Israels Krieg in Gaza: Das laute Schweigen der Deutschen
Mit der Haltung zum Nahost-Krieg verrät Deutschland seine Werte. Statt den Kurs zu hinterfragen, verstehen sich Medien als Hüter der „Staatsräson“.
Z u Russlands Krieg gegen die Ukraine fanden deutsche Politikerinnen und Politiker klare Worte. Deutschland stehe „in der Pflicht, die Menschenrechte überall und zu jeder Zeit zu achten und zu verteidigen“, erklärte Olaf Scholz im Herbst 2022 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Den Internationalen Strafgerichtshof und den UN-Menschenrechtsrat werde sein Land „mit aller Kraft“ unterstützen, versprach er. Und: Hunger dürfe nie wieder als Waffe eingesetzt werden, sagte der Kanzler an anderer Stelle.
„Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden – sind reine Terrorakte“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober 2022 vor dem Europaparlament in Straßburg, wo sie auch klarstellte: „Das sind Kriegsverbrechen.“ Und Außenministerin Baerbock sagte im Februar 2023 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf mit Blick auf die Kinder, die in diesem Krieg zum Opfer werden: „Wir müssen ihre Namen aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen nennen“.
Zu Israels Kriegsführung in Gaza fehlen deutschen Politikerinnen und Politikern dagegen die Worte – und das seit drei Monaten. Bei allen Unterschieden – es gab keinen Terrorangriff auf Russland, die Ukraine ist ein souveräner Staat – wird jetzt auch in Gaza eine zivile Bevölkerung kollektiv bestraft und deren zivile Infrastruktur angegriffen, werden überproportional viele Kinder getötet und Hunger als Waffe eingesetzt. All das sind Kriegsverbrechen. Doch der deutschen Politik hat es die Sprache verschlagen. Damit verrät Deutschland seine Werte, macht sich unglaubwürdig und entfremdet sich vom Rest der Welt.
Katastrophale Lage
In seiner Neujahrsansprache erwähnte Scholz die Lage in Gaza mit keiner Silbe, dabei ist sie dramatisch. 85 Prozent der 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen wurden in den letzten drei Monaten innerhalb ihrer Enklave vertrieben und suchen in deren Süden Schutz, die Hälfte von ihnen ist minderjährig. Mehr als einer Million droht der Hungertod, warnt die UN. Vier von fünf der hungrigsten Menschen der Welt leben in Gaza, schrieb UN-Generalsekretär António Guterres kurz vor Weihnachten auf dem Nachrichtendienst X. Ein Viertel der Menschen in Gaza könnte im Laufe eines Jahres an Hunger und Krankheiten sterben, weil es an Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung fehlt, warnt die Global-Health-Analystin und Guardian-Kolumnistin Devi Sridhar. Die Menschenrechtsorganisationen Oxfam und Human Rights Watch werfen Israel vor, Hunger als Kriegswaffe zu benutzen.
Mehr als 22.000 Menschen sind offiziellen palästinensischen Angaben zufolge bereits israelischen Bomben zum Opfer gefallen, mehr als zwei Drittel davon sollen Frauen und Kinder sein. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein, weil Tausende weitere Menschen womöglich noch unter den Trümmern begraben liegen. Zehntausende sind teilweise schwer verletzt, allein tausend Kinder sollen eines oder beide Beine verloren haben. Doch höchstens 13 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen sind laut der WHO noch funktionsfähig, im Norden kein einziges mehr.
Unter den vielen Opfern finden sich eine Rekordzahl an Ärztinnen und Ärzten, Journalistinnen und Journalisten, UN-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, aber auch Intellektuelle und Kunstschaffende. Das Rechercheteam von Forensic Architecture wirft Israel eine systematische Kampagne gegen die medizinische Infrastruktur in Gaza vor. Das Internationale Presse-Institut (IPI) spricht von „der größten Anzahl von Journalisten, die in einem modernen Krieg oder Konflikt in so kurzer Zeit getötet wurden“. Das Committee to Protect Journalists (CPJ) in New York zeigte sich „besonders besorgt über ein offensichtliches Muster von Angriffen des israelischen Militärs auf Journalisten und ihre Familien“.
Die vierte Gewalt fällt aus
Die israelische Kriegsführung im Gazastreifen gehöre schon jetzt zu den tödlichsten und zerstörerischsten der jüngeren Geschichte, berichtete die amerikanische Agentur Associated Press. In knapp drei Monaten habe Israels Armee mehr Zerstörung angerichtet als Assads Armee im syrischen Aleppo in den vier Jahren zwischen 2012 und 2016, Russlands Armee im ukrainischen Mariupol oder die US-geführte Koalition in ihrem dreijährigen Feldzug gegen den IS in Mossul und Rakka. Sie zitierte die Wissenschaftler Corey Scher und Jamon Van Den Hoek, zwei ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der Kartierung von Kriegsschäden, die dafür Satellitendaten auswerteten.
Der US-Sender CNN berichtete, fast die Hälfte der Bomben, die Israels Armee über Gaza abwerfe, seien sogenannte „dumme“, unpräzise Bomben, die viele Zivilisten töteten. Die New York Times berichtete, Israels Armee habe einige dieser „dummen“ 2.000-Pfund-Bomben über Gebieten abgeworfen, die sie vorher zu angeblich sicheren Schutzzonen für die Zivilbevölkerung erklärt habe, auch über Flüchtlingslagern.
Solche Recherchen sucht man in deutschen Leitmedien vergeblich. Hier empört man sich eher über Greta und Masha Gessen als über den Krieg in Gaza. Denn viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande verstehen sich vor allem als Hüter der Staatsräson. Sie sind mehr damit beschäftigt, abweichende Meinungen zu verurteilen, als den deutschen Schulterschluss mit Israel zu hinterfragen. Statt ihre Leserinnen und Leser zu informieren, missionieren sie. Als vierte Gewalt fallen sie aus. Deshalb machen sich in Deutschland viele keine Vorstellung davon, was gerade in Gaza passiert. Oder, weil sie es gar nicht wissen wollen. Weil sie sich die Dinge schönreden.
Bedenkliche Fantasien
Wenn das Ziel des Krieges ist, die Hamas, und ausschließlich die Hamas, vernichtend zu schlagen – warum hat die israelische Armee den Norden von Gaza praktisch unbewohnbar gemacht? Warum zweifeln israelische Politikerinnen und Politiker bis hin zum Präsidenten an, dass man in Gaza zwischen Terroristen und Zivilbevölkerung unterscheiden könne? Warum sprechen manche Minister ganz offen davon, die Palästinenser aus Gaza zu vertreiben und dort wieder jüdische Siedlungen zu errichten? Und warum beschwor der israelische Premier im Kampf gegen die Hamas die biblische Legende vom Volk Amalek, das immer wieder gegen das Volk Israel kämpfte und dafür zur Strafe mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde?
Diese Fragen könnten Politik und Medien stellen. Doch in Deutschland klammert man sich noch immer an die Vorstellung, Israel sei ein Staat, mit dem man gemeinsame Werte teile und der sich an das Völkerrecht halte. Dabei hat Israel eine lange Geschichte von dokumentierten Kriegsverbrechen, die nie geahndet wurden, und für Palästinenser, die unter seinem Besatzungsregime leben, gilt ein anderes Recht als für israelische Staatsbürger – das Militärrecht. Relevante Menschenrechtsgruppen – nicht nur Amnesty International, sondern auch Human Rights Watch und die israelische Organisation B’Tselem – sprechen deshalb von einem Apartheidsystem.
Schwere Vorwürfe
Wie anders in anderen Teilen der Welt über Israels Kriegsführung gedacht wird, zeigt Südafrikas Vorstoß, das Land jetzt wegen „Völkermord“ vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu verklagen. Auch die Regierungen Brasiliens, Kolumbiens und Boliviens, Algeriens und anderer Staaten erheben den Genozid-Vorwurf gegen Israel. Südafrikas 84-seitige Anklageschrift versucht zu belegen, dass es sich bei der massiven Zerstörung und den vielen Toten im Gazastreifen um das Ergebnis einer gezielten Strategie handelt. Es ist eine bedrückende Lektüre.
Im Eilverfahren sollen die UN-Richter aus Sicht Südafrikas nun ein Ende der Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser anordnen. Vier von fünf Staaten der Welt stimmten bereits im November in der UN-Generalversammlung für einen sofortigen humanitären Waffenstillstand in Gaza. Deutschland gehörte zu den wenigen Ländern, die dagegen stimmten oder sich enthielten. Europäische Staaten stimmten kreuz und quer – Österreich und Tschechien an der Seite Israels und der USA; Frankreich, Spanien und Belgien dagegen für einen Waffenstillstand. Deutschland enthielt sich. Eine gemeinsame europäische Außenpolitik liegt in Trümmern. Jean Asselborn, Luxemburgs Ex-Außenminister, warnte daher schon vor einem Monat: „Die Geschichte wird uns das nicht verzeihen.“
Ob es sich im juristischen Sinne um Völkermord handelt, werden Juristinnen und Historiker vermutlich erst rückblickend beurteilen. Fest steht aber schon jetzt, dass es im Gaza-Krieg deutliche Anzeichen für massive Kriegsverbrechen gibt – nicht nur seitens der Hamas bei ihrem Massaker am 7. Oktober und ihren ständigen Raketenangriffen, sondern auch seitens der israelischen Armee, durch die kollektive Bestrafung und ihr Dauerbombardement der Zivilbevölkerung von Gaza. Nur Israels Partnerländer können sie von ihrem verhängnisvollen Kurs abbringen. Selbst US-Präsident Joe Biden hat die israelische Regierung davor gewarnt, sich durch ihr „willkürliches Bombardement“ zu isolieren. Die Bundesregierung aber schweigt und macht sich so mitschuldig.
Die Deutschen möchten gerne glauben, sie hätten aus ihrer Geschichte gelernt. Der Rest der Welt hört ihr lautes Schweigen und sieht ihr bewusstes Wegschauen. Er nimmt deutsche Politikerinnen und Politiker nicht mehr ernst, wenn sie von Menschenrechten sprechen. Das hat fatale Folgen: Es untergräbt die Bemühungen um eine regelbasierte Weltordnung und ermuntert auch andere Staaten, auf das Recht des Stärkeren zu setzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter