Offensive in Syrien: Ist ein freies Syrien möglich?
Syrische Rebellen erobern eine Stadt nach der anderen. Befreite Orte feiern und hoffen auf ein Ende des Assad-Regimes.
Inhaltsverzeichnis
- Was ist passiert?
- War der Syrienkrieg nicht eigentlich vorbei?
- Wieso kollabiert jetzt das Assad-System so schnell?
- Wer sind die HTS-Rebellen?
- Viele Kurden haben Angst vor dem Rebellenerfolg, weil sie dahinter die Türkei vermuten. Zu Recht?
- Was machen Russland und Iran, die beiden Hauptverbündeten Assads?
- Wie geht es jetzt weiter?
Was ist passiert?
Am 30. November fiel Syriens zweitgrößte Stadt Aleppo mit zwei Millionen Einwohnern völlig überraschend an Rebellen – nur drei Tage nach Beginn der Offensive der in der Bergregion Idlib dominanten Rebellenbewegung HTS (Hayat Tahrir al-Scham). Die Rebellen stießen daraufhin weit nach Süden vor und eroberten am 5. Dezember Syriens viertgrößte Stadt Hama – ein Symbol der Stärke Assads, seit ein Aufstand gegen die Diktatur dort 1982 blutig mit über 40.000 Toten niedergeschlagen wurde. Nun hat das Regime Hama aufgegeben, am Donnerstagabend gab es gigantische Freudenfeiern auf den Straßen. Das Ende des Assad-Regimes ist jetzt aus Sicht vieler Syrer unabwendbar. Am Freitag standen die Rebellen vor Homs, in Daraa im Süden brach ein Aufstand aus.
War der Syrienkrieg nicht eigentlich vorbei?
Das Regime von Diktator Baschar al-Assad in Damaskus schien bisher fest im Sattel zu sitzen. Es war 2011 unter Druck von Massenprotesten geraten, die angesichts brutaler Repression in einen Bürgerkrieg eskalierten. Mit Giftgas, Hungerblockaden und Massakern hatte Assads Armee, unterstützt von Iran, Russland sowie der Hisbollah aus Libanon, die Aufständischen brutal niedergekämpft, Hunderttausende Menschen wurden getötet.
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Ab 2017 war Syrien faktisch geteilt. Assad herrschte im zentralen Gürtel von Damaskus bis Aleppo und an die Mittelmeerküste. Die einzige von Anti-Assad-Rebellen noch gehaltene Provinzhauptstadt war Idlib. Alle verbliebenen Aufständischen anderswo wurden dorthin verfrachtet, auch 1,5 Millionen Zivilisten flohen dorthin. Die Türkei schützte das Gebiet, es wurde aber dennoch weiter bombardiert und verkleinert. Im Nordosten Syriens, jenseits des Euphrat, machte sich die dortige kurdische Mehrheitsbevölkerung unter Führung der YPG, syrischer Arm der PKK-Guerilla, selbstständig und rief ein autonomes „Rojava“ aus, geduldet vom Assad-Regime; die Kurden besiegten mit US-Hilfe in Syrien und Irak den „Islamischen Staat“ (IS). Die Türkei besetzte ihrerseits einen nordsyrischen Grenzstreifen und vertrieb aus diesem Gebiet Teile der kurdischen Bevölkerung.
Wieso kollabiert jetzt das Assad-System so schnell?
Das Assad-Regime in Damaskus war nach dem Krieg faktisch kein Staat mehr, sondern ein Mafiasystem. Funktionierende Institutionen gab es nicht, sondern nur das Militär, die Geheimdienste und den Assad-Familienclan, der Unternehmen und Behörden entweder direkt führte oder nach Gutdünken schröpfte. Wiederaufbau gab es nicht. Fast alle Güter des täglichen Bedarfs sind rationiert, ihr Bezug hängt von der Willkür des Regimes ab. Statt produktiver Wirtschaft blüht der Drogenhandel. So wahrte der Assad-Clan vordergründig die totale Kontrolle über ein Rumpfsyrien, in dem nichts mehr funktionierte. In den letzten Jahren hat es wieder neue Proteste gegeben, außerdem neue Anschläge eines erstarkenden „Islamischen Staats“ (IS).
Als die HTS-Rebellen zur Großoffensive schritten, stellte sich dem niemand entgegen. Manche Regierungssoldaten wussten offenbar frühzeitig Bescheid; sie waren in Richtung Süden und Mittelmeerküste abbeordert worden. „Die Einheiten der 4. Division von Assads Armee in Damaskus wurden auch fünf Tage nach Beginn des Falls von Aleppo nicht mobilisiert“, berichtet ein syrischer Analyst. „Daher deutet vieles auf eine Art stillschweigendes Abkommen hin.“ Viele Militärbasen und Waffenlager mit modernstem Kriegsgerät aus Russland hat die Armee kampflos und intakt den Rebellen überlassen.
Wer sind die HTS-Rebellen?
In vielen Berichten ist von Islamisten oder „Dschihadisten“ die Rede, aber das geht an der Realität vorbei. Schon früher diffamierte die Assad- und Putin-Propaganda Syriens Aufständische immer als Islamisten und Terroristen. In Idlib war die dort erfolgreiche Rebellengruppe tatsächlich islamistisch – die Al-Nusra-Front, die sich zum globalen Terrornetzwerk al-Qaida bekannte. Aber als Idlib als einziges Rebellengebiet übrig blieb, vollzog ihr Anführer Jolani eine radikale Kehrtwende und gründete HTS in Abgrenzung von al-Qaida als islamisch-konservative Bewegung, die sich dem Staatsaufbau verschrieb.
Unter der HTS entstand in Idlib eine Regierung namens SSG (Syria Salvation Government), die das Gebiet verwaltet und als Partner für internationale humanitäre Hilfe dient. Die HTS kontrolliert die Grenzübergänge in die Türkei, die einzigen Tore zur Außenwelt, und verdient daran viel Geld. HTS-Firmen dominieren auch die lukrativsten Dienstleistungsbranchen, nämlich Mobilfunk und Treibstoffe. Letzteres – teils angekauft von Ölraffinerien im syrischen Kurdengebiet, die dort weiter von der Regierung betrieben werden – verkaufen sie auch ins Assad-Gebiet.
Die HTS führte auch die Überreste der Anti-Assad-Rebellen zusammen und bildete eine neue professionelle Armee mit zuletzt 60.000 Kämpfern. Es gibt gut ausgebildete Offiziere, Spezialkräfte, eine eigene Drohneneinheit. Diese Armee ist jetzt der Assad-Armee deutlich überlegen.
Viele Kurden haben Angst vor dem Rebellenerfolg, weil sie dahinter die Türkei vermuten. Zu Recht?
Alles deutet darauf hin, dass die Türkei die HTS-Offensive nicht wollte. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzte zuletzt, wie auch viele Regierungen in Europa und die Arabische Liga, auf eine Normalisierung mit Assad – nicht zuletzt um Syrien-Flüchtlinge deportieren zu können. Die HTS ist in Reaktion auf die drohende Rehabilitierung Assads zum Angriff übergegangen. Gut informierte Quellen sagten, ihre Offensive war eigentlich für Mitte Oktober geplant. Die Türkei, die die seit 2020 geltende Waffenstillstandslinie zwischen HTS und Assad kontrolliert, legte Einspruch ein. Assad intensivierte dann seine Angriffe auf das Rebellengebiet deutlich. Das zwang die Rebellen geradezu zur Offensive.
Zwischen der kurdischen Autonomieverwaltung im Nordosten Syriens und den Rebellen im Nordwesten gibt es schon länger Gespräche über eine bessere Zusammenarbeit sowohl gegen die Türkei als auch gegen Assad. Daher blieb es bei der Eroberung von Aleppo zwischen der Kurdenguerilla und der HTS weitgehend friedlich. Die Türkei versucht das nun zu sabotieren. Während die HTS Assad-Gebiet erobert, ist nun die von der Türkei aufgestellte „Syrische Nationalarmee“ (SNA) nördlich und östlich von Aleppo zum Angriff gegen die Kurden übergegangen, es gibt Vertreibungen.
Was machen Russland und Iran, die beiden Hauptverbündeten Assads?
Beide sind momentan durch andere Kriege abgelenkt und haben keine Reserven für Syrien. Russland konzentriert sich auf den Schutz seiner Militärbasen an Syriens Mittelmeerküste, die zentral sind für Moskaus regionalen Machtanspruch. Iran braucht Assad mehr, als Kern seiner „Achse des Widerstandes“, die bis zur Hisbollah-Miliz in Libanon führt, und Offiziere der Revolutionsgarden haben südlich von Damaskus ganze Dörfer aufgekauft. Iran hat nun schiitische Milizen aus Irak für Assad mobilisiert, aber die wurden schon im Anmarsch von den USA bombardiert.
Wie geht es jetzt weiter?
Jetzt hängt alles vom Verhalten der HTS-Rebellen ab. Die Bewohner von Aleppo waren vom HTS-Vormarsch überrascht. Christen und Kurden in Syriens Wirtschaftsmetropole wussten tagelang nicht, ob sie fliehen sollen. Nachdem Anführer Jolani die Achtung von christlichen Syrern und Kurden gefordert hatte, blieben dann Übergriffe aus. Doch ein prominenter Gegner von Assad im Exil warnt: „Viele junge Kämpfer, auf allen Seiten, kennen seit ihrer Kindheit nur Not und Leid, teilweise in Flüchtlingslagern. Selbst ohne Provokationen der Gegenseite ist es schwierig, die Lage unter Kontrolle zu haben.“
Die HTS inszeniert sich jetzt als nationalistische Kraft mit einem Machtanspruch für ganz Syrien und betont ausdrücklich den Schutz aller ethnischer und religiöser Minderheiten. HTS-Führer Jolani besuchte am vergangenen Mittwoch Aleppo, versprach die Einsetzung einer zivilen Administration und wies seine Kämpfer an, sich ausschließlich auf militärische Aktivitäten an der Kriegsfront zu beschränken.
„Das Regime ist tot“, sagte Jolani am Freitag in einem CNN-Interview in Aleppo. Jetzt gehe es darum, in Syrien Institutionen aufzubauen, anstelle der Einmannherrschaft. HTS sei nur eine von vielen beteiligten Gruppen dabei.
Viele Menschen glauben bereits aufgrund der Geschwindigkeit der Neuverteilung der Macht in Syrien an die Entstehung eines föderalen Systems. „Im Regierungslager gibt es Stimmen, die seit Langem die Aufteilung des Landes in lokale Machtbereiche favorisieren, mit der aktuellen Regierung in Damaskus als internationaler Repräsentanz“, sagt ein syrischer Analyst. Inzwischen dürfte ein Rücktritt Assads die Voraussetzung für einen solchen Deal sein – seit Donnerstag kursieren bereits entsprechende Gerüchte in Damaskus. Dann könnte eine neue Führung Gespräche mit den anderen Machtzentren Syriens aufnehmen, um einen blutigen Endkampf zu vermeiden.
Wie der Analyst sagt: „Niemand will eine chaotische Situation wie in Libyen nach dem Tod von Muammar Gaddafi.“
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