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Foto: Archiv

Jüdischer Antifaschismus in EnglandGroße Herzen, harte Fäuste

Sam Needleman ist 93. Aber wenn es gegen Nazis geht, würde er noch immer zuschlagen. Lange zählte er zu einer Gruppe Juden, die in London Faschisten jagten.

I ch kann zwar nicht mehr richtig stehen, aber ich würde mich auch heute noch wehren, mit allem, was ich bei mir habe, vielleicht mit meinem Gehstock!“ Es sei besser, sich wehrend zu sterben, als ohne Widerstand zugrunde zu gehen, erklärt der 93-jährige jüdische Londoner Sam Needleman an einem Freitagmittag im Nordlondoner Bezirk Hendon.

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Needleman wurde 1928 im damals jüdisch dominierten Londoner East End geboren. Seine Eltern waren Jiddisch sprechende Flüchtlinge aus Osteuropa. Needleman hat jahrelang gegen Nazis angekämpft – und das, ohne jemals auf den kontinentaleuropäischen Kriegsschauplätzen eingesetzt worden zu sein.

Sein Engagement begann im zarten Alter von acht Jahren. Es ging gegen keinen Geringeren als den englischen Faschistenführer und Gründer der British Union of Fascists, Oswald Mosley. Als der für den 4. Oktober 1936 einen provokanten Aufmarsch durch das jüdische East End veranstalten wollte, vereinigten sich Londons Ha­fen­ar­bei­te­r:in­nen und Kom­mu­nis­t:in­nen mit der jüdischen Gemeinschaft, um gegen die auch als Black Shirts bezeichneten englischen Nazis zu zusammenzustehen.

The Battle of Cable Street“ wurde zu einer historischen Auseinandersetzung. Zwei- bis dreitausend Fa­schis­t:in­nen sahen sich mit nahezu hunderttausend An­ti­fa­schis­t:in­nen konfrontiert. „Wir Kinder haben der berittenen Polizei Murmeln entgegengeworfen, denn wir wussten nicht, ob die Polizei auf unserer Seite oder auf der der Fa­schis­ten stand“, erinnert sich Needleman. Diese Mehrdeutigkeit polizeilicher Einsatztaktik sollte sich in seinem Leben noch mehrmals an anderen Schauplätzen wiederholen.

Eine BBC-Serie bringt die Geschichte zurück

Die vergessen geglaubte Geschichte jüdischen Widerstands gegen englische Faschisten ist erst jüngst ins Bewusstsein vieler Briten zurückgekehrt. Dafür hat eine fiktive Dramaserie der BBC nach dem Drehbuch von Sarah Solemani und dem gleichnamigen Buch von Jo Bloom gesorgt: „Ridley Road“, so der Titel, erzählt, eingebettet in ein Liebesdrama, vom blutigen Kampf der sogenannten 62er-Gruppe. Die bestand aus 200 bis 300 jüdischen Aktivist:innen, die der englischen nationalsozialistischen Bewegung des Neonazis Colin Jordan die Stirn boten. In der Tradition der Kämpfe auf der Cable Street in den 1930er Jahren verhinderte diese zwischen 1962 und 1975 aktive Gruppe jeglichen Versuch der Juden und Schwarze hassenden Nazis, ein Bein auf den Boden zu bekommen.

Tatsächlich waren die 62er die legitimen Nachfolger einer noch größeren Bewegung. Denn schon die 43er hatten zwischen 1946 und 1951 die Versuche Mosleys und anderer Nazis buchstäblich mit jüdischen Fäusten niedergeschlagen.

Einer dieser einstigen Aktiven ist der heute 91 Jahre alte Jules Konopinski. Er gehörte sowohl den 62ern als auch der 43er-Gruppe an. In seiner Londoner Wohnung erzählt Konopinski aus seinem Leben. Geboren wurde er 1930 im deutschen Breslau, 1939 flüchtete er als Kind nach England. Was er von der BBC-Serie halte? „Schlecht! Die macht uns lächerlich, wir waren viel professioneller unterwegs“, unterstreicht der Mann, der einst den Nickname „Mad Jules“ trug, weil er Mitglieder in „verrückte“ Situationen brachte, und dem bei einem Kampf einmal das Nasenbein gebrochen wurde.

Jules Konopinski ist 91 Jahre alt. Früher nutzte er seine Fäuste, um Neonazis zu verjagen Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Konopinski beschreibt das Klima nach dem Zweiten Weltkrieg in London, als die 43er entstanden. „Winston Churchill duldete die Neuformierung von faschistischen Bewegungen als Zeichen der Rückkehr Großbritanniens nach dem Krieg zu seiner demokratischen Tradition und dem Recht auf Meinungsfreiheit“, so beginnt er. Auch die nachfolgende Regierung unter dem Labour-Premier Clement Attlee von 1945 bis 1951 habe das nicht geändert. So wurde aus der Siegermacht gegen den Faschismus im Krieg eines der wenigen europäischen Länder, in denen faschistische Treffen ungeniert im Namen der Demokratie geduldet wurden.

Ich war außer mir, als ich aus dem Militärdienst zurückkehrte und erfuhr, dass die Nazis sich nun auf unseren eigenen Straßen bewegten

Jerry Kaffin, Rentner

Oswald Mosley und andere Faschisten witterten die Möglichkeit, sich neu zu etablieren, hielten Treffen ab, bevorzugt in jüdischen Vierteln, wo sie auf judenfeindliche Mitläu­fe­r:in­nen hofften. Mit aufhetzerischen antisemitischen Reden und aggressiven Graffiti an den Häuserwänden versuchten sie die jüdische Bevölkerung einzuschüchtern.

„Vor den späteren Einwanderungswellen aus der Karibik und Indien waren jüdische Menschen der Inbegriff des Fremden“, erklärt Konopinski. Jüdischen Gemeinschaften hätten sich weder auf die Politik noch auf jüdische Ver­tre­te­r:in­nen wie dem Dachverband Jewish Board of Deputies verlassen können, meint er. Es blieb nur eins: Die Sache in die eigenen Fäuste zu nehmen.

Faschisten prügeln

Zur eigentlichen Gründung der 43er-Gruppe kam es im Mai 1946, als Gerry Flamberg, Morris Beckman, Lenny Sherman und Alec Carson durch Zufall auf eine Versammlung des Faschistenführers Jeffrey Hamm stießen. Die vier britischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs beschlossen, der Versammlung mit ihren Fäusten ein sofortiges Ende zu bereiten. Als die Heldentat bald darauf im jüdischen Maccabi Club die Runde machte, fassten 39 Menschen, größtenteils ebenfalls ehemalige Soldaten des britischen Militärs, den Entschluss, die Angelegenheit planmäßiger anzugehen. Die 43er waren geboren.

Auch Jerry Kaffin, heute 94 Jahre alt, trat damals der Organisation bei. „Ich war außer mir, als ich aus dem Militärdienst zurückkehrte und erfuhr, dass die Nazis, die wir bekämpft und besiegt hatten, sich nun auf unseren eigenen Straßen bewegten.“ Militärische Auszeichnungen und Kampfeinsätze von Gruppenmitgliedern sollten schon bald beim Kontakt mit der Polizei von Nutzen werden, weil das die Beamten beeindruckte.

Später schlossen sich Hunderte Jüdinnen und Juden der Bewegung an. Darunter befand sich auch ein gewisser Vidal Sassoon, später einer der bekanntesten Friseure der Welt. So groß wurde die Gruppe, dass sie bald in einzelne Einheiten eingeteilt wurde – Nordlondon, Ostlondon, und so weiter.

Auch ein Rabbiner war von Anfang an mit von der Partie. Rabbi Leslie Hardman war der erste jüdische Geistliche gewesen, der das befreite Konzentrationslager Bergen-Belsen betrat. Hardman war sich darüber im Klaren, dass alles daran gesetzt werden müsste, um einen Aufstieg von Fa­schis­t:in­nen in Großbritannien zu verhindern – „Never Again!“, „Nie wieder!“, so lautete das Motto der Haudegen. Trotz des Zuspruchs Hardmans waren die meisten der Mitglieder kaum religiös. Needleman beispielsweise bezweifelte die Existenz Gottes. Das sei für ihn ein weiterer Grund gewesen, auf die Schlagkraft seiner eigenen Fäuste zu vertrauen.

Alte Haudegen: Jules Konopinski, Sam Needleman und Harry Kaufman (von links) Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Politisch blieben beide Gruppen, die 43er wie die 62er, vielschichtig. Der Historiker Daniel Son­abend, der ein Buch über das Thema geschrieben hat, sagt, dass sich sowohl liberale und konservative als auch kommunistische, zionistische und antizionistische Jüdinnen und Juden miteinander gegen den Faschismus verbündet hätten. Es gab eine von den 43ern herausgegebene Zeitung namens On Guard, in der auch Gastbeiträge von schwarzen Bürgerrechtlern erschienen. Und die Gruppe habe bei ihren handfesten Auseinandersetzungen mit den Faschisten oft den physischen Beistand britischer Kom­mu­nis­t:in­nen erhalten.

„Wir sahen uns als die ersten Juden seit der Zeit Judah Maccabis, welche zurückschlugen“, erinnert sich Jules Konopinski. Dazu zählte auch das Sammeln von Informationen. Die Neonazi-Gruppen wurden infiltriert, um von geplanten Veranstaltungen im Voraus zu wissen und diese zu sprengen.

Ein Zentrum der Auseinandersetzungen

Einer der Orte, an denen es mehrfach zu Auseinandersetzungen kam, war Ridley Market, mitten im Ostlondoner Stadtteil Hackney gelegen, heute ein afrikanisch-karibischer Markt, damals jüdisch geprägt. Hier traten die Fa­schis­t:in­nen mit Vorliebe auf, und hier stießen sie auf jüdischen Widerstand. Nicht immer wurden dabei die Fäuste benötigt. „Manchmal reichte es auch einfach, früher auf den Markt zu sein als die Faschist:innen. Wir gingen schon um drei Uhr morgens dorthin und eröffneten eine Versammlung mit wenigen Leuten, denn die Polizei erlaubte immer nur eine Versammlung“, weiß der heute 94-jährige Jerry Kaffin noch.

Warum sie eigentlich mit Gewalt die Faschisten bekämpften? „Weil es Menschen gibt, mit denen niemand normal sprechen kann“, antwortet ­Jules Konopinski. Historiker Sonabend erklärt dazu, dass die Argumente der friedlichen Konfliktlösung in Europa durch die christliche Mehrheit definiert sei. Für diese sei es einfach zu behaupten, alle Menschen seien gleich und man dürfe keine Gewalt anwenden. „Das sieht aus der Perspektive von unterdrückten und oft bedrohtem Minderheiten ganz anders aus“, glaubt er.

Der Kampf gegen die Neonazis endete nicht immer erfolgreich. Jerry Kaffin berichtet davon, wie er bei einer schlecht vorbereiteten Aktion so zusammengeschlagen worden sei, dass er mit einer offenen Kopfwunde in ein Krankenhaus gefahren werden musste. Stolz ist er darauf, dass es ihm trotzdem gelang, diese Verletzung vor seiner ängstlichen Großmutter zu verbergen.

Es war reines Glück, dass auf keiner Seite jemand bei den Auseinandersetzungen das Leben verloren hat

Jules Konopinski

Ein anderes Erlebnis steuert der heute 90 Jahre alte Harry Kaufman bei, der noch heute der Meinung ist, bei der Fahrt im Bus nicht alt genug zu sein, um sich einen Sitz anbieten lassen. Kaufman sei bei einer Aktion von einem Polizisten verhaftet worden, nur weil es „so ausgesehen hätte, als wolle ich gleich Mosley die Fresse polieren“. Er erinnert sich: „Dafür erhielt ich vor Gericht ein Bußgeld in Höhe von 20 Pfund aufgedrückt.“ Die heute umgerechnet 850 Euro musste damals sein Vater bezahlen, sie wurde allerdings von der 43er-Gruppe später zurückerstattet.

Nicht alle entkamen wie Harry Kaufman ohne weiteren Schaden. Wer dem Polizeichef Charles Satterthwait bei der Verhaftung in die Quere kam, wurde mit Bemerkungen wie „verdammter Jude“ zusammengeschlagen. Auch andere Polizeibeamte waren Juden gegenüber nicht immer freundlich gesinnt.

Nach der Erinnerung von Jules Konopinski hatte sich die Gruppe eine Grenze der Gewalt gesetzt, nach der nicht weiter geschlagen wurde. „Trotzdem war es reines Glück, dass auf keiner Seite jemand bei den Auseinandersetzungen das Leben verloren hat“, gesteht er zurückblickend ein.

Sam Needleman erinnert sich bis heute gut an die Kämpfe: „Bei Straßenkämpfen geht es darum, ohne Angst und nicht blindwütig auf gefährliche Situationen zuzugehen“, charakterisiert er seine wilden Tage. Waffen wären dabei oft nur improvisiert gewesen. Jerry Kaffin erinnert sich an die abgeschnittenen Riemen der Gurthalter aus der Londoner U-Bahn, die zum Kampf eingesetzt wurden.

Einige der jüngeren Mitglieder, so wird berichtet, hielten sich nicht immer an Grenzen der Gewalt. Besonders sadistisch soll sich ein als die Goldstein-Brüder bekanntes Duo verhalten haben, das nach den Recherchen des Historikers Sonabend vermutlich damit ihre kindliche Misshandlung durch ihren Vater an anderen Familienmitgliedern austrugen. „Das Gute war, die waren auf unserer Seite“, sagt dazu Jerry Kaffin. Auch viele Geschäftsinhaber hätten die Gruppe unterstützt, bisweilen auch jüdischer Gangster.

Die nächste Generation

Um 1951 löste sich die 43er-Gruppe selbst auf, nachdem sie Oswald Mosley und andere erfolgreich aus den Verkehr gezogen hatten, wie Konopinski es schildert. Tatsächlich zog der Faschistenführer in diesem Jahr nach Irland um und lebte später in Frankreich. Viele aktive An­ti­fa­schis­t:in­nen waren da aus ihren jungen Jahren herausgewachsen und besaßen nun Arbeit und Familie.

Bei den 43ern machten auch Frauen mit, von denen manche genauso gut zuschlagen konnten wie die Männer. Einer jungen jüdischen Frau, Wendy Turner, gelang es sogar, zur Geliebten des Neonazis Victor Burgess zu werden. Sie gab beständig Informationen an die 43er weiter.

Viele der älteren jüdischen An­ti­fa­schis­t:in­nen konnten oder wollten bei den 62ern nicht mehr mitmachen

Die seit letztem Monat laufende BBC-Serie „Ridley Road“ erinnert mit den fiktiven Vivienne, die sich bei den Fa­schis­t:in­nen einnistet, an diese Geschichte. In Wahrheit blieb sie nicht ohne fatale Folgen. Wendy Turner entschloss sich 1982 zum Suizid.

Nach der Auflösung der 43er-Gruppe blieb es über zehn Jahre lang ruhig. Doch als der Neonazi Colin Jordan am 1. Juli 1962 eine Hetzveranstaltung auf dem Londoner Trafalgar Square abhalten wollte, aktivierten ehemalige Mitglieder des antifaschistischen Netzwerks ihre Verbindungen. Jules Konopinski berichtet, er habe alte Mitglieder der 43er gesprochen. Gemeinsam wurde beschlossen, wieder von Neuem Widerstand zu leisten.

Die verschiedensten jüdischen Vereine und Gruppierungen wurden kontaktiert, um die Neonazis bei der Veranstaltung numerisch zu überstimmen. Nach Angaben von Konopinski kamen etwa 2.500 jüdische Lon­do­ne­r:in­nen und Un­ter­stüt­ze­r:in­nen zusammen. Sobald die ersten Worte gefallen waren, sei die Schar der Neonazis von der Menge auseinandergerissen worden.

Viele der älteren jüdischen An­ti­fa­schis­t:in­nen konnten oder wollten damals nicht mehr mitmachen, so wie Jerry Kaffin. Die neue Gruppe benannte sich nach ihrem Gründungsjahr als 62er und blieb länger als ihr Vorgänger bestehen, galt dabei aber als effektiver und brutaler. „Es dauerte länger, weil wir gegen drei verschiedene Gruppen vorgehen mussten, Jordans National Socialist Movement, den Leuten des unabwendbaren Faschisten John Tyndall, der später das Great Britain Movement, die National Front und die British National Party mitgründete, sowie die letzten Versuche Mosleys“, erinnerst sich Jules Konopinski. Die Leitung der Gruppe übernahm ein Veteran, der militärische Kampferfahrung aus dem Birma-Konflikt mitbrachte.

Was geblieben ist

Auch wenn das etablierte britische Judentum damals nichts von den Aktionen wissen wollte, so gibt es heute eine wichtige Organisation, die aus alledem erwachsen ist. Einige der ehemaligen Mitglieder der 62er-Gruppe gründeten später die Nichtregierungsorganisation Community Security Trust (CST). Die von der britischen jüdischen Gemeinschaft getragene Gruppe schützt nicht nur Synagogen und jüdische Einrichtungen vor Neonazis, sondern auch Moscheen. Ihr Chef Gerald Ronson war einst ein Mitglied der 62er-Gruppe.

Ich verstand, dass ich eine Gruppe von Verrückten bekämpfte, aber auch, dass wir ausgeklügelter vorgehen müssten als diese.

Garald Ronson, Chef des CST

Andere frühere Aktive arbeiteten für das 1974 gegründete antifaschistische Magazin Searchlight, das die Aktionen von Neonazis in Großbritannien wie auf der ganzen Welt akribisch untersucht. Aus dem Magazin erwuchs wiederum im Jahr 2004 die Organisation Hope Not Hate.

Garald Ronson, der heutige Chef des Community Security Trust, schreibt in seinen Erinnerungen, dass er und andere langsam begannen zu verstehen, dass der Kampf von Hooligans gegen andere Hooligans nicht der intelligenteste Weg zur Lösung des Problems sei. „Ich verstand, dass ich eine Gruppe von Verrückten bekämpfte, aber auch, dass wir ausgeklügelter vorgehen müssten als diese. Hierfür benötigten wir eine andere Art von Organisation, mehr als ein Bund von gut meinenden 200 starken Jungen, die sich undiszipliniert verhielten.“

Die Geschichte der antifaschistischen jüdischen Bewegungen in London wäre fast in Vergessenheit geraten. Erst die Recherchen des Historikers Daniel Sonabend führten dazu, dass die Erinnerungen jener, die damals dabei waren, doch noch aufgezeichnet wurden. Derzeit arbeitet der junge Filmemacher Jamie Goldberg an einen Dokumentarfilm über die 43er- und die 62er-Gruppe, in der er noch lebende Zeitzeugen wie Konopinski, Kaufman und Needleman interviewt. „Ich war sofort von den Geschichten dieser Leute fasziniert“, sagt er voller Enthusiasmus auf einer Veranstaltung mit dem ersten Prescreening von Teilen des Films.

Neben den Veteranen der An­ti­fasch­ist:in­nen waren dort auch Überraschungsgäste eingeladen: Oswald Mosleys leibhaftiger Enkel Ivo Mosley und Urenkel Scipio. Beide sind überzeugte Antifaschisten.

Zum Foto nach den Interviews erheben Jules Konopinski und Jerry Kaffin ihre Fäuste. Kaffin sitzt dabei in seinem Armsessel. „Wir waren Jungs mit großen Herzen und guten Fäusten,“ bemerkt ­Konopinski zum Abschied.

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24 Kommentare

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  • Überlegungen, warum es in Deutschland nicht zu der Solidarität kam, wie in London, ließen mich in den letzten Tagen nicht los. Also blätterte ich nochmal in dem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" von Daniel Jonah Goldhagen.



    Auf Seite 67 Steht das Folgende:



    "Aufgrund des Beharrungsvermögens einer Gesellschaft werden die Axiome und grundlegenden kognitiven Modelle in der Regel reproduziert.“



    Zitat Ende



    Goldhagen beschreibt weiter, wie irrationale Überzeugungen, der Behandlung realer Juden zugrunde lagen, wie der Antisemitismus für viele Deutsche ein Teil des kollektiven Bewußtseins gleichsam wie Muttermilch von Generation zu Generation weitergegeben wurde.



    Nur so, kann man sich das Versagen, die fehlende Solidarität erklären.



    Wie dieser besondere genozidale Antisemitismus der für das deutsche kognitive Modell über Juden geradezu endemisch ist, erfährt man selbst nach dem Holocaust, wenn das alte kognitive Modell derart verwurzelt ist, dass man nicht aufhören kann sich entsprechend auszuagieren.



    Wie können sich etwa Leute des öffentlichen Lebens zusammensetzen, den Gehirnschmalz traktieren, womöglich nächtelang darüber brütend, wie man es schafft uralten Hass zu transportieren, ohne sich dabei gleich die gesellschaftliche Reputation zu verderben und dabei ein derart perfides Pamphlet aufsetzten:



    dserver.bundestag....17/133/1713339.pdf

  • @HINNERK UNTIEDT:

    Einfach die letzte schliessende Klammer in der URL weglassen.

  • Toller Bericht...coole Typen.



    Erzeugt aber auch verzweifelte Gedanken über die Situation in Deutschland, wenn man denkt, warum hat es die Solidarität nicht bei uns gegeben, die hier beschrieben wird, Zitat:



    Als der für den 4. Oktober 1936 einen provokanten Aufmarsch durch das jüdische East End veranstalten wollte, vereinigten sich Londons Ha­fen­ar­bei­te­r:in­nen und Kom­mu­nis­t:in­nen mit der jüdischen Gemeinschaft, um gegen die auch als Black Shirts bezeichneten englischen Nazis zu zusammenzustehen [......] Zwei- bis dreitausend Fa­schis­t:in­nen sahen sich mit nahezu hunderttausend An­ti­fa­schis­t:in­nen konfrontiert."



    Zitat Ende



    Das wirft nochmal ein besonderes Licht, auf die Zustände, die D.J.Goldhagen auf die Situation in Deutschland beschreibt.



    Es gibt in meiner Gegend eine Geschichte über einen Mann, der in den 50ern wieder nach Hause kam. Niemand aus seiner Familioe konnte ihn in die Arme nehmen. Alle wurden ermordet. Man erzählt sich, dass er Boxer war und anfang der 30er in ein Lokal eintreten wolltze, wo die SA eine Veranstaltung machte. Die ließen ihn nicht rein. Ein paar von den Braunhemden sollen ziemlich was auf die Fresse bekommen haben. Von einer Solidarität, wie oben in London ist nichts überliefert.....

    • @Günter:

      Ja, es ist traurig. So viel Feigheit. Ich denke oft, dass das rechte G...cks zu weiten Teilen davon lebt, dass sich viele die Hände nicht schmutzig machen wollen. Diese Leute können offensichtlich froh sein, dass ihre Gegner wesentlich fridlicher sind als sie. Das Böse hat genau so viel Raum wie man ihm schenkt.



      Ich wünsche mir 2016er...

  • Ein wunderbarer Artikel, vielen Dank dafür. In Tageszeitungen werden die Verdienste von kämpferischen Minderheiten leider viel zu selten gewürdigt. Ich als alter tazler würde mir vom mir sehr geschätzten Autor z.B. einen Artikel über die Kämpfe der Schwarzen Immigrant*innen der 50er bis 80er Jahre wünschen, da gibt es viel zu berichten. Weiter so!

  • Eine Demokratie muss wehrhaft sein und eine unterdrückte Minderheit hat absolut dsa Recht sich zu wehren. Und wer herumläuft und anderen Menschen das "Mensch sein" abspricht, muss robust zurecht gewiesen werden. Keine andere Sprache wird verstanden.

  • » „Wenn alle sich gewehrt hätten, wäre es vielleicht nicht zum Mord von sechs Millionen gekommen“, glaubt er.«

    Das ist die Erkenntnis, die man erst danach ziehen konnte. Die meisten Deportierten nahmen an, sie würden "nur" in Arbeitslager kommen. Dass es Vernichtungslager waren, sickerte erst lange nach den ersten Deportationen durch. Aber das Wehren hätte schon viel früher beginnen müssen - und zwar 1933, als die Nürnberger Rassegesetze verabschiedet wurden. Dazu hätte es aber der Unterstützung der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung bedurft. Der Großteil hat jedoch weggeschaut oder war damit einverstanden, dass man Juden nach und nach aus allen Lebensbereichen gedrängt hat. Ich würde also sagen, dass der Holocaust nicht möglich gewesen wäre, wenn die Nichtjuden in Deutschland in einem frühen Stadium auf den virulenten Antisemitismus im sog. Dritten Reich reagiert hätten. Und ich beobachte, dass die nichtjüdische Bevölkerung in Europa auf den erstarkenden Antisemitismus in Europa genauso lethargisch reagiert.

    • Daniel Zylbersztajn-Lewandowski , Autor des Artikels, Auslandskorrespondent Großbritannien
      @Elena Levi:

      Richtig Elena, ich habe die Herren auch darauf hingewiesen, dass mein eigener Vater sich im Lager beständig gewehrt hat, und dass sich das Wehren nicht nur mit Fäusten geschah. Wichtig war, jedoch in ihrer Einschätzung es gar nicht so weit kommen zu lassen, dass sie überhaupt in England richtig Opfer werden, also eine Art Präventive. Die Sicht aus dem Nachhinein hatten sie ja bereits, wobei interessant ist anzumerken, dass die Battle of Cable Street einen Aufstieg Mosleys Black Shirts vor der Shoah mit abhielt. Was sie taten, mag in der Situation das Richtige gewesen sein. Laut Jules und Daniel Sonabend, konnten die älteren Mitglieder in den letzten Jahren der 43 Gruppe sich nicht immer gegen schlaglustigere jüngere durchsetzten. Gewalt hat auch seine Grenzen. Es lässt sich nicht alles dadurch lösen, insbesondere wenn dann innere Konflikte innerhalb der Gruppen aufkommen, kann es sogar selbstzerstörend werden. Wiederholt wurde auch vom Respekt unter Schlägern gesprochen, das habe ich nicht mit reingenommen. Wo Faschisten die jüdischen Gruppenmitglieder anerkannten. Wir meinen nicht Dich, sondern das Judentum, die anderen Juden und Jüdinnen. Das ist ein interessantes Phänomen, den hier gibt es im Austausch mit Fäusten dennoch eine Art Begegnung, welche, man kann es kaum glauben, in manchen Fällen das Feindbild abzubauen schien, wobei ich keinen der jüdischen Zeitzeugen hörte, über die Faschist:innen so zu sprechen. Ich denke die Evolution der Gruppen in einen Sicherheitsdienst und in die rechte Szene beobachtende Gruppen wie Searchlight ist deshalb wichtig (u.a. die Zitate vom CST Chef , wovon sich hier mehr nachlesen lässt: cst.org.uk/news/bl...-62-group-and-cst). Vielen Dank für das Mitdenken zum Thema, das ist ja genau was diese Geschichte soll, eine wahre Geschichte mit Denkanstößen.

      • @Daniel Zylbersztajn-Lewandowski:

        Leider löst der link nur die antwort aus:

        Not Found

        Sorry, the page you requested could not be found.

  • Daniel Zylbersztajn-Lewandowski , Autor des Artikels, Auslandskorrespondent Großbritannien

    Vielleicht helfen Euch diese paar Zeilen aus dem Originalskript von mir, bevor wir es auf die Länge stutzten, welche in die Zeitung passte. Ausschlaggebend war, dass niemand eingriff, der Staat es mehr oder weniger tolerierte, die Polizei zum Teil rassistisch war, und die Leute ganz konkret vor Augen hatten was passiert wenn sie nichts tuen. Sie hatten es gerade in im Europa miterlebt. Selbstverständlich gibt es konfliktlösende Ansätze, im besten Fall. Aber wir wissen auch dass einige der Leute in der ultrarechten Szene lebenslange Nazis blieben also bis ans Lebensende Hass verteilten. Nachdem nicht mur zugeschlagen wurde, und es zur CST kam, hatte diese geholfen den London Nailbomber David Copeland mit Informationen aus deren Informationen hinter Gitter zu führen. Was wichtig ist, 1999 spielte der Staat mit. Der Mann sitzt lebenslänglich. . Aber zu den Zitaten: START: Wieder war die Reaktion etablierter jüdischer Organisationen, die gleiche wie in den Tagen der 43-Group. „Sie wollten von den Aktionen nichts wissen, erzählt Konopinski und glaubt, dass es genau diese Haltung war die zur Katastrophe der Shoah mit beigetragen hatte. „Wenn alle sich gewehrt hätten, wäre es vielleicht nicht zum Mord von sechs Millionen gekommen“, glaubt er. Jerry Kaffin, der nur bei der 42-Group mitmachte, stimmt dem zu, obwohl er etwas differenzierter darüber spricht. „Der Holocaust konnte nur geschehen, weil es langsam geschah und den Menschen über längere Zeit geschwächt wurden und ihnen gleichzeitig ihre Menschlichkeit genommen wurde.“ Für Kaffin stellte der Einsatz auf den Straßen Londons deshalb den Versuch dar, es nie wieder zu einer Enthumanisierung kommen zu lassen, ja den Nazis jegliche Gelegenheit zu nehmen, überhaupt zu wachsen. ENDE

    • @Daniel Zylbersztajn-Lewandowski:

      Vielen Dank für die Ergänzungen.

    • @Daniel Zylbersztajn-Lewandowski:

      "Ausschlaggebend war, dass niemand eingriff, der Staat es mehr oder weniger tolerierte, die Polizei zum Teil rassistisch war, und die Leute ganz konkret vor Augen hatten was passiert wenn sie nichts tuen."

      Bereits vor Kriegsende wurde Mosleys British Union of Fascists verboten.



      Mosleys Union Movement hatte nie auch nur annähernd irgendwo Erfolge.



      Bei der Wahl zum House of Commoms erhielt sie 1959 2800 und 1969 4000 Stimmen. ( en.wikipedia.org/w...t#Election_results )

      Die Group 43 war zudem wohl vor allem auf London, bzw die dortigen jüdischen Viertel konzentriert. ( en.wikipedia.org/w...the_Union_Movement ) Landesweite Aktivitäten werden nicht berichtet.

  • Schöner Artikel, danke dafür!

  • Gute Gewalt vs Böse Gewalt

    "Nazis verprügeln".. da werden sicher viele denken "richtig so!".

    Nur wie unerscheiden wir (gewalttätige) Nazis, wo Prügel als Notwehr durchgehen könnte *sicher* von denen, die "nur" mitlaufen und sonst passiv sind?

    Ist gegen die phyische Gewalt überhaupt angemessen?

    Vorsicht vor vor Argumenten alá "Mitgefangen - Mitgehangen". Wir sollten tunlichst keine orwellschen Gedankenverbrechen verfolgen, wo die "falsche" Meinung schon Grund genug für Hiebe ist. Sowas gabs oft genug und es war glaube nie gut.

    • @Bunte Kuh:

      Das ist leicht: Nazis töten. Sobald man sie lässt. Und die ermorden Menschen nach rassistischer Logik, auch wenn ihnen niemand etwas getan hat. Oder halten Sie Faschismus für eine Art Meinung? Im Artikel steht's auch noch mal: Aus der gemütlichen Mehrheitsperspektive ist die "aber Hauen ist nicht lieb" sehr einfach.

      • @Karl Kraus:

        Ich verstehe schon, worauf sie hinauswollen. Also nochmal die Frage

        (a) "Wer ist gewaltbereiter Nazi?"



        (b) "Wer ist potentiell gewaltbereiter Nazi?"



        (c) "Wer ist "nur" verbaler Nazi?"

        Paschal alle AfD-Wähler zu vermöbeln ist kontrakproduktiv. Dann treibt man Leute aus Gruppe (b) nach (a) und verschlimmert das Problem.

        Gewaltätige Nazis gehören vor Gericht und nationalistisches Gedankengut gehört geächtet. So lange, bis es als "mega uncool" gilt.

    • @Bunte Kuh:

      Weltfremd und verkauft, dieser Kommentar

    • @Bunte Kuh:

      Physische Gewalt ist natürlich immer abzulehnen. Sonst sind wir wieder da wo wir schon mal waren: Antifaschismus ist Faschismus bloß anders rum.

      Hätten die Menschen damals auf Tucholsky gehört: www.textlog.de/tucholsky-rosen-weg.html

      • @pitpit pat:

        Ja, man müsste noch viel mehr mit Faschisten reden. Dann hören die auch irgendwann. Bis dahin muss man die paar Morde tolerieren. Das ist der beste Antifaschismus! Peace!

  • In D brauchen wir erst wieder Alliierte, um uns von den braunen Menschenfressern zu befreien!

  • Vielen Dank für diese tolle Geschichte. Und ein Hoch auf die alten Haudegen!

    „Weil es Menschen gibt, mit denen niemand normal sprechen kann.“

    Das stimmte damals und das stimmt auch heute noch.

    • @Jim Hawkins:

      Ein kurzes 'Hallo' vom Spielfeldrand.

      Alles Gute!

  • Mut machender Artikel.



    Danke dafür!