hat nie Gerechtigkeit erfahren. Ich kenne diese Männer erst seit dem Prozess: Auf der Straße und auf dem Weg zum Gericht zum Beispiel – man ist ständig von ihnen umgeben. Und da sie mich mittlerweile erkennen, machen sie Fotos, filmen und verfolgen mich. Es gibt ständig Einschüchterungsversuche.
Blandine Deverlanges
taz: Welche Erwartungen haben Sie an den Prozess?
Deverlanges: Wir erwarten, dass die Gesellschaft endlich sagt: Es reicht! Stoppt Vergewaltigungen und stoppt die Vergewaltigungskultur. Wir wollen, dass jeder der Angeklagten eine exemplarische Strafe erhält. Das Strafgesetzbuch sieht für Vergewaltigung 15 Jahre Gefängnis vor und 5 Jahre für erschwerende Umstände. Und es gibt mindestens zwei davon für jeden von ihnen.
taz: Welche?
Deverlanges: In manchen Fällen war es Gruppenvergewaltigung, in anderen die Verabreichung von Substanzen oder die Aufnahme von Bildern mit sexuellem Inhalt ohne das Wissen des Opfers. Bisher liegen die Anklageschriften weit unter dem, was wir erhoffen.
taz: Nämlich?
Deverlanges: Wir fordern die Höchststrafe, also 20 Jahre für jeden.
taz: So viel, wie die Staatsanwaltschaft für Dominique Pelicot fordert?
Deverlanges: Das ist doch das Minimum. 20 Jahre für Dominique Pelicot wirken sehr mild für das, was er begangen hat. Aber weil er 20 Jahre bekommt, schlagen die Staatsanwälte im Umkehrschluss niedrigere Strafen für die anderen Angeklagten vor. Es ist zwar wahr, dass das Ausmaß ihrer Verbrechen im Vergleich zu Pelicots geringer ist, aber das macht ihre Gewalttaten nicht weniger schwerwiegend. Es bleiben immer noch Vergewaltigungen.
taz: Bringen härtere Strafen denn etwas?
Deverlanges: 99,4 Prozent der Vergewaltigungen führen in Frankreich zu keiner Verurteilung. Wenn Männer wüssten, dass sie ins Gefängnis kämen, hätte das auf jeden Fall eine abschreckende Wirkung. Dass so viele Vergewaltigungen ungestraft bleiben, hat eher einen Anreizeffekt. All diese Männer gingen zu Gisèle, um sie zu vergewaltigen, weil sie dachten, dass sie damit davonkommen. Sie haben sich zwar geirrt – aber dass sie vor Gericht stehen, ist sehr außergewöhnlich. Eine Frau, die vergewaltigt wurde, hat ihr ganzes Leben damit zu kämpfen. Man kann nicht ent-vergewaltigt werden. 20 Jahre Haft sind dagegen lächerlich. Ob diese Männer leiden, ist uns egal. Ich hoffe, dass sie leiden. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass sie sich von mir aus umbringen können, umso besser.
taz: Puh.
Deverlanges: Es ist schrecklich, das zu sagen. Aber ich habe ein Maß an Abscheu erreicht, das mich einfach nur wünschen lässt, dass sie verschwinden. Wir Frauen wollen zu Hause, auf der Straße und bei der Arbeit sein, ohne vergewaltigt zu werden. Gisèle Pelicot zeigt uns, dass es selbst in den eigenen vier Wänden, wo man sich sicher fühlt, ein Risiko gibt: Aus weniger als zehn Kilometer Entfernung kamen mehr als 100 Männer, um sie zu vergewaltigen. Und Mazan liegt auf dem Land. Stellen Sie sich das Szenario in der Stadt vor. Dieser Prozess muss ein Prozess der Bewusstwerdung sein, dass viele Männer de facto Prädatoren sind. Wir müssen endlich anfangen, uns für die Würde der Frauen zu interessieren.
taz: Hat der Prozess Avignon bereits verändert?
Deverlanges: Er hat viel Aufsehen erregt. Es kamen immer mehr Menschen, um dem Prozess beizuwohnen. Und dazu werden die Straßen Avignons von uns geschmückt. Aber es geht nicht nur um Avignon. Es geht um Frankreich, sogar um die Welt. Es geht um die Frage der Vergewaltigungskultur. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass Männer sexuelle Bedürfnisse haben, die befriedigt werden müssen. Das stimmt nicht. Man stirbt nicht an Sexmangel. Wir müssen die Beziehung zwischen Frauen und Männern hinterfragen. Oder vielmehr den Glauben der Männer, dass es legitim ist, Frauenkörper zu kolonisieren.
taz: Das Urteil soll spätestens am 20. Dezember verkündet werden. Wie wird die Arbeit der „Amazones d’Avignon“ danach weitergehen?
Deverlanges: Uns gibt es seit fünf Jahren und uns wird es weiterhin geben. Zum Beispiel sind wir Teil einer feministischen Koalition. Gemeinsam haben wir ein Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt vorgeschlagen. Der zuständige Minister sagte kürzlich, es sei irrelevant. Unser letztes Wort dazu ist noch nicht gesprochen. Wir werden also weitermachen: auf der Straße, vor Gericht, aber auch gegenüber den Politikern und den Medien.
taz: Und wie geht es für Sie persönlich weiter?
Deverlanges: Ich will kein Mitleid erregen, aber dieser Prozess hat mich traumatisiert. Ich muss das alles verarbeiten. Im Laufe der Monate habe ich eine sehr starke Intoleranz gegenüber Männern entwickelt. Außer meinem Mann und meinen Söhnen ertrage ich keine anderen. Wenn bei der Arbeit ein Mann neben mir Platz nimmt, stehe ich auf und gehe. Ich hoffe, davon irgendwann geheilt zu sein. Aber momentan habe ich das Gefühl, dass sich mein Blick auf die Welt verändert hat. Ich brauche erst mal Ruhe und Distanz. Der Rest ist offen.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes stand, dass die Urteilsverkündung am 16. Dezember stattfinden soll. Das ist falsch. Das Urteil soll spätestens am 20. Dezember verkündet werden. Das genaue Datum ist unbekannt.“
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