Rassismus in der Kriminalitätsstatistik: Nie wieder Deutschland
Heimatminister Horst Seehofer macht sich Sorgen um die „Deutschfeindlichkeit“. Damit geht ein rechter Kampfbegriff in staatliches Handeln über.
I ch habe es Horst Seehofer zu verdanken, dass ich letzte Woche wieder an meinen inzwischen verstorbenen Großvater erinnert war. Wie jedes Jahr hatte der Bundesinnenminister die Statistik „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) vorgestellt. Diesmal jedoch mit ein paar Innovationen: neben rechts- und linksextremistischer sowie islamistischer Kriminalität wurde zum ersten Mal „Ausländerfeindlichkeit“ ausgewertet – und, gewissermaßen als Pendant dazu, „Deutschfeindlichkeit“.
Da musste ich an meinen deutschfeindlichen Opa denken und an sein gern wiederholtes Lebensmotto: „Du sollst alle Menschen lieben, außer die Deutschen.“ Seine „Deutschenfeindlichkeit“ ist in seiner Biografie gut begründet. Er verlor seine Familie im Holocaust. Nur sein Vater überlebte.
Die Begriffsbildung der PMK-Statistik ist seit jeher fragwürdig. Neben „PMK links“ und „PMK rechts“ zählt sie „ausländische Ideologie“ sowie „religiöse Ideologie“. Eine Sprache, die eher noch aus Zeiten des Kalten Krieges zu stammen scheint – denn welche Ideologie ist in Zeiten sozialer Massenmedien überhaupt noch genuin „ausländisch“?
Der Attentäter von Halle radikalisierte sich mit dem Manifest des Norwegers Anders Breivik und in US-amerikanischen Incel-Foren – ihn würde der Innenminister jedoch sicher nicht als Anhänger einer ausländischen Ideologie bezeichnen. Antisemitische Vorfälle in der PMK hingegen werden, solange sie nicht aufgeklärt werden, traditionell der „PMK rechts“ zugeschlagen, gleich wer sie begangen hat.
Ein ganz besonderer Fehlgriff
Mit der „Deutschfeindlichkeit“ ist dem Innen- und Heimatminister Seehofer jedoch ein ganz besonderer Fehlgriff gelungen. Ausgerechnet im Jahr 2019, das wie wenige sonst für den Aufstieg des Rechtsterrorismus steht, für die Anschläge von Kassel und Halle, verpflichtet sich Seehofer nicht dem Minderheitenschutz, sondern führt den rechten Kampfbegriff der Deutschfeindlichkeit in staatliches Handeln über.
Schon ein Blick in Wikipedia hätte genügt, um die Herkunft des Begriffs zu klären, die „Deutschfeindlichkeit“ als ein „in rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Kreisen genutzter Kampfbegriff“ führt. Ein prominentes Beispiel ist der Rechtsextremist Gustav Sichelschmidt und sein 1992 erschienenes Buch „Der ewige Deutschenhass – Hintermänner und Nutznießer des Antigermanismus“: Darin schreibt er, dass Deutschenfeindlichkeit schlimmer sei als Antisemitismus, sei sie doch letztlich die Ursache zweier Weltkriege gewesen.
Seehofers eigene Statistik zeigt, dass der Begriff nicht einmal kriminalistischen Wert hat: Sie führt die stolze Zahl von 132 „deutschfeindlichen“ Straftaten auf (gegenüber 10.000 „ausländerfeindlichen“ Straftaten). Aus einer Nachfrage beim BKA geht hervor, dass 10 dieser „deutschfeindlichen“ Straftaten noch dazu von Rechtsextremen verübt wurden.
Kein Wunder, dass es die sozialen Medien nur wenige Tage gekostet hat, den Begriff zu zerpflücken: Ist ein Angriff auf deutsche PoC „deutschfeindlich“? Wenn nicht: Sind dann nur Angriffe auf weiße Deutsche deutschenfeindlich? Und am wichtigsten: Wäre die Haltung meines Opas laut BMI ebenfalls deutschenfeindlich?
Der kleine Bruder von „white lives matter“
Viele freuen sich derzeit über den Abstieg der AfD in den Umfragen. Ich frage mich oft, ob das nicht zu optimistisch ist, ob dieser Abstieg nicht einfach darin begründet liegt, dass die AfD ihre historische Mission erfüllt hat, dass ihre Positionen längst im politischen Mainstream angekommen sind. Wenn ein CSU-Minister sich im Jahr der Ermordung seines Fraktionskollegen durch einen Nazi Sorgen um Deutschenfeindlichkeit macht, braucht man keine AfD mehr. Sie regiert dann schon mit.
Die schäbigste Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Demos der letzten Wochen war der Hashtag „all lives matter“ – der kleine Bruder von „white lives matter“. Ich sehe hier eine Parallele zur „Deutschenfeindlichkeit“: In beiden Fällen soll Rassismus relativiert werden. Ein Satz wie „Nie wieder Deutschland“ ist keine Straftat, gegen Nationalismus zu sein, kein Verbrechen. Schon gar nicht ist „Nie wieder Deutschland“ mit strukturellem, oft mörderischem Rassismus gleichzusetzen.
Es gehört eine besondere Chuzpe dazu, in derselben Woche, in der man entrüstet Rassismusvorwürfe gegen die Polizei zurückweist, neurechte Terminologie zur Grundlage staatlicher Statistiken zu machen. Es scheint, dass das unbedingte Bedürfnis, als Angehöriger der weißen Dominanzgesellschaft ebenfalls als Opfer zu gelten, sich nicht mit dem Aufstieg in hohe Ministerämter erledigt.
Das erinnert mich an noch einen Satz meines Opas: Nie wieder Opfer sein. Was würde er heute sagen, wenn er wüsste, dass inzwischen das Opfersein unter Rassismus leidender Weißer, von Sexismus betroffener Männer und durch Klassismus benachteiligter Milliardäre im Trend ist?
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