Westliche Arroganz: Ein Fall von Westsplaining

Belehrend und historisch unsensibel: Was der Krieg in der Ukraine über deutsche Denkweisen verrät.

Eine Person steht vor den Trümmern eines Wohnhauses.

Luhansk in der Ukraine im April 2022 Foto: Serhii Nuzhnenko/reuters

Sehr angenehme Menschen. Sehr kooperative Behörden“ – so lautete Friedrich Merz’ Urteil über die Ukraine, das er Anfang Mai aus dem Nachtzug auf seiner Reise nach Kiew ­twitterte. Diese Betonung lässt auf das Bild schließen, das der Absender von der Ukraine vor Reiseantritt hatte: das gegenteilige oder wahrscheinlich gar keins. Vielleicht war es auch eine Spitze gegen den ukrainischen Botschafter Melnyk, der im deutschen Diskurs durch seine direkte Wortwahl und Forderungen wahlweise als „untragbar“ oder gar als „Nazi-Versteher“ betitelt wird.

Überhaupt scheinen wir Deutschen gerne Länder verstehen zu wollen. Wussten Sie, dass das Wort „Putin-Versteher“ mittlerweile ins Englische Eingang gefunden hat? Leider scheitern wir allzu oft daran, diesem Wunsch nach Erkenntnis eine gewisse Portion Selbstreflexion angedeihen zu lassen. Wir verlieren uns darin, auf aktuelle Bedrohungen mit einseitigen kulturhistorischen Erklärungen zu reagieren, die letztlich darauf abzielen, die eigene Passivität zu rechtfertigen.

Das funktionierte auch schon in den 1990ern während der Jugoslawienkriege erstaunlich gut: Der politische und intellektuelle Diskurs jener Zeit stellte die Region als brutalen und unzivilisierten Vorhof Europas dar und versuchte so – unbewusst oder nicht – dem Krieg eine kulturhistorische Deutung zu geben. Zwei Konzepte, die damals wie heute benutzt wurden, sind Othering und Westsplaining.

Beides sind nicht nur abstrakte Begriffe, sie wecken vor allem Emotionen bei denen, die damit zum Objekt werden: Othering meint das Beschreiben von Eigenschaften einer Gruppe als andersartig. Die Kategorisierung dient der Aufrechterhaltung der stärkeren Position jener Gruppe, die das Urteil fällt. Sozusagen die kulturtheoretische Erklärung für den moralischen Fingerzeig „Die waren schon immer so“. Wie schnell sich damals die Berichterstattung in Klischees über die „halbbarbarischen“ Völker verlor, zeigt Maria Todorova in ihrem Buch „Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil“.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird oft von der historischen Verflochtenheit mit Russland gesprochen. Das ist per se nicht falsch, nur wird hierbei oft unhinterfragt das Kalte-Kriegs-Narrativ der Bruderstaaten übernommen und den Nationen eine emotionale Verbundenheit angedichtet, aus der sich für die Staaten des Westens ableitet: Besser nicht eingreifen, die regeln das schon unter sich.

Nach einer friedlichen Kriegslösung zu rufen ist leicht, wenn man selbst in Frieden leben kann

Nach einer friedlichen Kriegslösung zu rufen ist leicht, wenn man selbst in Frieden leben kann. Hier kommt Begriff Nummer zwei, Westsplaining, ins Spiel. „Ihr habt keine Ahnung von Russland“, schrieb der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch zuletzt in der NZZ: Die Länder Mitteleuropas blicken auf eine leidvolle, von Gewalt geprägte Geschichte mit Russland zurück. Polen plädierte schon früh für die aktive Unterstützung der Ukraine – erfolglos. Stattdessen werden hierzulande prorussische Narrative vornehmlich von einer politischen und intellektuellen Generation geschaffen, die von Gorbatschows Politik der Annäherung geprägt wurde. Manche reden sogar vom Krieg „um“ die Ukraine, was die Verhandelbarkeit der ukrainischen Souveränität suggeriert und den „legitimen russischen Ansprüchen“ auf das Territorium gefährlichen Nährboden gibt.

Die deutsche Vergangenheit ist ein Grund, weshalb die deutsche Regierung auf militärische ­Forderungen zurückhaltend reagierte. Aber genau diese Vergangenheit sollte uns auch Anlass geben, unsere Haltung den östlichen Nachbar­staaten gegenüber zu überdenken. Neben der systematischen Zerstörung und Ermordung der jüdischen und polnischen Bevölkerung während des ­Zweiten Weltkriegs trug Deutschland dazu bei, ­Polen für 123 Jahre von der europäischen Landkarte verschwinden zu lassen. Wie muss es sich für Po­l*in­nen anfühlen, heute in Sicherheits­bedenken nicht ernst genommen zu werden? Oder für Ukrainer*innen, wenn deutsche Po­li­ti­ke­r*in­nen mahnen, doch bitte den richtigen Ton zu treffen?

Westsplaining meint also auch die historische Ignoranz, die mit einem Überlegenheitsgefühl einhergeht, moralisch wie politisch das einzig Richtige zu tun. Insbesondere das Verhältnis zu den Visegrád-Staaten Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn ist fragiler denn je. Auf politischer Ebene wird von einer „Gefahr aus der Mitte Europas“ gesprochen oder der mafiös anmutenden „Visegrád Connection“. Ungarns Nähe zu Russland wird selbst von seinem engsten Verbündeten, Polen, scharf kritisiert. Aber wenn im Streit über das Ölembargo die „Tagesschau“ Zugeständnisse von Orbán als „Zähmung des Widerspenstigen“ bezeichnet, ist das an Arroganz nicht zu überbieten und verrät viel über das westliche Bewusstsein über seine Vormachtstellung in Europa. Einen Regierungschef zähmen? Man muss kein Orbán-Fan sein, um festzustellen, wie diskriminierend diese Wortwahl ist.

Fragwürdige Narrative sind keineswegs auf die Politik beschränkt: Literatur und Serien reproduzieren verklärte Bilder eines Ostens, die westliche Sehnsüchte nach Ursprünglichkeit bedienen. Auch administrativ gibt es Schulungsbedarf: In einem deutschen Pass westpolnische Geburtsorte mit ihrem heutigen Namen eintragen zu lassen, ist ein Problem. Die Deutsche Bahn bringt einen im Jahr 2022 noch nach Neustadt (Westpreußen). Absurd, wenn man bedenkt, dass die Stadt seit 1945 Wejherowo heißt.

Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera beschrieb 1986 die Tragödie Mitteleuropas in seinem gleichnamigen Essay: Eingezwängt zwischen Deutschland und Russland „blieben sie (die Länder) der am wenigsten bekannte und zerbrechlichste Teil des Westens“. Berichterstattung und politische Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen würden gut daran tun, den benannten Ländern auf Augenhöhe zu begegnen und endlich mit dem Aufdrängen der eigenen Sichtweise aufzuhören.

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ist promovierte Slavistin und Osteuropa­historikerin mit Schwerpunkt Polen. Sie arbeitet am Herder-Institut in Marburg und publiziert zu deutsch-polnischen Rezeptionskontroversen in Literatur und Film, jüdischer Literatur und historischen Familien­planungs­diskursen.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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