100 Tage Atomausstieg: Deutschlands Bilanz kippt

Deutschland importiert derzeit mehr Strom, als es exportiert. Doch das liegt nicht allein an der Abschaltung der letzten AKWs.

Offshore-Windkraftanlagen.

Von hier kommt der Importstrom: Offshore-Windkraftanlagen in Dänemark Foto: Martin Wagner/imago

FREIBURG taz | Die Bilanz nach 100 Tagen Atomausstieg zeigt, dass Deutschland zunehmend Strom importiert. Nachdem das Land in den Monaten Januar bis März noch einen Exportüberschuss von neun Terawattstunden (TWh) erzielte, kippten nach einem weitgehend ausgeglichenen April die Monate Mai bis Juli deutlich in Richtung Import.

Mit einem Saldo von 3,0 beziehungsweise 3,7 TWh waren der Mai und der Juni sogar die importstärksten Monate überhaupt in den Energy-Charts, die vom Fraunhofer ISE in Freiburg bereitgestellt werden. In der bisherigen Gesamtbilanz des laufenden Jahres gleichen Importe und Exporte sich noch aus.

In der Stromhandelsbilanz spiegelt sich einerseits die Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke wider, denn dadurch reduzierte sich die hiesige Stromerzeugung um zwei bis drei TWh pro Monat. Andererseits ist die Entwicklung auch vom typischen jahreszeitlichen Verlauf geprägt. Denn das Winterhalbjahr ist für Deutschland traditionell sehr exportstark, während es im Sommer auch in der Vergangenheit schon Monate mit Importüberschuss gab.

Da die sommerlichen Importe aber nun deutlich gestiegen sind, könnte Deutschland erstmals seit 2002 am Ende des Jahres unterm Strich wieder ein Importland sein. Gleichwohl heißt das nicht, dass hierzulande die Kraftwerke fehlen. Die grenzüberschreitenden Stromflüsse ergeben sich nämlich in der Regel nicht aufgrund eines Mangels an Erzeugungskapazitäten, sondern aus der ökonomischen Logik heraus.

Wenn Strom im Ausland billiger ist, wird importiert

Wenn der Strom im Großhandel in Nachbarländern billiger ist und die Netzkapazitäten es erlauben, dann werden Kraftwerke im eigenen Land gedrosselt und es wird Strom importiert. Konkret hieß das im vergangenen Quartal, dass Deutschland vor allem in Dänemark, Norwegen, Frankreich und den Niederlanden Strom einkaufte, weil dort die Preise oft niedriger waren als hierzulande.

Dass Deutschland seine Kapazitäten in den letzten Monaten längst nicht ausnutzte, zeigt sich daran, dass die Stromerzeugung der fossilen Kraftwerke im zweiten Quartal auf den zweitniedrigsten Stand bisher fiel. Lediglich im zweiten Quartal 2020, das durch den Corona-Lockdown geprägt war, produzierten sie weniger.

Aus Sicht des Klimaschutzes kann man die Importe sogar positiv sehen. Denn mit Ausnahme der Niederlande verfügen jene Länder, die Deutschland zuletzt vor allem belieferten, über einen deutlich CO2-ärmeren Strommix: Dänemark durch seine Windkraft und Norwegen durch seine Wasserkraft und Frankreich durch seinen Atomstrom.

Mit welchem Vorzeichen die deutsche Strombilanz für 2023 enden wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, denn auch in diesem Herbst dürften die Exporte wieder zunehmen. Ob am Ende ein Plus oder Minus steht, wird dann vor allem in einer Hinsicht relevant sein: Die jeweiligen Akteure werden die Bilanz als Symbol werten – im Jahr des Atomausstiegs.

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