Wirtschaftsausblick der Bundesregierung: Mär vom kranken Mann Europas
Ein Sozialabbau würde nur den Rechtsextremismus stärken. Um die Wirtschaft wirklich anzukurbeln, muss Geld in Energiewende und Infrastruktur fließen.
F rüher Klassenprimus, heute auf einem der hinteren Ränge: Keine Frage, die erfolgsverwöhnte deutsche Wirtschaft hat Probleme. Wenn überhaupt, dann wächst sie in diesem Jahr weitaus schwächer als die Volkswirtschaften in der Nachbarschaft. Die Erwartungen der Bundesregierung sind entsprechend verhalten. Dennoch bleibt die deutsche Volkswirtschaft eine der stärksten der Welt. Die Stimmung ist schlechter als die Lage, wenn jetzt das Jammern über die schwache Konjunktur angestimmt wird.
Aber: Ökonom:innen sagen, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu einem sehr großen Teil auch eine Frage der Psychologie ist. Wenn das stimmt, reden Vertreter:innen von Branchenverbänden, Union und selbst der Regierungspartei FDP mit ihrem Lamento über die angeblich so schlechte Lage die deutsche Wirtschaft in eine depressive Episode.
Gleichzeitig verweigern CDU/CSU und Freidemokrat:innen die Maßnahmen, die nötig wären, um die in der Tat nach langem Aufschwung ermüdete Wirtschaft auf Vordermann zu bringen: Nötig sind Anschubinvestitionen des Staates für den klimagerechten Umbau von Unternehmen und Gesellschaft, für die Energiewende und für die Modernisierung der Infrastruktur. An guten Ideen dafür mangelt es nicht. Aber am Finanzierungswillen.
Es ist durchsichtig, worum es den Zweckpessimist:innen geht. Das Wehgeschrei von der deutschen Wirtschaft als „kranker Mann Europas“ ist verknüpft mit sehr konkreten Vorstellungen von der vermeintlichen Behandlung, mit der eine Gesundung erreicht werden soll. Liberale, Christdemokrat:innen und ihr Anhang aus Verbändevertreter:innen wollen mit ihren Unkenrufen den Boden für einen großflächigen Sozialabbau bereiten. Neu ist das nicht.
Auch der Einführung der mit drastischen Einschnitten verbundenen Hartz-Gesetze durch die rot-grüne Regierung vor fast 20 Jahren ging das Schlechtreden des Wirtschaftsstandorts voraus. Getrommelt wird jetzt unter anderem für Kürzungen beim Bürgergeld, wie Hartz IV jetzt heißt – obwohl das maximal das Existenzminimum sichert, in vielen Fällen nicht einmal das. Den Betrieben würde das nichts bringen. Kein Unternehmen hat etwas davon, dass Arme noch ärmer oder gar ins Elend gestoßen werden.
Sozialabbau ist kein Mittel gegen Fachkräftemangel
Der Fachkräftemangel wird mit Sozialabbau, der angeblich Leute zur Arbeitsaufnahme bringt, mitnichten gemildert. Firmen suchen qualifizierte, erfahrene Beschäftigte. Für die allermeisten Empfänger:innen von Bürgergeld hält der Arbeitsmarkt aus vielen Gründen keinen Job bereit. Dieses Problem wird nicht durch Kürzungen gelöst.
Sozialabbau bringt nicht nur volkswirtschaftlich nichts, er ist auch politischer Sprengstoff. Jeder Angriff auf die soziale Sicherheit befördert Abstiegsängste in weiten Teilen der Bevölkerung – ein Konjunkturprogramm für Rechtsextreme.
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