Russische Familie abgeschoben: Kirchenasyl nicht mehr sicher
Erstmals seit Jahrzehnten ist in Niedersachsen ein Kirchenasyl gebrochen worden. Russische Kriegsdienstverweigerer wurden nach Spanien abgeschoben.
Die Vertreter der Gemeinde und des Kirchenkreises äußerten sich entsetzt. Auch der Flüchtlingsrat weist darauf hin, dass es das erste Mal seit 1998 sei, dass in Niedersachsen ein Kirchenasyl gebrochen wurde.
Nach der Darstellung des Kirchenkreises und der Gemeinde war die Familie – zu der ein erwachsener Sohn und eine 16-jährige Tochter gehören – auf der Durchreise bei Verwandten in Deutschland, als in Russland die Einberufungsbefehle für Vater und Sohn eingetroffen seien. Sie beantragten deshalb in Deutschland Asyl und hofften auf die Hilfe ihrer Verwandten und Freunde im Landkreis Uelzen. Die Mutter sei aufgrund der psychischen Belastung schwer erkrankt und habe sich in eine stationäre medizinische Behandlung begeben müssen.
Weil die Familie aber über ein spanisches Visum verfügte, sollte sie trotz der laufenden Behandlung nach Spanien abgeschoben werden. Um dem zu entgehen, begab sie sich ins Kirchenasyl. Die Gemeinde und die Kirchenkreissozialarbeit hätten den Fall sorgfältig geprüft, bevor sie einwilligten, heißt es in der Pressemitteilung. Neben dem Gesundheitszustand der Mutter habe auch die positive Prognose zur Integration der Familie den Ausschlag gegeben. Die Tochter besuchte das Lessing-Gymnasium in Uelzen, für Vater und Sohn gab es Jobangebote.
Die St-Michaelis-Gemeinde Bienenbüttel brachte die Familie im Gemeindehaus unter und meldete dies ordnungsgemäß dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Normalerweise wird das in Niedersachsen respektiert und darauf verzichtet, sich gewaltsam Zutritt zu Kirchenräumen zu verschaffen.
Politischer Druck für mehr Abschiebung
Der Flüchtlingsrat verweist darauf, dass dies sowohl unter Innenminister Boris Pistorius (SPD) als auch unter seinem Vorgänger Uwe Schünemann (CDU) gegolten habe – obwohl letzterer für harte Abschiebeentscheidungen berüchtigt war. „Es brauchte offenkundig eine rot-grüne Landesregierung, um dieses Tabu zu brechen“, kritisiert der Flüchtlingsrat.
Angesichts des politischen Drucks für mehr Abschiebungen hatte sich in den letzten Monaten auch an anderen Orten abgezeichnet, dass nun auch das Kirchenasyl verstärkt unter Druck geraten könnte. Nach Angaben der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche gab es bundesweit seit Juli mindestens sechs versuchte oder vollzogene Räumungen.
Dabei wird das Kirchenasyl bloß eingesetzt, um humanitäre Härten bei der Abschiebung in EU-Mitgliedsstaaten gemäß des Dublin-Abkommens zu verhindern. Meist geht es darum, so lange auszuharren, bis die sechsmonatige Überstellungsfrist ausgelaufen ist und doch Deutschland für das Asylverfahren zuständig wird. 2023 habe es bundesweit 2.065 beim Bamf registrierte Kirchenasylfälle gegeben, erklärt die kirchliche Bundesarbeitsgemeinschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS