Ein Gang durch Londons Hinterhof

Im Londoner East End haben viele Emigrantenwellen ihre Spuren hinterlassen. Es ist die Vierte Welt, die Kolonie mitten im Mutterland. Das alte Viertel an den Docks ist ein „No go“-Gebiet  ■ Von Martin Glauert

„No way“, reagierten meine Freunde entsetzt, als ich ihnen von meinem Plan erzählte, „geh bloß nicht alleine ins East End. Der Dreck, die finsteren Typen, da wirst du abgestochen wegen einem Pfund!“ Das alte Viertel an den Docks ist ein „No go“-Gebiet, dem der Ruf des Verfalls und des Verbrechens vorauseilt. Und doch ist es eine Entdeckungsreise in das lebendigste Viertel Londons. Die verschiedenen Einwanderungswellen haben das East End über Jahrhunderte geprägt.

Steigt man aus dem U-Bahn- Schacht in Aldgate East über die ausgetretenen Stufen wieder ans Tageslicht, wendet man sich am besten nach Osten und taucht nach wenigen Minuten in die kleinen Gassen neben der Hauptstraße ein. Auf den verstaubten Schildern und an den abbröckelnden Wänden sind die Namen der ehemaligen Einwohner zu finden: Französische Hugenotten und irische Bauernsöhne schlugen hier ihr Quartier auf. Juden aus Osteuropa fanden über einige Generationen hinweg Zuflucht vor den Pogromen in ihrer Heimat und begründeten den heute noch gültigen Ruf Spitalfields als der „Schneiderwerkstatt Londons“. Lautes Treiben, grellbunte Farben, fremde Klänge umfangen den Besucher in Brick Lane. Die langen Bärte muslimischer Mullahs, die bunten Perlen im Haar junger Mädchen von den West Indies, in lange Gewänder gehüllte Frauen aus Indien und Pakistan, prächtige Turbane und dazwischen immer wieder spielende Kinder. Seit den fünfziger Jahren kamen sie, auf deren Schultern einst das mächtige Weltreich errichtet wurde, und fordern ihren Anteil an dem in Konkurs gegangenen Empire. Und immer wieder wiederholt sich die Geschichte: nach Mühen die Ankunft, das Ghetto, die Armut; Elend, unwürdige Wohnverhältnisse, ausbeuterische Arbeit und das, was sie alles ertragen läßt: die Hoffnung.

Ich muß gebückt durch zwei dunkle Flure gehen, durch einen zerfallenen Schuppen steigen, bis ich dort im zweiten Hinterhof hinter einer angelehnten Holztür ohne Namensschild finde, was ich gesucht habe: die Nähwerkstatt. Die Fenster sind mit Säcken verhängt, Neonlicht erhellt den Raum dürftig. Hier arbeiten an einem langen Tisch Männer und Jungen an Nähmaschinen, emsig und schnell, und schauen kaum auf, als ich eintrete. Für einen Stundenlohn von 2,70 Mark arbeiten oft acht- bis zehnjährige Kinder in einem solchen Schuppen, manchmal bis Mitternacht. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht, Tarife auch nicht. Nach einer Arbeitserlaubnis fragt hier niemand. In diesem harten Konkurrenzkampf kann sich nur behaupten, wer anspruchslos und hart arbeitet und arbeiten läßt, das wissen sie alle. Dies ist die Vierte Welt, die Kolonie mitten im Mutterland, im Herzen der Metropole. Einigen gelingt es: sie erhalten feste Aufträge von großen Kaufhäusern, erwerben die Insignien des Wohlstands, ein Auto, ein Haus, und ziehen fort. Auch die Ablehnung, der Haß auf die Fremden wiederholt sich. In den siebziger Jahren kam es an jedem Wochenende zu Kämpfen und Straßenschlachten in Brick Lane, ausgetragen zwischen Skinheads und jugendlichen Anhängern der neofaschistischen „National Front“ einerseits, und den Bewohnern, unterstützt von ihren englischen Nachbarn, auf der anderen Seite. Es ist ruhiger geworden, die Bewohner aus Indien und Pakistan haben Wurzeln gefaßt, man hat sich eingerichtet und eine neue Heimat geschaffen mit eigenen Schulen, Versammlungshallen und Kapellen. Eine von diesen, die auf der Ecke von Brick Lane und Fournier Street steht, ist in ihrer wechselvollen Geschichte kennzeichnend für die Aufeinanderfolge der Einwohner dieses Viertels: Ihren ursprünglichen Namen „La Nouvelle Eglise“ erhielt sie von ihren Gründern, französischen Hugenotten. Danach wurde sie als baptistische Kapelle genutzt (Baptistengründer John Wesley predigte hier), später war sie eine orthodox-jüdische Synagoge, und heute dient sie als muslimisches Gebetshaus.

Auch bei den englischen Nachbarn ist Brick Lane inzwischen eine beliebte Adresse, will man ausgefallene und verspielte Kleidungsstücke kaufen, frisches Gemüse holen oder nur rasch auf einen Imbiß hereinschauen. Die vielen Kebabstuben und Tandoori- Restaurants locken mit ihren würzigen Gerüchen schon von weitem den hungrigen Passanten. Es sind nur kleine Stuben, aber man sitzt gemütlich im schummrigen Licht und kann durch das große Fenster das Straßenleben beobachten, während man die kleinen ausgefallenen Happen verspeist, deren Namen man schon vergessen hat, nachdem der Koch sie gerade ausgesprochen hat.

Geht man von Brick Lane die Whitechapel Road hinauf, so erhebt sich auf der rechten Seite wie eine finstere Bastion ein großes dunkles Backsteingebäude: Tower House, eine Männerherberge für die vielen damaligen Gelegenheits- und Wanderarbeiter. Im Jahre 1907 beherbergte Tower House für drei Wochen einen Gast, der später Weltgeschichte machen sollte: Josef Stalin. Heute ist es ein sogenanntes „dosshouse“, Absteige für Penner, Säufer und auch diejenigen, deren Sozialhilfe nicht ausreicht, ein eigenes Zimmer zu mieten. Sie finden hier ein Dach über dem Kopf, eine Schlafstelle und Gesellschaft. Draußen sitzen die Männer auf dem Bürgersteig und warten darauf, daß am Mittag die Kneipe aufmacht, direkt nebenan, fünfzig Schritte entfernt. Hier wird der Vorsatz, nächste Woche in ein eigenes Zimmer zu ziehen, täglich aufs neue verflüssigt. In dieser Kneipe treffe ich Patrick, einen gutgekleideten 35jährigen Mann. Auch er wohnt im Tower House, aber er macht mir heftig klar, daß er mit dem „Pack“, das da wohne, nichts zu tun hat. Er wird nur ein paar Tage bleiben, vorübergehend. Er ist gebildet, gepflegt, erledigt „Geschäfte“ in anderen Teilen der Stadt, einbringliche Geschäfte. Die Frauen umschwärmen ihn, sagt er, Frauen sind teuer, viele Frauen sind sehr teuer, ansonsten wäre er längst nicht mehr hier. Mit jedem Bier, das er trinkt, bröckelt die Fassade ein bißchen mehr. Er arbeitet manchmal, sagt er dann, wenn es ihm gelingt, rechtzeitig aufzustehen mit seinem Kater von der letzten Nacht, in der er das Verdiente vertrunken hat. Und er schimpft über dieses Land, dem er jahrelang als Berufssoldat in Rhodesien gedient hat und das ihn jetzt so undankbar behandelt. Doch er weiß auch, wer die Schuldigen sind: die „Pakkies“ und die Schwarzen, die sich hier breitmachen, die Arbeit wegnehmen und dort drüben in der für sie reservierten Siedlung eingezogen sind. Er kennt sie, die Schwarzen. Hat in Rhodesien gesehen, wie sie ihre Feinde bei lebendigem Leibe aufschlitzen und deren rohe Leber essen. „Tiere“, sagt er und: „Euer Hitler hat es richtig gemacht!“ Wie er denken viele. An vielen Hauswänden prangen rassistische Parolen. „Gibt es hier eigentlich auch viel National Front?“ frage ich die Wirtin arglos. „Nun“, lächelt sie, „wir sind National Front!“

Als ich das Lokal verlasse, sehe ich mitten auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig einen Mann regungslos liegen. Niemand stört sich daran, die Kinder springen über ihn hinweg. „Nur ein Besoffener.“ Von diesen Trinkern begegnen mir noch mehrere. Als einer von ihnen eine Flasche aus der Anzugtasche hervorholt und trinkt, rieche ich, daß es Spiritus ist. Bier ist zu teuer für sie, so greifen sie zu der billigeren Chemikalie. Der Spiritus ruiniert die Gesundheit und raubt den Verstand. Ich spreche den Mann an, doch er versteht meine Frage nicht, sieht mit blanken Augen durch mich hindurch, faßt immer wieder nach meinen Haaren, will etwas greifen, das nur ihm sichtbar ist.

Auf der Whitechapel Road, direkt gegenüber dem altehrwürdigen London Hospital, ist Straßenmarkt. Turbane auch hier, hochgezwirbelte stolze Schnurrbärte, exotische Früchte und die lauten Stimmen, die unentwegt Waren anpreisen, handeln und feilschen.

Ist man vom Asphalttreten durstig geworden, so kann man hier in ein Lokal einkehren, das den Namen eines legendären Serienmörders trägt: Jack the Ripper. An den Wänden hängen alte Illustrationen und Zeitungsausschnitte über jede seiner Bluttaten. Seine Opfer waren sämtlich Prostituierte, die er in den nebligen Herbstnächten überfiel, erstach und mit grauenvollem Geschick zerlegte, was den Verdacht aufkommen ließ, er sei ein gescheiterter Anatomiestudent des nahen London Hospital gewesen. Dieser Schrecken verbreitende Untäter, der nie gefaßt worden ist, führte zur literarischen Geburt des genialen Sherlock Holmes, der im Gegensatz zur damaligen Hilflosigkeit der Polizei jeden Fall lösen konnte.

Die Nähe der Hafenanlagen war der Grund dafür, daß im Zweiten Weltkrieg große Teile des East End von deutschen Bombern in Schutt und Asche gelegt wurden. „Der Zweite Weltkrieg brach die Mauern des Ghetto auf“, meint William Fishman, selbst als jüdischer Junge im East End geboren und aufgewachsen, heute Professor für Politische Studien an der University of London. „Im Krieg und beim Wiederaufbau fragte man nicht nach der Herkunft, sondern nach den Fähigkeiten.“ Vielen gelang damals der gesellschaftliche Aufstieg in Berufe und Kreise, die zuvor einem Kind von vornherein verschlossen gewesen waren, „sobald es den Mund aufmachte und seine Sprache den East Ender verriet. Die meisten kehrten dem East End verächtlich den Rücken und vergaßen die Wurzeln ihrer Herkunft“, bedauert Professor Fishman.

Jetzt rücken die Hochhäuser der City unaufhaltsam näher. Die Viertel sollen saniert werden, das heißt: „Entmietung“, also Vertreibung der jetzigen Bewohner, großzügige kostenintensive Modernisierung der Häuser und nachfolgende Vermietung an Vermögende. Yuppies, erfolgreiche Jungunternehmer, sollen hereingebracht werden. Schon ist es Mode, in umgebauten Lagerhäusern am Hafen seine Ateliers und Luxusapartments zu beziehen. Zwar haben sich die kleinen Händler und Bewohner zusammengeschlossen und eine Dachorganisation gebildet, die ihre gewachsene Lebensform schützen und erhalten soll. Sie leben in den typischen kleinen Reihenhäusern, im Erdgeschoß die Werkstatt, darüber die Wohnräume. Leben und Arbeiten bilden eine Einheit. Sie wollen nicht in neue, seelenlose Betonviertel. „Man redet viel Schlechtes über das East End, aber hier in Brick Lane gibt es keine Kriminalität, keine Überfälle, keine Vergewaltigungen. Hier kennt jeder jeden, und ein Nachbar hilft dem anderen.“ Zur Bekräftigung posieren sie untergehakt vor der Kamera, der jüdische Händler, der indische Schneider, der englische Arbeiter. Dennoch scheint ihr Kampf aussichtslos zu sein gegen die Übermacht der Banken und Konzerne, die die alten Siedlungen komplett abreißen wollen, um sie durch futuristische, gigantische Komplexe zu ersetzen, durch Bürotürme und Einkaufszentren. Das große Geld gibt die Richtung an.